Tränen in den Augen

von Nikolaus Merck

Berlin, 8. September 2013. "Lontano. Die Schaubühne von Peter Stein" heißt ein 90-Minuten-Film des Dokumentarfilmers Andreas Lewin, der schon die Schauspieler Klaus Kammer und Thomas Holtzmann sowie den Regisseur Fritz Kortner filmisch portraitiert hat. "Lontano" ist italienisch und heißt "fern", als musikalischer terminus technicus bezeichnet es die Musik, die von hinter der Bühne kommt.

Augenmusik von sehr weit her ist der Film, der Peter Stein auf seinem Gutshof in Umbrien zeigt, beim Betrachten alter Filmausschnitte der Aufführungen der Schaubühne am Halleschen Ufer (später am Lehniner Platz) in Berlin. Oder von Interviews, die mit ihm geführt wurden, damals, in den siebziger und achtziger Jahren. Anders gesagt: Ein älterer Herr schaut sich selbst als jungem Mann zu. Und anderen damals jungen Männern und Frauen, die heute ebenfalls ältere Herrschaften und mehrheitlich Burgtheater-Schauspieler oder Hitler-Darsteller sind. Kurz: Ältere Damen und Herren erinnern sich ihrer Jugend und haben Tränen in den Augen. Das ist meistens sehr anrührend.

Kindische Illusionen?

Außerdem schwelgt der Film, der gestern in der Berliner Akademie der Künste seine Premiere hatte, in schönen Bildern: Abendlicht auf umbrischen Granatäpfelbäumen, nächtens leuchtet der gläserne Turm auf Peter Steins Anwesen und Bruno Ganz, mit grauem Vollbart, sieht selbst im maroden Theaterbau am Halleschen Ufer (wo heute das HAU wohnt) noch hinreißend aus.

Kontext und Analyse finden nicht statt, wohin die "dritte Sache" – der Anspruch, durch Arbeit sich selbst und die Gesellschaft zu verändern –, die das Mitbestimmungs-Ensemble in Berlin einstmals zusammenhielt, im Laufe der Jahre entschwunden ist, bleibt unaufgeklärt. "Kindische Illusionen", sagt Peter Stein dazu gegen Ende des Films, und sinngemäß weiter: "... aber die brauchten wir als Antrieb für unsere Arbeit". Schade, dass sich der Film auf diesen Widerspruch nicht eingelassen hat.

 

Lontano. Die Schaubühne von Peter Stein (2013)
Produktion und Regie: Andreas Lewin, Kamera: Wojciech Szepel, Ton: Arved von zur Mühlen.
Mit: Peter Stein, Moidele Bickel, Volker Butzmann, Bruno Ganz, Corinna Kirchhoff, Michael König, Werner Rehm, Willem Menne, Susanne Raschig, Elke Petri, Libgart Schwarz und Peter Simonischek.

www.alewinfilm.de

Kommentare  
Lontano: getönte Brille
Die Einschätzung des Rezensenten, Kontext und Analyse fänden nicht statt, halte ich für absolut verfehlt. Man kann doch nicht aus dem konsequenten Verzicht auf einen Off-Kommentar schließen, dass kein Kontext hergestellt wird. Daraus spricht eine eindimensionale Auffassung vom Medium Film. Das Gegenteil ist meiner Meinung nach richtig. Ich fand, dieser Film versucht eine visuelle Sprache zu entwickeln, die Kontext und Analyse mit den genuinen Mitteln des Films erst möglich macht. Die Gefahr ist doch bei diesem Thema, nur eine Galerie von "Talking Heads" zu präsentieren und in einer öden TV Magazin Ästhetik stecken zu bleiben. Es geht doch nicht darum, dass der Bruno Ganz fabelhaft aussieht, sondern ihn dabei zu filmen, wie er mit der ihm als Schauspieler eigenen Sensibilität und "Durchlässigkeit" im Hier und Jetzt mit dem Raum konfrontiert wird, wo alles begann. Das ist wie ich fand ein spannendes und gelungenes Beispiel für eine zentrale Strategie des Films, das Grundproblem der Darstellung von Theater im Film zu lösen. Denn das Theatererlebnis ist ja per se umwiederholbar und als solches filmisch nur bedingt darstellbar. Die Filmausschnitte mit solchen Momenten der Gegenwärtigkeit zu kombinieren und daraus eine Erzählung von Räumen zu bauen, etwa ideologischen, historischen, ästhetischen oder emotionalen Räumen, das ist meiner Meinung nach die Leistung des Films. Und gerade mit der Art, welche Bilder und Momente Cutter und Regisseur im Schnitt aufeinanderprallen lässt, und wie der Ton Übergänge von Zeit und Raum schafft, liegt der Kommentar. Dazu muss man allerdings etwas genauer hingucken, als es der Rezensent getan hat. Stattdessen saß er offenbar mit einer durch das jahrelange Stein-Bashing in den deutschen Feuilletons getönten Brille in dem Film. Dass Stein diesem Bashing mit mancher kulturpessimistischen Altmeister Pose Vorschub geleistet hat, geschenkt. Aber sich dieser frühen Arbeit, diesem Aufbruch damals mit Neugier, unvoreingenommen und doch mit einer Haltung zu nähern, wirkt offenbar heute schon wie eine unakzeptable Provokation die sogleich durch undifferenzierte Rezensionen abgestraft werden muss.
Lontano: prägend auch für den Rezensent
Liebe/r S. Hoffstadt,
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Ich denke, alles was Sie aufführen ist diskutabel. Mich überzeugen Ihre "filmischen Mittel" gar nicht. Darum soll es aber jetzt nicht gehen.
Lassen Sie mich indes sagen, und glauben Sie mir es bitte, Peter Steins Schaubühne gehörte in ihrer späten Phase (mein Lebensalter) zu meinen prägenden Theatererlebnissen. Da ging es mir genauso wie vielen, vielen anderen. Es waren große Ereignisse, auch wenn ich manches nicht verstand oder mir anderes nicht einleuchtete. Es tut mir Leid, wenn Sie den Eindruck gewonnen haben, der Rezensent sei mit einer is-eh-klar-Stein-zählt-für-mich-nicht-Haltung zu diesem Film gegangen. Im Text steht davon allerdings kein Wort.
Mit freundlichem Gruß
nikolaus merck
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