Stell dich gefälligst da hin, du König!

von Stefan Schmidt

Bochum, 3. Oktober 2013. Roger Vontobel ist ein Geschichtenerzähler. Als Hausregisseur hat der Schweizer am Bochumer Schauspielhaus unter anderem schon aus antiken Dramen die Familiensaga der Labdakiden zusammengezimmert. Zum Tag der deutschen Einheit schickt er nun Sippschaften hiesig nationaler Provenienz auf die Bühne. Und konsequenterweise sitzt das Publikum mittendrin in den Hallen von Macht, Leid, Rache, Treue, Hoffnung, Liebe und Verrat, in denen Friedrich Hebbels "Nibelungen" spielen: Der Zuschauerraum ist durch breite schwarze Lamellen verengt, die sich auf der Bühne fortsetzen. Durch die Mitte der Reihen führt außerdem ein schräger Steg nach oben, auf dem es sich vortrefflich flehen, zürnen, rennen, auf- und abgehen lässt und der ebenfalls seine spiegelbildliche Entsprechung auf der Bühne findet.

nibelungen 560 arnodeclair uSchwer verliebte Schwerterotiker: Siegfried (Felix Rech) und Kriemhild (Jana Schulz). © Arno Declair

Damit ist schon vorgezeichnet, was Vontobel vorhat: Der Regisseur möchte die sagenhaften Burgunden und Hunnen so nah wie möglich an uns heranholen – anders etwa als der frühere Bochumer Intendant Frank-Patrick Steckel, dem es ein programmatisches Anliegen war, auch noch jede Idee von Individuum, die in Hebbels Text aufscheint, im Grau-Schwarz seiner Inszenierung verlorengehen zu lassen. Vontobel leuchtet dagegen zeitlos egomane Figuren aus, die eher einmal zu viel als einmal zu wenig "ich" sagen und die sich nehmen, was ihnen gefällt, weil ja letztlich sowieso alles vergänglich ist und es deshalb vor allem gilt, im rechten Moment zuzugreifen, um überhaupt etwas zu haben vom Leben.

Wir Burgunden, wir Hunnen

Die mittelalterlichen Nibelungen (freilich in neuzeitlicher Bearbeitung) als Projektionsfläche für eine individualisierte Gesellschaft, der eine gemeinsame Perspektive abhanden gekommen ist – das funktioniert über weite Strecken des rund fünf Stunden langen Abends erstaunlich gut. Großartig etwa die Szene, in der sich die lässig männermordende Brunhild der überragend gelangweilt-souveränen Minna Wündrich mit der (zum fraglichen Zeitpunkt) ungestüm verliebten Kriemhild der wahrhaft wandelbaren Jana Schulz darum zofft, wer denn nun den coolsten Typen abgegriffen hat: ein Zickenkrieg, der in die Katastrophe münden wird.

Dabei ist für uns Zuschauer doch von Vornherein klar, was für ein Würstchen dieser König Gunther ist, der sich Brunhilds Ja-Wort von fremder Hand hat erschleichen lassen: Florian Lange spielt diesen Schlappschwanz mit einer so unaufdringlichen Präsenz, dass er es schafft, die Herrschertype in ihrer menschlichen Unzulänglichkeit zu enttarnen, ohne sie zu diskreditieren. Brunhild ist er natürlich nicht gewachsen, ihren Anforderungen an einen Partner erst recht nicht. Wenn er vom Podest verschwinden will, herrscht sie ihn an: "Stell dich da wieder hin! Du bist der König." Und sie hat das Sagen. Zumindest zeitweise.

Schwerterotik mit Jana Schulz

Die beiden sind aber nicht die einzigen, deren Erwartungen an eine Beziehung nicht mit der Realität übereinstimmen, mit dem, was das Gegenüber zu bieten hat: Kriemhild ist geradezu erotisiert von der vermeintlichen Unverwundbarkeit ihres Siegfried, fährt ihm lasziv mit dessen eigenem Schwert über den mythischen Körper, den Kostümbildnerin Tina Kloempken mit Farbe vergoldet hat. "Ein Mann wie Du kann keine Fehler begehen", ruft sie, aber da hat sie sich natürlich getäuscht. Überhöhung des Partners, Geheimnisse in einer Beziehung, Verlustängste, Egozentrismus: In der Textbearbeitung des Regisseurs und seiner Dramaturgin Marion Tiedtke werden aus Sagengestalten Menschen.

nibelungen1 560 arnodeclair uDer Clan am Lagerfeuer: Volker (Matthias Kelle), Giselher (Torsten Flassig), Hagen Tronje (Werner Wölbern), Gunther (Florian Lange), Gernot (Marco Massafra). © Arno Declair

Handwerklich ist das gut, oft sehr gut gemacht: der Szenenumbau inszenatorisch effektvoll und spannungsaufbauend (mit Rückblende), das Ensemble hochkonzentriert, selbst Nebenfiguren wie Kriemhilds Brüder Gerenot (Marco Massafra) und Giselher (Torsten Flassig) gestochen scharf konturiert, das Tempo situativ sensibel austariert, die Szenenübergänge flüssig, Hebbels Text mit so einer Selbstverständlichkeit gesprochen, als wäre er erst dieses Jahr entstanden. Nur: Das ist er dann eben doch nicht, und die literarische Vorlage ist bekanntlich noch ein paar Jahrhunderte älter.

Grenzen der Psychologisierung

So kommt die Psychologisierung an ihre Grenzen. Wohl auch deshalb sind der erste Teil der Inszenierung, der antichronologisch (und anders als im Nibelungendrama) nach Siegfrieds Ermordung beginnt, und die Schlusssequenz weniger dicht, weniger packend als der Rest des Abends. Erstaunlich, wie wenig es schockiert, dass Kriemhild ihr zweites Kind opfert, dass sie ihre hinter dem eisernen Vorhang verzweifelt klopfenden Brüder in den Tod schickt, um ihre Rache an Siegfrieds Mörder Hagen vollziehen zu können, aber hier geht es ja letztlich auch in erster Linie darum, den Mythos zu seinem Ende zu bringen. Mögliche Hoffnung für die Zukunft, die Übergabe der Krone in andere Hände, hat der Regisseur (wie andere vor ihm) gestrichen.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen (bild-)starken, kurzweiligen Theaterabend: Selten sind gut fünf Stunden so schnell vergangen. Wenn in den Nibelungen allerdings ein Schatz verborgen ist, dann hat ihn diese Inszenierung nicht heben können.

 

Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
in einer Fassung von Roger Vontobel und Marion Tiedtke
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Tina Kloempken, Licht: Bernd Felder, Video: Clemens Walter, Musik: Keith O'Brien, Dramaturgie: Marion Tiedtke.
Mit: Torsten Flassig, Matthias Kelle, Florian Lange, Marco Massafra, Felix Rech, Matthias Redlhammer, Roland Riebeling, Jana Schulz, Heiner Stadelmann, Lore Stefanek, Werner Wölbern, Minna Wündrich, Moritz Zimmer / Jakob Schmidt; Musiker: Keith O'Brien.
Dauer: 5 Stunde 10 Minuten, zwei Pausen

www.schauspielhausbochum.de

 

Andere Nibelungen aus der letzten Zeit? Jorinde Dröse inszenierte Hebbels Saga in Frankfurt am Main (September 2013), Dieter Wedel bearbeitete den Text für Worms (Juli 2013) und Frank Castorf inszenierte in Bayreuth alle Teile von Wagners "Ring des Nibelungen": Das RheingoldDie Walküre, Siegfried, Götterdämmerung (Juli 2013).

 

Kritikenrundschau

Christiane Enkeler erinnert in ihrer Kritik auf Deutschlandfunk (4.10.2013) an zwei andere Bochumer "Blockbuster" Vontobels, an die "Labdakiden" und die Kombination aus "Richard III." und "Heinrich IV.", und meint, dass der Regisseur, "anders als an seinen anderen großen Abenden", bei den "Nibelungen" erst "eine Vergangenheit" schaffe, "indem er Rückblicke konstruiert. Die Handlung später einsetzen lässt. Anders als an den anderen Abenden ist der Erkenntnismoment geringer. Weil er sich mehr nach der Form als nach den Figuren richtet. Es ist eben ein epischer Abend, trotzdem spannend und bildreich, mit einem wachen Ensemble."

Ronny von Wangenheims Gedächtnis reicht in den Ruhr Nachrichten (5.10.2013) noch weiter zurück: "Wo Frank-Patrick Steckel zu Beginn seiner Bochumer Intendanz 1986 den Nibelungen unter grauem Filz kaum eigene Persönlichkeit erlaubte und mit seiner düsteren Sicht den Ruf eines 'grauen Theaters' schuf, setzt Vontobel optisch und inhaltlich auf Schwarz und Weiß. Er gibt jeder seiner Figuren Charakter und Seele, macht sie zu Menschen auch unserer Zeit. Und hat dafür ein hervorragendes Ensemble versammelt." Es sei ein "grandioser Start" in die Spielzeit geworden – und: "keine Minute zu lang".

Arnold Hohmann hält auf dem Internet-Portal Der Westen (5.10.2013) den begeisterten Schlussapplaus für "wirklich verdient". Vontobels Inszenierung sei voll von "starken Bildern, die in den Figuren einer alten Heldensage plötzlich sehr lebendige Individuen erkennbar werden lassen." Trotz der Länge halte die Inszenierung "vor allem der starken Schauspieler wegen gefangen." Störend sei nur, "dass der auf der Bühne stets präsente Musiker Keith O'Brien seine Gitarrenakkorde immer dann aufdringlich anschwellen lässt, wenn wieder Unheil in der Luft liegt."

Vontobel erzähle das Epos so, "als wüssten alle schon Bescheid", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (5.10.2013). Er untergrabe "damit die dramatische Struktur des Abends." Zudem spitze Vontobel "den Abend auf die Kontrahenten Kriemhild und Hagen" zu, während die restlichen Figuren erblassten. Der Hagen Werner Wölberns immerhin "gewinnt Statur" und zeige "facettenreich die Dialektik des Täters, den Realpolitiker, der den Schaden begrenzen will und damit immer alles noch schlimmer macht." Doch Wölbern und Jana Schulz fänden "keine Kontrapunkte, die dem Stück Kontur gäben." Insgesamt berühre der Abend nicht.

Vontobels Inszenierung sei "hoch konzentriert, das Ensemble geht intelligent und rhetorisch eindrucksvoll mit Hebbels komplexen Versen um", sagt Ulrike Gondorf auf Deutschlandradio (4.10.2103); "im schwarzen Raum sieht man eine sehr klassische Klassikeraufführung – im besten, nicht im verstaubten Sinne des Wortes." Dennoch lasse einen "dieser Theaterabend eigenartig kalt. Das liegt zum einen daran, dass der Regisseur aus den Worten keine Bilder entstehen lässt. (…) Und über fünf Stunden ist diese Textlastigkeit dann doch ermüdend." Zum anderen sei "Vontobels Sicht auf den ungeheuren Stoff seltsam objektivierend, sozusagen unparteiisch." Man könne hier "alle verstehen – oder keinen. Und so bleiben sie einem auch alle fern. Daraus wird eine Aufführung, an der alles richtig ist – und doch etwas fehlt."

"Die Bochumer 'Nibelungen' sollen Blockbuster-Theater sein, das ist zu spüren," schreibt Stefan Keim in der Welt (7.10.2013). Dadurch entstehe manchmal Glätte, etwas widerstandslos schnurrt da eine äußerst unterhaltsame Geschichte ab. "Recken in Feinrippunterhemden, blutbeschmierte Körper, schicke Anzüge in Schwarz und Weiß". Doch der Verzicht auf originelle Regieeinfälle gibt der Aufführung aus Keims Sicht große Stärke: "Sie bietet tolles, psychologisches Schauspielertheater."

"Episches Theater, das die Spannung nicht auf den Ausgang, sondern auf den Fortgang der Handlung legt und mit mittelhochdeutschen Zitaten leitmotivische Interpunktionen setzt", hat Andreas Rossmann erlebt, wie er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.10.2013) schreibt. Es gebe nur "wenige vielschichtige, mehrdeutige Bilder", dafür vertraue Vontobel "auf die innere Dynamik der Tragödie und erzählt eine dichte, über weite Strecken spannende Geschichte um Treue und Verrat, Täuschung und Vergeltung, Blut und Tränen, die ohne große Anklänge oder gar Anschlüsse an die Gegenwart auskommt".

Vontobel antworte auf das Erbe dieses Stückes "mit wuchtiger Psychologie", so Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (9.10.2013) in ihrer Doppelbesprechung mit Jorinde Dröse Frankfurter Nibelungen-Inszenierung. Ausgangspunkt sei die Trauer Kriemhilds, "die Jana Schulz mit flirrendem Blick, beeindruckend wutstrotzend und gebrochen zugleich spielt". Die Reduktion aufs Psychologische ermögliche auch weitere spannende Figurenzeichnungen und schaffe Raum für ein eindringliches Spiel, trotzdem entstünden Längen. Und offen bleibt, "warum Vontobel, der jede Auseinandersetzung mit dem spezifisch Deutschen der Saga verweigert, so viel mit Symbolen arbeitet, die durchaus völkisch-national besetzt sind: flackernde Feuerschalen und penetrante Heldenposen etwa oder die Besetzung mit vorwiegend rotblonden Darstellern. Hier hätte die Verantwortung für die eigenen Bilder begonnen: Auch der Raubtier-Traum auf der Bühne ist menschengemacht."

 

 

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