Das perfekte Leben

von Leonie Krutzinna

Kassel, 20. September 2013. "Zukunft heißt Glück, heißt zwei Kinder, heißt ein Dach, um die Nacht festzuhalten." Im Staatstheater Kassel steht bürgerliches Familienidyll auf dem Spielplan. Man eröffnet die Saison mit der Uraufführung von Noah Haidles neuestem Stück "Lucky Happiness Golden Express". Doch wo ist das Glück, wenn das Familienoberhaupt nach einem Schlaganfall im Krankenhaus liegt, die Mutter dement ist und die Töchter zu Neurotikerinnen erzogen wurden?

Krankheitsfall Familie

In der ersten Szene ist die heile Welt bereits längst Vergangenheit. Vater Andrew versinkt nahezu in seinem Krankenhausbett und brabbelt sinnfrei vor sich hin. Die Tochter wittert schon die Prämie der Risikolebensversicherung, der Schwiegersohn will mit dem Kissen der Auszahlung etwas nachhelfen. Die aktive Sterbehilfe wird durch das Eintreffen der restlichen Familienmitglieder gerade noch vereitelt. Unterdessen läuft im Fernsehen eine spanische Soap, und man streitet, von wem der Sohn die schiefen Zähne geerbt hat.

luckyhappiness 560 n.klinger uVergangenheit statt Zukunft: Family-Showdown an Vater Andrews Bett im Hospiz © N. Klinger

Wie im echten Leben bringt erst der sich ankündigende Tod die Verwandtschaft wieder zusammen. Doch statt "Lucky Happiness" tritt hier vielmehr die Tristesse einer zerrütteten Familie zutage. Einer Familie, die von der Mutter verlassen wurde, weil sie "nicht genug Liebesfähigkeit" hatte, womit der US-Amerikaner Noah Haidle das Ibsensche Nora-Thema fortschreibt.

An dieser Frage nach Familienkonzepten und Lebenslügen arbeiten sich zeitgenössische Dramatiker immer wieder ab, verschweigen dabei jede Lösung, wie Jon Fosse mit seiner lakonischen Leerstellenästhetik, oder pöbeln, wie Lars Norén in seinen hyperrealistischen Grotesken. Der Mikrokosmos Familie eignet sich offensichtlich sehr gut, um die Tiefenstrukturen menschlicher Beziehungen freizulegen.

luckyhappiness3 280 n.klinger uThe way we were: Bernd Hölscher als junger
Andrew und Christina Weiser als junge Vivian
© N. Klinger

Händchen für Pointen

Wenn Haidle als noch immer recht junger Autor (Jahrgang 1978) das bewährte Thema in seinem Plot von "Lucky Happiness Golden Express" verarbeitet, wird das Ganze dadurch nicht automatisch innovativ. Hinreichend etabliert sind mittlerweile schnelle Rollenwechsel auf der Bühne, sich überlagernde Zeitebenen oder simultan gespielte Parallelhandlungen. Doch was man Haidle lassen muss, ist sein Händchen für Pointen, fürs Anekdotische und lustige Details in den Repliken eines sehr tragisch-traurigen Themas.

"Lucky Happiness Golden Express" ist ein ernstes, aber trotzdem gefälliges und kluges Stück, mit dem Intendant Thomas Bockelmann eine sehenswerte Eröffnungsinszenierung gelungen ist. Das bröckelnde Familienidyll persifliert er mit perfekter Illusionierung. Aufwändig ausstaffierte Bühnenbilder, Requisitenreichtum, licht- und tongestützte Überblendungen überspitzen und radikalisieren das Krankhafte, das diesem Lebenskonzept zugrunde liegt.

luckyhappiness1 560 n.klinger uAls es noch gut war: Im China-Imbiss mit dem sprechenden Namen "Lucky Happiness Golden Express"  © N. Klinger

Unerreichte Lebensentwürfe

Das Ensemble arbeitet mit rhythmischer Akribie auf jeden Moment hin. Jeder Rollenwechsel, jeder Zeitsprung ist genau getaktet, was besonders in der letzten Szene an Fahrt gewinnt, in der Andrew im titelgebenden Chinaimbiss "Lucky Happiness Golden Express" sitzt und sein Leben vor dem inneren Auge vorbeiziehen lässt: das Heranwachsen der Töchter, die gescheiterte Ehe, der versuchte Freitod.

So zeigen sich die Figuren zwanghaft besessen von der Idee eines perfekten Lebens. Sie scheitern an ihrer eigenen Geschichte und verzweifeln an ihren unerreichten Lebensentwürfen. Die Demenz der Mutter lässt sich nur als zweifelhafter Akt der Rebellion gegen jede Erinnerung deuten. Eine Lösung bietet Haidle ebenso wenig wie Fosse oder Norén, am Ende steht der Tod und die niederschmetternde Einsicht, dass die Zukunft nie gekommen ist.

Lucky Happiness Golden Express (UA)
von Noah Haidle
Deutsch von Brigitte Landes
Regie: Thomas Bockelmann, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Ulrike Obermüller, Sounddesign: Heiko Schnurpel, Licht: Oskar Bosman, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Karin Nennemann, Alina Rank, Christina Weiser, Bernd Hölscher, Jürgen Wink
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Alles über Noah Haidle auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Das Stück des 34-jährigen Amerikaners Noah Haidle mit seinen kunstvoll ineinander geschnittenen inneren Monologen sei klug, tiefgründig und immer wieder auch witzig, schreibt Bettina Fraschke in der Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (23.9.2013). Thomas Bockelmann inszeniere daraus "einen berührenden, bilderstarken Abend mit stilistischen Anleihen bei Film und den Bildern Edward Hoppers mit ihrem poetischen Seitenlicht und der fast greifbaren Einsamkeit." Einmal kommen der Kritikerin eigenem Bekunden zufolge im Parkett fast die Tränen.

"Das alles ist unendlich bitter, zugleich aber auch irgendwie heiter und nicht selten sogar sehr komisch", beschreibt Joachim F. Tornau das Stück in der Frankfurter Rundschau (24.9.2013). Haindle komponiere klug, lasse Realität und Erinnerung ineinander fließen. Thomas Bockelmann habe das Stück folgsam inszeniert. Allerdings erinnere die Bühne an Kinokulissen – und sei "dem Raffinement des Stückes damit wenig angemessen".

"Ein berührendes Kammerspiel, eine erzählfreudige Ballade", urteilt Juliane Sattler-Iffert in der Online-Ausgabe der Deutschen Bühne (20.9.2013). Thomas Bockelmann, der durch seine sensible Personenführung auffalle, inszeniere die Uraufführung "mit viel Gespür für eine filmische Umsetzung und die darin enthaltenen existenziellen Fragen. Er hält das 100-minütige Stück dabei fein in der Schwebe, gibt auch Raum zur Komik und ist so ganz nah an dem Autor und seinem wunderbaren Stück."

Es gehe viel um Einsamkeit in der Inszenierung von Bockelmann, findet Telse Wenzel in Göttinger Tageblatt (23.9.2013). "Das Stück isoliert einzelne Momente und macht daraus poetische Szenen. Eine chronologische Handlung gibt es nicht." Wenn Vivian und Andrew sich im Krankenhaus begegnen, nutze die Regie "einen schönen Kunstgriff und lässt alles zweimal spielen, das eine Mal hört man das Gesagte von ihm, das andere Mal von ihr".

Armin Henning schreibt in der Waldeckischen Zeitung (1.10.2013): Ein "lohnendes Stück Gegenwartsdramatik", das sich so leicht "wie eine Komödie konsumieren" ließe, trotz "etlicher" sonst "schwer verdaulicher Themen". Die Inszenierung halte die "ideale Balance" zwischen dem "Glück des Erinnerns" und "der Tragik des Alterns", aus dem Zusammenprall zwischen "den Anforderungen der aktuell im Leben stehenden" und den Bedürfnissen jener Menschen, bei denen die Vergangenheit "die Wahrnehmung der Gegenwart" beeinträchtige.

Haidle habe mehr im Sinn, als zielstrebig in Richtung eines Problemstücks zum Thema Demenz zu marschieren, schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (10.10.2013). "Im Kern geht es um die Atomisierung einer Familie und wie sie sich ihrer Vergangenheit zu vergewissern sucht." Thomas Bockelmann vertraue dem Autor, "inszeniert handwerklich sauber und nur das, was im Text steht". Dennoch wirke die Kasseler Uraufführung über weite Passagen ziemlich bemüht, so Berger. "Dass es auf der Bühne immer wieder verkrampft zugeht, hat mit der kompakt konstruierten Textvorlage und dem inszenatorischen Zugriff zu tun. Thomas Bockelmann inszeniert nicht nur texttreu, er legt auch großen Wert auf einen genau getakteten Abend mit klar abgesetzten Zeitebenen." Dagegen stehe die Frage, ob es tatsächlich sinnvoll ist, dem Text nibelungentreu zu folgen, wenn ein Autor ihm zu viele Zeitsprünge zumute.

 

Kommentare  
Lucky Happiness, Kassel: echt verdient
Zum Glück wurde das Stück sehr überzeugend von den Darstellern gespielt, sie schaffen es gemeinsam die Hölle und das Paradies der
Familie zu zeigen! Es geht unter die Haut, das Familiendrama auf der Bühne zu erleben, fremd ist es dem Publikum nicht.
Wer das Glück in der Familie sucht, findet die Einsamkeit, aber in dem Theaterstück findet sich die Geglückte Umsetzung !
Leidenschaftlicher Applaus hat sich das Ensemble echt verdient !
Lucky Happiness, Kassel: sehr interessante Mitteilung
Wenn ich noch einmal in einer Kritik lese, die Inszenierung mache Anleihen bei Bildern von Edward Hopper, flippe ich aus!
Lucky Happiness, Kassel: inflationär
Das Stück ist nicht klug und dessen "Welturaufführung" (prahlerischer O-Ton des (...) Regie führenden Intendanten Bockelmann) nicht sehenswert. Dass sogenannte wichtige Themen zur Sprache kommen – so inflationär wie in allen anderen Medien auch – macht ein Stück noch lange nicht wichtig. Hier geht dem Kalkül des "sehr wichtigen Hollywood-Autors" (wieder O-Ton) das deutsche Provinzstaatstheater auf den Leim. Ein eher altkluges als kluges Boulevardstück mit dem Verkaufstrick der filmischen Dramaturgie, die auf dem Theater nicht viel verloren hat. Da wird dann Breitwandrealismus mit Fernsehstudioflair geboten. Der Raum der Kassler Inszenierung hat mit Edward Hopper (siehe Programmfalterbelehrung) so viel gemein wie "In aller Freundschaft" mit Ingmar Bergmann. Stellenweise hilflos chargierende (...) Schauspieler geben einem den Rest. Lieber Theatergott, bitte lass uns hier nicht mit der lokalen Presse allein. Lass Kritiker, die diese Berufsbezeichnung verdienen, vom Himmel fallen, damit das Theater nicht weiter auf den Hund kommt. Das Theater ist so schlecht wie seine Kritik - und die ist in Kassel leider bodenlos.
Lucky Happiness, Kassel: nur langweilig
Ich kann die positiven Reaktionen der Kritiker leider nicht nachvollziehen. Für mich war der Abend einfach nur langweilig. Das gilt für das Stück als auch die Regie. Die Inszenierungen von Herrn Bockelmann, "Warten auf Godot", "Leonce und Lena" und jetzt "Lucky Happiness" waren leider alles andere als spannende Theaterabende. Aber mit Markus Dietz und Gustav Rueb hat das Kasseler Theater wenigstens zwei spannende Regisseure im Programm.
Lucky Happiness, Kassel: von der Komik in die Kälte
Leute, was regt ihr euch so auf, dass ihr gleich so derbe persönlich werdet? nö, Erregung ist nicht gleich Engagement, auch wenn jeder Einzelne ja als Zuschauer ach so engagiert ist. Und wenn auch die überregionale Kritiker das Stück nicht doof finden, muss man auch nich gleich beleidigt sein und das am regisseur auslassen. regisseure gegen regisseure ausspielen, is ja cheap. Immer diese Beschimpfung des Boulevards und der Lokalpresse, Gott, so einfach kann mondän sein. Das ist erstmal ein guter und fein gearbeiteter Abend, der das Stück sehr gut von der Komik in die Kälte führt, was die Schauspieler total tragen. Und die, die da applaudiert und gelacht haben, sind jetzt nicht deshalb im Unrecht, weil sie die Mehrheit sind. Vielleicht ist die Mehrheit von Kritik und Publikum diesmal ja intelligenter als die I-dont-know-why-but-somehow persönlich Angesickten.
Lucky Happiness, Kassel: Warhol, Hopper, Lynch
@warhol dass Warhol bei Hopper ausflippt, ist jetzt eher der ironische Nebenwirkungsgedanke Ihres Beitrags. Aber die Frage, ab wann Theater mit Recht zitiert oder nur Ikonen zitiert, ist durchaus fällig, im Postduchampismus. Gerne ruft man beckettsch oder kafaesk, und Hopper oder Lynch (oder Hopper-Lynch) werden gern angewählt, um einen Bildeindruck heraufzubeschwören. Dass das Verfahren erlaubt ist, das Spiel mit Ikonen, ist spätestens seit Cindy Sherman (deren Zitate werden ja auch gern zitiert oder?) etabliert. Die Gefahr ist immer der Zirkelschluß - wenn ich sage, dass ist jetzt wie bei, sagen wir, Jeff Koons, so behaupte ich schon eine Interpretation, die so gefestigt ist, dass ich auf deren Boden stehen kann. Formal scheinen mir die Fotos der Inszenierung den ersten Hopper-Eindruck zu bestätigen (wobei dies auch wieder tricky ist, eingedenk des angeblichen Fotorealismusses bei Hopper... und ein Theaterfoto wäre ein Standing Moment, den die Inszenierung vielleicht gar nicht hat?). Unter welchen Gesichtspunkten ist das Zitat, der Künstler als Konsument auch anderer Künstler, angemessen und sinnstiftend, und ab wann ist es nur leere Geste? Es gibt eine Hopper-Interpretation, die ihn als Maler der urbanen Einsamkeit liest; wenn jetzt seine Bilder (um mit Danto zu sprechen) das erzeugen, was sie darstellen, dann ist das Zitat seiner Bilder doch geeignet, dies in die Inszenierung einzubringen?
Lucky Happiness Golden ..., Kassel: wo Kritik unerwünscht ist
Den kritischen Kommentaren bin ich sehr dankbar! Denn allzu oft wundere ich mich über das unkritische Presse-Echo in Kassel (der Documenta-Stadt), das so belanglose wie geistlose Theaterabende wie „Lucky…“ hochjubelt. Dieses Stück addiert Unglückselemente, die Inszenierung illustriert sie bunt gefällig – was daran soll Hopper sein? - aufgepeppt mit Pointen auf Ohnesorgniveau. Von Wahrheit keine Spur! Aber vom Theater erwarte ich mir Wahrheit, ich erwarte, etwas zu denken und zu beißen zu kriegen, nicht Sentimentalität und dünne Suppe; die kriege ich schon vor der Glotze, dafür muss ich das Haus nicht verlassen. Ebenso erwarte ich mir von der Theaterkritik nicht gefühlsduselige Beschreibung des Offensichtlichen, sondern intelligente Analyse und einen Blick für Verborgenes, das auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist; und wo nichts verborgen und zu erkennen ist, da erwarte ich das deutliche Benennen der Hohlheit. Die Losung: „Wer kritisiert, hat Unrecht!“ scheint mir die Wurzel des Übels, nicht nur im Theater, mit dieser Haltung kann man in Deutschland sogar Wahlen gewinnen. Tust du mir nichts, tu ich dir nichts, piep piep piep, wir haben uns alle lieb. Das ist die beste Methode, sich auf seinen Posten zu halten. Wo Kritik unerwünscht ist, herrscht als harmloseste Folge geistige Stagnation.
Lucky Happiness, Kassel: ein ominöses Höheres
Wo Kunst Wahrheit behauptet, wird sie Propaganda. Nein, offenbar können sich alle, die sich für kritisch i.S.v. ablehnend halten, nur über Polemik Luft machen. Was hat denn der Dokumenta-Status von Kassel mit einer konkreten Kritik einer konkreten Inszenierung zu tun. Da wird doch wieder ein ominöses Höheres beschworen, um Äpfel mit Birnen in einem topf zu werfen und nach dem Kochen auch nachu vergleichen. Nicht zu vergessen der obligatorische Vergleich mit der Wahl. Solche Vergleich haben weniger Wahrheit als das was oh, als Spiegel eigener Familiengeschichte, an diesem Abend sah.
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