Western Society - Gob Squad haben auf Youtube ein Video gefunden und stellen es im HAU Berlin nach
Kuchen-Mitmach-Sause
von Eva Biringer
Berlin, 5. Oktober 2013. Widersprüche, wohin man schaut. Technologiehunger und Nostalgie, das große Fressen und Schlankheitswahn, digitale Kommunikationswut und reale Vereinzelung. Vielleicht, dachte sich das deutsch-britische Performancekollektiv Gob Squad, steckt die Essenz unserer Gesellschaft in einem dreiminütigen Youtube-Video. Ausgangspunkt von "Western Society" ist ein Zufallsfund im Internet, das Video einer Karaokeparty im kalifornischen Santa Barbara, dem "westlichsten Punkt der westlichen Gesellschaft". Weil dies das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist, in dem wir sampeln statt zu erschaffen, wollen Gob Squad ein Reenactment erstellen, das heißt, die Situation im Video reproduzieren.
Zu Beginn des Abends treten die vier Performer unbekleidet auf die Bühne, ins Chaos eines umgeworfenen Wohnzimmermobiliars. Als sie sich, wie es so schön heißt, ihrer Nacktheit bewusst werden, schlüpfen sie in trashige Bademode, gehen shoppen, versprühen Parfum. Allmählich sortiert sich das Tohuwabohu zum Mittelklassewohnzimmer, wobei hier eher gewohnt wird als gelebt.
Video Games
Wie gewöhnlich arbeiten Gob Squad mit dem Medium Video: Von nun an versperrt eine Leinwand die Sicht, wobei die Ereignisse dahinter als Video auf diese Leinwand projiziert werden. Der Bildausschnitt des Videos auf der Bühne ist identisch mit jenem aus dem Youtube-Video, die Silhouetten der Partygäste sind auf der Leinwand vorgezeichnet. Vorne rechts blättert eine Frau kuchenmampfend im Modeheftchen, hinter der Couch dreht eine Omi ihre Runden, während ein Mädchen das Klischee des asozialen Smartphonenutzers erfüllt. Abwechselnd nimmt die Gob Squad-Crew deren Positionen ein. Zwischendurch fragen sie einander, was sie eigentlich gerade machen, so wie Facebook sich ständig nach dem Befinden seiner User erkundigt.
Partizipation, Projektion und Übertragung
Um auch die übrigen Rollen der Kuchensause besetzen zu können, braucht es das Publikum. Sieben Zuschauer werden auf die Bühne geholt und bekommen einen Kopfhörer, über den sie Anweisungen erhalten, wie sie ihre Rolle, das heißt die Rolle der Partygäste, spielen sollen. Für das Publikum ergibt sich der schöne Effekt des Ineinandergreifens einer externen Logik, während es für die Beteiligten ein seltsames Gefühl sein muss, in Zeitlupe zu klatschen, weil eine Stimme im Ohr das befiehlt. Was im Originalvideo wie im Reenactment passiert, fasst sich so zusammen: Ein bisschen Karaoke, ein bisschen Paartanz und "a shit load of cake".
All das ist zweifellos lustig. Nun dauert das Homevideo aber nur knapp drei Minuten, der Theaterabend aber noch über eine Stunde. Metaebenen müssen her! Nach und nach geleiten die Performer die Partygäste aus der Szene heraus und zu einer Tafel am Bühnenrand, wo schon der Sekt kalt steht und noch mehr Kuchen lockt. Anschließend kehren die Performer hinter die Leinwand zurück und greifen in den Fortlauf der Party ein. Zum Beispiel so: Eine der Performerinnen setzt sich aufs Sofa und behauptet, die Frau zu ihrer Rechten sei ihre Mutter und der Mann links deren zukünftiger Ehemann. Oder eine andere Performerin macht einen der Zuschauer-Darsteller zu ihrem Vater und will, dass durch seine Worte ihr Vergangenheitskopfkino lebendig wird. Hinzu kommt das Spiel mit den Identitäten: Gob Squad übernehmen die Rollen einer Partygesellschaft, die für eine Kamera posiert, übertragen diese Rollen dann auf Zuschauer, nur um diese zum Personal ihrer eigenen echten oder imaginierten Biografie zu machen ("Daddy, erinnerst du dich an unseren Frankreichurlaub?").
Antworten für Künftige?
Gewiss geht es in "Western Society" um die "Geworfenheit" der westlichen Gesellschaft, also uns. Wir wollen die Zukunft vorhersagen und die Vergangenheit bewahren oder, noch besser, zu unseren Gunsten umformen. All das in einen nicht einmal zweistündigen Theaterabend zu packen, zeugt von einigem Überehrgeiz. Von der ursprünglichen Idee des Reenactments, das zum klugen Kommentar über die Gesetzmäßigkeiten des Internets hätte werden können, bleibt nicht mehr viel übrig.
Welche Diagnose stellt Gob Squad dieser Partygesellschaft im Jahr 2013? Unsere Wahlfreiheit ist eine leere Hülle, unser bevorzugtes Lebensgefühl das Mittelmaß, die fünf auf einer Skala von eins bis zehn. Wenn alle Gäste gegangen, die Pappteller im Müll gelandet sind und die Sofagarnitur an ihren Platz gerückt ist, lassen sich die Performer aus ihrem eigenen Stück verweisen. Die Internetgeister, die sie riefen, wollen ihre Ruhe haben: "The party is over". Auf der Leinwand steht, dass das heute entstandene Video bald online zu finden sein wird. Künftige Generationen finden darin vielleicht Antworten auf ihre Fragen.
Western Society
Konzept / Regie: Gob Squad
Von und mit: Johanna Freiburg, Sean Patten, Damian Rebgetz, Tatiana Saphir, Sharon Smith, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost und Simon Wil.
Sounddesign: Jeff McGrory, Video: Miles Chalcraft, Kostüme: Emma Cattell und Kerstin Honeit, Bühnenbild: Lena Mody, Lichtdesign: Chris Umney.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
Koproduktion mit Spielart Festival (München) und brut (Wien)
www.hebbel-am-ufer.de
"Die ersten fünf, zehn Minuten des Abends sind die besten", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (7.10.2013). Wie das virtuelle Bild des Wohnzimmers sich vor das reale schiebe, das illustriere, wie sich das meiste, das wir wahrnehmen, im Jenseits der Kommunikationsapparate stattfindet. Im folgenden jedoch mutierten die Suchbewegungen der vier Performer zu Machtspielen und bögen sich zurück in Selbstfindungen. "Das ist auf sie selbst bezogen gut gedacht, bezogen auf ihre helfenden Zuschauer mit Kopfhörer aber zu wenig." Den Dauerlachern im Publikum lieferten die vier viel Zucker, "Sinn für die komplexeren, unsichtbaren Fernsteuerungen in uns öffnen sie nicht."
"Zugegeben, das ist alles etwas verwirrend und in der Tat nicht immer ganz bis zum Ende ausgeführt", findet Kathrin Pauly in der Berliner Morgenpost (7.10.2013). "Aber es ist dennoch gleichermaßen absolut faszinierend, mit welcher Finesse Gob Squad die realen Bilder dieser Wohnzimmergesellschaft erst zerpflückt und dann wieder neu zusammenpuzzelt. Das hat eine Magie, der man sich schwer entziehen kann und ist vor allem ein Heidenspaß, was nicht zuletzt an den sieben Zuschauerperformern liegt, die sich erstaunlich geschmeidig in das Wohnzimmersetting einfügen."
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"Reenactment (engl. 'Wiederaufführung', 'Nachstellung') nennt man die Neuinszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise. Über den Weg der historischen Wiedererlebbarkeit soll Geschichte verständlich und erlebbar gemacht werden. Das historische re-enactment ist der zentrale Teil der durch den britischen Philosophen und Historiker Robin George Collingwood aufgestellten Theorie der Historiographie. Die Nachstellung von historischen oder sagenhaften Ereignissen geht allerdings bis in die Antike zurück."
Auch in Kinofilmen war Sean Patten schonmal besser als hier. Ich erinnere an den Film "Eine flexible Frau" von Tatjana Turanskyj, wo Sean Patten sinnigerweise über das neue BND-Gebäude in Mitte philosophierte.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/10/08/im-reich-der-tanzenden-oma/
Aber Sie sehen schon, dass die Vermittlung über die Sinne und die doppelte Vermittlung, bei der eine weitere Ebene dazwischengeschaltet ist, unterschiedliche Dinge sind und dass der Anteil einfach vermittelter Realität an unserer Wahrnehmung heute ein wenig geringer ist als früher ebenso wie es heute mehr und einander immer stärker überlagernde Vermittlungsebenen gibt? Darum geht es mir und ich glaube auch Gob Squad.
http://derstandard.at/1385169236236/Manipulierte-Youtube-Traeume-aus-Kalifornien