Rüdigers Passion

von Ute Grundmann

Weimar, 8. September 2013. Rüdiger malt mit Kreide die Lebensdaten einer ziemlich unbekannten Geistesgröße an die Tafel, Pläne für eine Werkausgabe, für Vorträge. Um deren Werk dreht sich sein Leben, seine Arbeit als Dozent mit halber Stelle an der Leipziger Universität. Und so dominiert denn auch eine große Tafel wie im Hörsaal das Bühnenbild im Weimarer E-Werk, wo Enrico Stolzenburg Christoph Heins Roman "Weiskerns Nachlass" inszeniert hat. Mit dieser zweiten Schauspiel-Premiere in der gerade begonnenen Intendanz von Hasko Weber stellte er sich – neben Jan Neumann – als neuer Hausregisseur am Deutschen Nationaltheater Weimar vor.

In das Ambiente vergangener Industrienutzung hat Katrin Hieronimus ein schwarzes Podest gestellt, als Rückwand dient eine verschiebbare schwarze Tafel. Neben diesem Podest stehen auf kleinen Tischen die Dinge, die ein heutiger Universitätsmensch so braucht: Kopierer, Overhead-Projektor, Telefon, Kaffeemaschine, Laptop. In diese karge Szenerie marschieren die Darsteller zu Beginn aus dem Zuschauerraum, stellen sich in einer Reihe auf und erzählen, wie Rüdiger Stolzenburg in einem Billigflieger mal wieder zu einem schlechtbezahlten Vortrag nach Basel fliegt und vermeintlich sieht, wie erst ein, dann beide Propeller stillzustehen scheinen.

Grotesk, nicht grob

Mit dieser locker-lässig nacherzählten Schrecksekunde beginnt die Inszenierung des Romans von Christoph Hein, der eine groteske, aber nicht grobe Satire auf den heutigen Wissenschaftsbetrieb geschrieben hat. Denn dieser Rüdiger Stolzenburg (Ingolf Müller-Beck), der sich für wenig Geld um seine Studenten und den titelgebenden Nachlass Friedrich Wilhelm Weiskerns kümmert, ist kein frisch examinierter Anfänger, sondern feiert seinen 59. Geburtstag, an dem ihm sein Institutsdirektor Schlösser immer noch keinen Ausweg aus seinen prekären Verhältnissen bieten kann.weiskerns nachlass1 560 matthias horn uIngolf Müller-Beck auf Knien vorm Ensemble. © Matthias Horn

Das und alles Weitere wird auf der Bühne des E-Werkes aber eher nacherzählt als gespielt. Die Figuren reden mal über, mal mit Rüdiger, wenden sich mit verständnisheischenden Blicken ans Publikum. Das sind neben dem Institutschef die Dann-doch-nicht-Geliebte Marion, die aktuelle junge Geliebte Patrizia, der betuchte Student Sebastian und der klischeehafte Steuerberater Klemens, der nach Durchsicht der dünnen Unterlagen meint, das Wort Armutsgrenze mache die Sache ja nicht besser. Wer von diesen Figuren gerade nicht dran ist, setzt sich auf Stühle vor der ersten Reihe und schaut zu.

Tipp, tipp, Enter, bing!

So bleibt Regisseur Enrico Stolzenburg nah an Christoph Heins Roman, kommt aber kaum über ihn hinaus. Da spielt Klemens nach, was Rüdiger ihm über das vergebliche Gespräch mit einem Verleger erzählt hat, der Besseres zu tun hat, als die Gesamtausgabe eines Unbekannten herauszubringen. Marion erzählt Rüdigers Ost-Lebensweg, der vom Ausreiseantrag des Vaters kurz vor der erhofften Professur gestoppt wurde. Sieben junge Mädchen spielen nach, was Patrizia erzählt: Wie Rüdiger von dieser Mädchengruppe überfallen wurde, statt seiner wird aber dann das Einkaufsnetz derb verprügelt.

Die Inszenierung hangelt sich derart von Szene zu Szene, von Monologen Rüdigers zu Gesprächen – gewinnt aber darüber hinaus kaum etwas Theatralisches. Stattdessen spielt sie die passenden Geräusche ein, wenn eine E-Mail getippt wird, ebenso das Klingeln, wenn sie ankommt. Wenn Student Sebastian erzählt, dass Stolzenburg zum Telefon greift, tut dieser genau das. Und wenn dem Dozenten per E-Mail und Telefon falsche Briefe seines geliebten Weiskerns angeboten werden, wird die folgende Polizeiermittlung des Fälschers mit verzerrten Telefongesprächen wie im Fernseh-Krimi wiedergegeben.

Gegen das Schweinesystem

Nur selten gelingt der Inszenierung Eigenes, Eindrückliches – etwa wenn der wieder mal neu verliebte Rüdiger über den mit Kreide auf den Boden geschriebenen Namen der Angebeteten verzückt hin- und herrutscht –, nutzen wird es ihm nichts, denn so flink er die derzeitige Geliebte Patrizia abserviert, so zögert er zu lange bei der Neuen, Henriette. Und auch der Schluss-Ausbruch Rüdigers gegen Schweinesystem, Mittelmaß und Fahrradhelme überzeugt. Aber vielleicht sollte man Heins Roman, der am kommenden Wochenende auch in Senftenberg Bühnenpremiere hat, doch lieber lesen?

 

Weiskerns Nachlass
nach dem Roman von Christoph Hein
Bühnenfassung von Julie Paucker und Enrico Stolzenburg
Uraufführung
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne und Kostüme: Katrin Hieronimus, Dramaturgie: Julie Paucker. Mit: Ingolf Müller-Beck, Bernd Lange, Sebastian Nakajew, Nadja Robiné, Tobias Schormann, Anna Windmüller, Jugendliche vom DAS Jugendtheater e.V. im stellwerk und aus der Statisterie des DNT.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Und hier die Nachtkritikzur Eröffnung der Intendanz Hasko Webers am Nationaltheater Weimar mit "Faust I".


Kritikenrundschau

"Fabelhaft, wie das junge Team diesen komplexen Roman auf die Bühne hebt", jubelt Angelika Bohn in der Ostthüringer Zeitung (10.9.2013). Eine "fein austarierte Bühnenfassung des Romans", in der sich "Reflektion über die Figur Stolzenburg und Handlung" abwechseln, habe das Regieteam erstellt. Ingolf Müller-Beck verkörpere den Protagonisten Stolzenburg kongenial, "gescheit und giftig, jungenhaft und überheblich, beflügelt und misstrauisch, lächerlich und großartig".

Stolzenburg präsentiere in seiner Inszenierung "den Wissenschaftler als Komödianten", berichtet Bernhard Doppler in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (8.9.2013). "Fünf Schauspieler – meist sind alle auf der Bühne anwesend – übernehmen wirkungsvoll die vielen Rollen des Romans, sind Stichwortbringer für den zynischen, sich immer wieder bedauernden" Protagonisten. Die Inszenierung beuge dabei dem möglichen Missverständnis vor, Hein habe einen Roman "voller billiger kulturpessimistischer Klischees" verfasst. Vielmehr werde das "kulturpessimistische Gejammere" in der Dramatisierung deutlich als Meinung der Hauptfigur vorgeführt.

Irene Bazinger berichtet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.9.2013), dass Enrico Stolzenburg "eine schöne, klare, unsentimentale Inszenierung ganz ohne Klassiker-Referenzen glückt". In einer "runden, klug gekürzten Fassung" und mit "genau durchdachtem" Inszenierungsaufwand arbeite der Regisseur als "künstlerischer Anwalt" des "nicht vermarktbaren" Wissenschaftlers, d.h. der Romanfigur Stolzenburg. Diese sei "mit dem temperamentvoll beherzten Ingolf Müller-Beck etwas jünger als das Vorbild besetzt, gut in Form und überzeugend in der Verzweiflung eines Menschen, den die Verhältnisse ohne eigenes Zutun in eine ausweglose Situation getrieben haben."

Gleich mit seiner ersten Arbeit treffe Stolzenburg "den Nerv der Zeit und des Weimarer Publikums", schreibt Frank Quilitzsch auf TLZ.de (10.9.2013) über diese "geglückte" Daramtisierung Christoph Heins Faust-Variation. "Die Adaption ist flotter und teilweise auch witziger als die epische Vorlage, denn der Regisseur fokussiert auf fünf Nebenfiguren, die wechselweise über Stolzenburg berichten, ehe sie sich diesem in der szenischen Rückschau beigesellen. So entstehen nicht nur spannungsvolle Überschneidungen, sondern bildet sich schon eine Erwartung, bevor die Figur samt Aktentasche, Fahrradhelm, Mantel und Handy aus der Luke krabbelt."

Enrico Stolzenburg verfügt nach Ansicht von Henryk Goldberg von der Thüringer Allgemeinen (10.9.2013) "über ein ausgeprägtes Gefühl für Rhythmus und Tempo. Er treibt seine Truppe durch den Text, manchmal scheint es, als sprächen sie mitunter wirklich schnell, um den Text hinter sich zu bringen, wenn er gar zu dröge wird." Speziell Hauptdarsteller Ingolf Müller-Beck helfe dem Abend "kraftvoll über seine, natürlich, epischen Klippen hinweg, über die Banalität, die zwanghaft entsteht, wenn auf einer Bühne über Dozentenstellen, Drittmittel und Steuererklärungen gesprochen wird."

Ein "furioses Solo" von Hauptdarsteller Ingolf Müller-Beck, für den alle anderen Beteiligten zu Stichwortgebern werden, hat Helmut Schödel von der Süddeutschen Zeitung (12.9.2013) gesehen. Müller-Beck "macht aus Stolzenburgs Aufrichtigkeit, seinem Glauben an die Sache, lauter herrlich komische Soli eines in sich selbst verschlossenen Intellektuellen" und zeige: "Unser geistiger akademischer Mittelbau ist kein Heldenfriedhof, sondern eher schon eine Komödie mit farcenhaften Zügen."

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