Wenn ich König von Braunschweig wär'

von Alexander Kohlmann

Braunschweig, 3. Oktober 2013. "auf probe – Alltagsutopien für das Braunschweiger Land" ist das Motto einer Reihe, in der drei Gruppen aus Niedersachsen ihre theatralen Bearbeitungen von kleinen und großen Visionen für die Region zeigen. Die ist allerdings ein Paradoxon: Denn es gibt spätestens seit der Gründung Niedersachsens 1946 kein Braunschweiger Land mehr, weder politisch noch verwaltungstechnisch.

Und auch nicht mental. Dann obwohl einige Braunschweiger Kräfte nicht müde werden, die Grenzen jenes verschwundenen Gebildes nachzuzeichnen, das bis nach Goslar am Rande des Harzes reichte, obwohl die Zeitung beharrlich eine Seite mit Neuigkeiten aus dem Braunschweiger Land druckt und es in Braunschweig wieder eine Schlossfassade an einem Einkaufszentrum und einen ehemaligen Braunschweiger Landtag gibt, spielt das Braunschweiger Land schon wenige Kilometer außerhalb dieser schönen Stadt keine Rolle mehr. Die ehemaligen Untertanen sind untreu geworden.

Dialog mit dem Klo

Doch in der Utopie erstehen sie an diesem Abend in der Braunschweiger Off-Spielstätte LOT-Theater wieder auf, wenigstens einer von ihnen. Herbert Tieze ist ein einsamer Braunschweiger Staatsbürger. Nach dem Tod seiner Frau und der erzwungenen Rente im VW-Konzern sitzt er einsam auf seinem Klo, das auf einem Podest die spärlich möblierte Bühne dominiert. Während die Sch... am dampfen ist (Rauch steigt aus dem Klo, Gelächter im Publikum), kommen ihm so Ideen, genauer: seine Kloschüssel spricht mit verzerrter Stimme mit ihm. Er müsse etwas ändern und sich selbst zum König dieses Braunschweiger Landes ausrufen. Ein Barockkostüm und Mozartperücke trägt er ja schon, es ist also ein leichtes, auf die Kloschüssel zu hören. Herbert wird König und begibt sich auf eine Staatsreise.

koenig 560 andreas-hartmann uDer König von Braunschweig © Andreas Hartmann

"Der König bittet zum Tanz" ist der zweite Abend der Braunschweiger Alltagsutopien, erdacht von Gero Vierhuff, einem der profiliertesten Köpfe der niedersächsischen freien Szene. Künstlerisch und inhaltlich kommt sie leider gänzlich unutopisch daher. Zu Beginn singt das Barock-Ensemble aus fünf Schauspielern das Niedersachsenlied und instrumentiert das Ganze brav auf der Blockflöte, um dann nicht in das norddeutsche Bundesland mit dem Pferd als Wappentier einzutauchen, sondern in den Sumpf der Braunschweiger Befindlichkeiten.

"VW ist alles, was du brauchst"

Statt Befindlichkeiten und Lebenslügen zu entlarven, werden Vorurteile und Allgemeinplätze munter wiederholt. Im VW-Käfer geht es – zugegeben, mit Glücksrad-Projektion schön in Szene gesetzt – ins nahe Gifhorn, auf das der Braunschweiger herabschaut: Wie klein und doof ist es doch dort im Vergleich zu unserem Braunschweig. Anders verhält es sich mit Wolfsburg, vor dem übergroß ins Dunkel projizierten VW-Symbol haben auch die Braunschweiger Respekt: "VW ist alles, was du brauchst", dröhnt es aus den Boxen. Aus diesem Konzern kommt das Geld, mit dem auch Braunschweig gerne Weltstadt spielt.

Gegen dergleichen Lokalkolorit anzuspielen, fällt erkennbar schwer. Den Götzen Mammon im Keller des Königsschlosses wenigstens choreografisch ausrotten – mehr fällt dem König nicht ein. Außer vielleicht Waldbeeren an das Publikum zu verschenken. Die Dekadenz, sie ist hier näher als das Visonäre; die Utopie scheitert an den unüberwindbaren Lebenslügen der Gegenwart.

Vor dem LOT-Theater steht ein kleines Campingmobil, das eingepackt in Alufolie aussieht wie ein "ET will nach Hause fahren"-Gefährt. Ein Künstlerduo lädt für eine künftige "Konferenz der Utopisten" hier kleine Gruppen zum persönlichen Gespräch. Und wenn nach anfänglichem Schweigen die Hüllen fallen, der reisende Kritiker und die Leiterin der Pressearbeit über Heimat im ICE diskutieren und der Göttinger Doktorant über die "Stadt der Träume" räsoniert, sind sie doch noch zum Greifen nahe, die Utopien vom richtigen Leben. Dafür braucht es gewiss kein Braunschweiger Königreich.

 

Der König bittet zum Tanz
Eine Produktion im Rahmen von "auf probe - Alltagsutopien für das Braunschweiger Land"
Konzept und Inszenierung: vierhuff theaterproduktion / Die AZUBIS
Von und mit: Kai Fischer, Gero Vierhuff, Christopher Weiss, Nikolaus Woernle, Ausstattung: Marcel Weinand.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.lot-theater.de

 
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Kritikenrundschau

"Düsterer Höhepunkt" des unterhaltsamen Abends ist Matthias Geginat von der Braunschweiger Zeitung (5.10.2013) der Teil um Wolfsburg "als übertechnisierte, unmenschliche Auto-Maten-Stadt, wo es statt Ersatzteilen nur Neuwagen gibt. (...) Eine beeindruckende, nachdenklich stimmende Vision." Die Inszenierung komme "nicht ohne erhobenen Zeigefinger aus: im direkten Publikumsappell überflüssig, im unterhaltsamen Spiel und in der Verpackung mitreißender Geschichten durchaus erträglich". Die Darsteller überzeugten "mit äußerst klarer Sprache und sympathischem Auftreten. Vor allem die auf kreative Weise dargebrachten utopischen Bilder" machten den Abend "abwechslungsreich und unterhaltsam".

Kommentare  
Der König, Braunschweig: begeisternd
Alexander Kohlmann hat das Stück schlecht beschrieben und schafft es nicht zwischen den Zeilen zu lesen. Ein sehr ausdrucksstarkes und begeisterndes Stück, vielleicht zwischen durch ein wenig zu albern. Es geht nicht nur um Braunschweiger-Utopien, es geht auch um das Mensch-sein an sich.
Ich kann es nur weiter empfehlen schaut es euch an. Bildet euch selbst eine Meinung!!
Der König, Braunschweig: Kritikkritik
Herzlichen Glückwunsch!
Das ist tatsächlich die unqualifizierteste Kritik, die ich seit drei Jahren gelesen habe - und im "Braunschweiger Land" ist man da wahrlich nicht verwöhnt!
Über die Hälfte des Artikels sich zu beschäftigen mit einem Thema, von dem der Autor offensichtlich keine Ahnung hat, um das es in der Inszenierung aber auch so gar nicht geht ("Braunschweiger Land", "Königreich", "Gifhorn...klein und doof"), ist auch eine Leistung.
Von den in fast schon im Übermaß vorhandenen theatralen Mittel und kreativen Ideen genau zwei zu erwähnen, eine zwar widerwillig aber immerhin positiv ("zugegeben...schön in Szene gesetzt"), die andere im Kontext verfälscht (das rauchende Klo), ist noch eine Steigerung. Höhepunkt aber die unterste journalistische Schublade (wenn ich der einzige bin, der das nicht mag, muss das Publikum blöd sein) in der Formulierung "Rauch steigt aus dem Klo, Gelächter im Publikum", kontextfrei wiedergegeben: Das führt dann unweigerlich zur anfangs erwähnten Auszeichnung!
Beiwerk schon fast die kausalen Herleitungen (Barock, Flöte ergo keine utopischen Ansätze) und schwurbelige Allgemeinangriffe ("Aus diesem Konzern kommt das Geld, mit dem auch Braunschweig gerne Weltstadt spielt. Gegen dergleichen Lokalkolorit anzuspielen, fällt erkennbar schwer.")
Nein, lieber "reisender Kritiker", das war die Mühen der Reise nicht Wert.
Das "Künstlerduo" vor dem Theater übrigens eine Preview der Fräulein Wunder AG.
Nicht gewusst? Macht nix.
Nicht verstanden? Na ja.
Nicht gelesen, worum es geht? Tja, danke, setzen.
König bittet zum Tanz, Braunschweig: geringer Ertrag
...tolle Theater-Mittel sind kein Selbstzweck. Der gedankliche Ertrag hinter der Performance bleibt gering.
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