Geister unter der Haut

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 14. September 2013. Schemen bewegen sich hinter einem grau gefleckten Vorhang. Eine Frau tanzt, jemand kehrt den Boden, ein anderer steht einfach nur da in seinem weiten Mantel. Dinge werfen ihre Schatten: ein Lorbeerkranz, eine Gitarre, ein Henkerseil, ein Gewehr. Das Meer rauscht, der tiefe Bass einer Schiffshupe ertönt.

"Ein Mann kommt nach Deutschland", liest eine unsichere Frauenstimme. "Und da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muss sich während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen, denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt." Dieses Zitat scheint sich Regisseur Jürgen Kruse zum Motto gemacht zu haben: Seine Inszenierung von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurts ist ein toller Traum – mal Alp, mal Komödie, mal Fieberfantasie.

Nichts schwerer als Leben

Schleppend wird der Vorhang beiseitegeschoben, er gibt den Blick frei auf einen Mann im Regen: Beckmann, der Kriegsheimkehrer. "Mein Gott, wo bin ich denn hier?", murmelt, raunt und stammelt er. Gerade hat er sich in die Elbe geworfen, doch der Fluss will diesen jungen Todessüchtigen nicht und spuckt ihn wieder aus. Während der Tropfnasse fassungslos dasteht, rügt ihn die Elbe – Heidi Ecks im grünen Kleid und langen, blonden Locken – in schönstem Hamburgisch und empfiehlt ihm, es nun mal mit dem Leben zu probieren. Leben! Nichts schwerer als das.

draussen vor2 560 quer poeppelharder birgithupfeld uIn der Seemannskneipe: Linda Pöppel als "Mädchen, dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam" und Manuel Harder als Beckmann im Hintergrund © Birgit Hupfeld

Beckmann ist gerade aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien zurückgekehrt, doch seine Eltern sind tot und seine Frau hat längst einen anderen. Heimgesucht von seinen Erinnerungen – heute würde man von Kriegstraumata sprechen – irrt er durch eine Gegenwart, die nicht mehr die seine ist. Er sucht einen ehemaligen Vorgesetzten auf, doch der Oberst hält seine Verzweiflung für eine Komödie – und schickt ihn zum Theater. Aber auch der Direktor hat keine Verwendung für den Künstleranfänger.

Vor dem zunehmenden Hintergrundrauschen entfernt verwandter Kriege wird Borcherts Stück von 1947 in den letzten Jahren häufiger aufgeführt. In Frankfurt spielt Manuel Harder den Beckmann im hellen Anzug und mit waidwundem Blick. Harder ist gerade vom Leipziger Centraltheater neu ins Frankfurter Ensemble gekommen, und sein Einstand ist überzeugend: Sein Beckmann ist ein hochfahrender Zweifler mit sanfter Stimme und ausgeprägtem Rhythmusgefühl.

E.T. nach Haus telefonieren

Denn was Kruse zu Gehör bringt in dieser vollgerümpelten Seemannskneipe, ist eine recht freie Fassung, die mit Versatzstücken aller Couleur jongliert und das Stück im Übergangsraum zwischen Gestern und Heute situiert. Hier wird der heimwehkranke Außerirdische E.T. ebenso als Gewährsmann für den stromernden Beckmann herbeizitiert wie Hamlet, der im eigenen Königreich Fremdgewordene.

Die Sprache ist stark rhythmisiert, immer wieder zu Halbsätzen verstummelt und gespickt mit (Freud'schen) Versprechern, die unter den Sätzen aufklappen wie Falltüren. Und wo die Worte nicht weiterhelfen, da springt Musik ein: Volkstümliches, Rock'n'Roll und politisches Liedgut gehen eigenwillige Allianzen ein.

draussen vor1 280 hoch harder birgithupfeld uManuel Harder als Beckmann © Birgit Hupfeld

Plastikumspannte Ausweglosigkeit

Eine dunkle Traumbox hat Bühnenbildner Volker Hintermeier in die Kammerspiele gesetzt: Die Bühne ist mit schwarzer Plastikfolie ausgeschlagen, die Wände tragen Gerüste aus Metallstangen. Dazwischen steht allerlei Plunder: Kneipenstühle, ein Kühlschrank mit Bierflaschen und einem Schädel darin, Mobiles aus Knochen, ein Sofa, im Hintergrund eine kleine Bühne, auf der Huren in Abendkleidern spazieren. Eine halbseiden dahingesponnene Welt, schmerzlich, enervierend und heiter.

Alle Schauspieler sind ständig auf der Bühne, hier gibt es keinen Ausweg, nur das Warten auf die nächste Gelegenheit. Wie Beckmann von seinen Gespenstern heimgesucht wird, jenen elf Kameraden, für deren Tod bei Stalingrad er sich verantwortlich fühlt, so sitzen auch den anderen ihre Geister unter der Haut: dem ungeheuer ungerührten Oberst etwa (Oliver Kraushaar), der alle Worte überbetont und ihren Sinn selbst nicht mehr zu verstehen scheint. Seiner Frau, die sich mit stierem Blick das Haar kämmt und die Brüste hält. Und seinem Schwiegersohn, der sich kräftig betrinkt und immer wieder ausruft: "Nicht schlapp machen! Gas geben!" Welch grausiger Scherz.

Mit grausamer Komik und komischer Grausamkeit wandeln Ensemble und Zuschauer gemeinsam durch diesen dunklen Traum zwischen Krieg und Frieden, Vergangenheit und Zukunft, rastlosem Lebensdurst und plastikumspannter Ausweglosigkeit. Denn gestorben wird immer. Und keiner macht das Licht aus.


Draußen vor der Tür
von Wolfgang Borchert
Co-Regie: Jürgen Kruse, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Sebastian Ellrich, Licht: Johannes Richter, Kampfchoreografie: Robert Macdougall, Dramaturgie: Hannah Schwegler.
Mit: Manuel Harder, Linda Pöppel, Oliver Kraushaar, Heidi Ecks, Alexandra Finder, Vincent Glander, Thomas Huber, Isaak Dentler, Caroline Galimow.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de


Mehr zu Wolfgang Bocherts Draußen vor der Tür: An der Berliner Schaubühne inszenierte Volker Lösch im Januar 2013 das Kriegsheimkehrerdrama, in Bochum 2012 David Bösch, in Mainz 2011 Matthias Fontheim und am Hamburger Thalia Theater 2011 mit Unterstützung der Theaterband My Darkest Star Hausregisseur Luc Perceval.

 
Kritikenrundschau

 

In diesem Krieg gehe es "ziemlich vergnüglich" zu, schreibt Kerstin Holm in der FAZ (16.9.2013). "Wobei der Text nur Stichworte liefert für eine von Musikfetzen untermalte Revue aus schauspielerischen Kabinettstückchen." Auf der mit Requisiten aus der Nautik und dem hanseatischen Rotlichtmilieu vollgestopften, mit Möwengeschrei beschallten Bühne zelebriere Manuel Harder als Hinkebein Beckmann seinen lebensmüden Klagemonolog im flapsigen Hamburger Dialekt, wobei er Borcherts suggestive Wortwiederholungen in improvisiertes Gestammel abwandele. Einzelne Momente des Abends findet Holm "poesievoll", Linda Pöppels "Mädchen" gar "zauberisch". Doch im Endeffekt habe Held Beckmann an diesem Abend "längst sein Hinken aufgegeben und sich so gründlich und symbolisch mit roter Flüssigkeit begossen, dass er am Ende eher ein Alkohol- statt ein Hungerproblem zu haben scheint."

Tolles Ensemblespiel und einfallsreiche Kostüme hat Marcus Hladek für die Frankfurter Neue Presse (16.9.2013) gesehen. Jürgen Kruses Borchert-Regie beweise, "dass auch Durchironisiertheit Qualitäten hat". Der hanseatisch coole Rhythmus und Zungenschlag, in dem Manuel Harder als Kriegsheimkehrer Beckmann berücke, aber auch Isaak Dentler als sein Spiegel-Ego sowie Linda Pöppel als dauerlächelndes „Mädchen“ die vollgerümpelte Gerüstbau-Chaosbühne (Volker Hintermeier) ausagieren, erweise sich als komikfähig und rette das alte Stück fürs Heute. "Für die Komik sorgte zumal das Kabarett-Intermezzo mit Thomas Huber als Kabarettdirektor, der seinem Prüfling Vincent Glander die expressionistischen Flausen austreibt, wenn der Heiner Müllers 'Hamletmaschine' skandiert."

"Das ist eine Inszenierung wie aus der Verzweiflung geboren", schreibt ith in der Frankfurter Rundschau (16.9.2013). "Fiebrig kann man sie wohl nennen, aber das Fieber steigert nicht die Aufmerksamkeit, sondern senkt sie dramatisch." Sie sei unkonzentriert, fahrig und frei assoziativ, "aber es finden sich eben noch Leute, die lachen, wenn einer 'Johannes, der bechert' sagt. Wirklich wahr." Offenkundig würde des Regisseurs "Ekel vor der allgemeinen Lage und vor der Anforderung (...) womöglich eine Art normalen Theaterabend zu zeigen, an einem Ort, an dem sich womöglich gar Abonnenten einfinden". Vielleicht interessiere sich Kruse am ehesten noch für das Theater als solches, wolle zeigen wie sonderbar und lockend es sein könne. "Während der durchsichtige Vorhang noch zu ist, sieht man die Figuren als verheißungsvolles Schattenspiel, zwei Blumenmädchen lächeln von den Seiten ins Publikum und halten ein schwarzes Tuch." "Eine bizarre Totenfeier", bevor sich alles in Gequatsche auflöse. Und dann: "Niemand muss befürchten, dass er hier groß grübeln muss, gar über den Krieg oder so."

"Ein seltsam Ding, dieser Abend, und doch punktgenau Borchert: der lange, laute Schrei einer gequälten Seele", schreibt Egbert Tholl in einer Kurzkritik in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2013). Die Bühne sei ein "detailreich vollgestopftes Pandämonium, eine grauschwarzdunkle Vorhölle, in der groteske Figuren übereinander herfallen". Zudem gebe es "eine Überfülle an Kalauern, einen Riesenhaufen Musik, teils obskur, teils vertraut (Doors, Pink Floyd), aber der Umgang mit dem Text ist extrem präzis."

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