Stummfilm mit kleinen Fischen

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 5. Oktober 2013. Der Morgen graut im Zeitraffer. Blick zuerst aus dem Grünen auf die Skyline von Frankfurt mit ihren erleuchteten Geld-Turm-Tempeln. Die Idylle ist rasch dahin, Autos werden bestiegen, es wird aus und in Garagen gefahren. Nervige Stimmen aus den Autoradios: "Ein guter Tag beginnt mit den Börsennachrichten." Weniger gute Tage offenbar auch, ein solcher scheint sich anzubahnen. Wie beiläufig werden wir Zeugen von Satz-Fetzen, vom einen oder anderen Handy-Telefonat: "Es ist etwas passiert außerhalb des Systems!" In eben diesem System knirscht es gewaltig. "Die heutigen Spielregeln greifen nicht mehr."

Vorhöfe der Macht

Ein Experimentalfilmer (Daniel Kötter) und ein Live-Elektroniker (Hannes Seidl) stürzen uns beim Steirischen Herbst in Graz in die Bankwelt. Genauer: Sie führen uns in die Vorhöfe der Geldmacht – und lassen uns dann dort stehen, als ungebetene Zaungäste vor und hinter Lifttüren, in Gängen, Cafeterias. In Vorzimmern von Sekretärinnen. Small Talk von korrekt gekleideten Damen und Herren zwischen Tür und Angel. Austausch von Plattitüden und Artigkeiten.

kredit 1 560 koetter-seidl u© Kötter / Seidl Ein hypermoderner Stummfilm wird also projiziert, eine Collage aus Schnipseln des Frankfurter Alltags, wie man sie jederzeit mit der Handkamera einfangen kann. Das Design, das Tempo, die Unverbindlichkeit. Das wirkt wie Szenen von der Oberfläche eines Ameisenhaufens. Es wurlt nur so, aber ein Beobachter kann keine zielgerichtete Aktion erkennen, bloß dass alles fieberhaft in Bewegung ist.

Geräusche

Vor der Leinwand sitzen die Ton-, Geräusche- und Sätzemacher. Drei Live-Elektroniker malen aus, was einst ein Stummfilm-Musiker an der Wurlitzer produzierte. Ein kleines Hör-Schauspiel (oder doch Schau-Hörspiel?) mit einem beachtlichen Arsenal an Alltagsgegenständen, vom Rollkoffer bis zum Türschloss, von der Kaffeetasse bis zu Handschellen. Elektronisch aufgemotzt, verstärkt, verfremdet, laut und vordergründig hingeknallt oder sanft ironisiert. Zwei Sprecher sitzen da, spenden Wörter und Halbsätze, führen pointierte Mini-Dialoge und grandiose Luftblasen-Diskussionen, um nichts und für nichts. Sie sind einmal Radiostimmen, dann sich zufällig Begegnende. Eitle Klugscheißer im Fernsehstudio oder wortreiche Nichts-Sager beim Kaffeetalk. Was die Insider übers Geld so von sich geben! "Unsichere Erwartungen sind psychologisch stabiler", "Liquidität erspart Information", oder gar "Wer Geld hat, braucht anderen nicht zu vertrauen".

Choräle

Ach ja, (Gott-)Vertrauen: Da ist noch ein wackeres Vokalisten-Trüppchen auf dem Podium, der Chor der Deutschen Bundesbank. Den gibt es wirklich. Das Laienensemble singt ungefähr so wie Kurven der Börsenkurse aussehen, ein wenig schräg und intonationstrüb. "Credo in unum Deum" singen sie beherzt. Der alles überstrahlende "Deus" bekommt bald einen neudeutschen Namen, "Money". Ein echt guter, weil wirklich global wirksamer Gott. Da können sich die Religionen mit dem jeweils Ihren brausen gehen. Für einige "Choräle" hat Benjamin Franklins Text "Advice to a Young Tradesman" die Basis abgegeben. 1748, aber immer noch aktuell.

Ein künstlerisch verdichteter Tag im Leben der börsennotierenden Systemerhalter. Lauter kleine Fische wahrscheinlich im artenreichen Aquarium. Vielleicht, wahrscheinlich sogar ist es ein ausgeklügeltes Öko-System, das wir nicht durchschauen. Die Mechanismen wollten Daniel Kötter und Hannes Seidl ja recherchieren. Fragen wollten sie, wie das denn nun ist mit dem rätselhaften Wesen des Bankers. Aber sie seien, so schreiben sie im Programmheft, auf Misstrauen gestoßen, auf verschlossene Türen, auf Standard-Antworten. Wer genauer fragt, werde rasch abgespeist.

kredit 3 560 koetter seidl u© Kötter / Seidl 

Beobachtungen

Stummfilm mit Ton-Überhöhung, artifizielles Spiel mit Musique concrète und ihren optischen Pendants: Was diese multimediale Arbeit auszeichnet, ist der Verzicht auf Anklagen. Die Künstler gerieren sich nicht als Besserwisser. Sie sind Beobachter, sie decken auf, richten aber nicht.

Immer wieder gibt es Hinweise auf die Diskrepanzen zwischen Berechenbarkeit und Unvorhersehbarem. Ein wenig sei es, so sagt einer mal, wie mit den Erdbeben-Voraussagen in San Francisco. Dass die Erde durchgebeutelt wird, ist sonnenklar, fragt sich bloß, wann genau. Aber keine Sorge, das "System" arbeitet für uns, so nebulös es auch ist. Es wird vertreten durch Heerscharen von adretten Wesen im korrekten Business-Outfit, das sie als Vollmitglieder mit Schwarmintelligenz ausweist. Sie lassen die Sektgläser noch klingeln, wenn längst offenkundig ist, dass "da draußen" Leute auf der Straße sind, dass protestiert wird, dass die Polizei Absperrungen errichtet hat.

Ja, richtig, "es ist etwas passiert". Was genau? Wir erfahren es nicht, denn schon ist es abends, die Flugzeuge heben ab. Über den Wolken ist es noch hell, und Frankfurt liegt mitsamt seinem Geld-Smog weit unten, hinten: "Selbst das beste Bild wird imitiert, damit es dem falschen umso mehr ähnelt." Auch so ein Satz zum Zitieren. Und womöglich die einzige ganz echte, radikale Wahrheit.

 

Kredit. Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwarten
Konzept, Video, Musik und Regie: Daniel Kötter und Hannes Seidl, Ausstattung und Assistenz: Rahel Kesselring, Musik und Sound: Sebastian Berweck, Andrea Neumann & Peter Sandman.
Mit: Dunja Franke und André Schmidt (Sprecher), Chor der Deutschen Bundesbank.
Koproduktion steirischer herbst & Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt am Main)
Dauer: 1 Stunde, 15 Minuten, keine Pause

www.steirischerherbst.at
www.mousonturm.de

 

 

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