Das große Google-Hupfen

von Anne Peter

Berlin, 3. Januar 2008. Eigentlich wollen wir doch alle lieber in den Sechzigern leben, oder? In diesen irgendwie bewegten Zeiten, in denen es nicht nur tolle Musik, sondern Politiker wie Kennedy und Brandt gab und ein Schritt von Armstrong noch einen Fortschritt der Menschheit suggerieren konnte. Stattdessen können wir uns den Glanz nur aus den Augen von Mama und Papa abgucken.

"warst du dabei / oder nicht / kannst du von dir erzählen / oder aus sekundär von dings von kompilierten Surrogat von sekundären Kompilationen geborgter entliehener dings", lässt John Birke, Jahrgang 1981, in seinem Mini-Drama "Kill Willy" eine unbenannte Stimme sagen. Sie schildert damit gleichzeitig die Zwickmühlen-Situation der jungen, von der Schaubühne anlässlich ihres großangelegten 60-Jahre-Deutschland-Projektes zur Geschichtsbeschäftigung geladenen Autoren.

Gastarbeiter in Farbe

Die Uraufführungswerkstatt "Deutschlandsaga", Ende November mit einer Dreifach-Uraufführung zu den 50ern gestartet (wir berichteten), geht im Schaubühnen-Studio in die nächste Runde bzw. ins nächste Jahrzehnt, die 60er Jahre eben. So kann logischerweise keiner der drei nach 1980 geborenen Jungdramatiker von sich erzählen.

Birke schreibt diese notwendige Distanz ironisch in seinen Text hinein, für dessen Mittelpunkt er zwei hinlänglich interessante Figuren findet. Nebenfiguren der Geschichte, die sie nicht ganz zur rechten Zeit am rechten Ort sein ließ: Der eine schaltete das Fernsehen zu früh auf Farbe, als Willy Brandt den Knopf noch gar nicht symbolisch gedrückt hatte; der andere schrammt als einmillionenunderster in Deutschland angekommene Gastarbeiter knapp am Jubiläums-Moped vorbei.

Sehnsucht nach der Tat 

Schauspieler Niels Bormann packt die Wut über das Verpassen des historischen Augenblicks (zu "Carmen"-Klängen) in torrerohaftes Muskelposen, Felix Römer seinen Farbfernsehmann in einen schnaubend stieren Blick, den er schließlich in einem Aufstampf- und Schrei-Gewüte entlädt, so dass Bormanns Portugiese sogleich einen Attentatsplan auf Brandt zu schmieden beginnt.

Zu beiden Seiten sprechen Lore Stefanek und Ina Tempel reflexiv-kommentierende Passagen über die Sehnsucht nach dem Dabei-Gewesen-Sein ins Mikro. Alle tragen im Sprechen auf ihre Art der repetitiv und interpunktionslos reihenden, zugleich umgangssprachlichen und von Kunstwillen angehauchten Sprache Birkes Rechnung.

Und man ist schon froh über diese formal strengere Machart des von Jan-Christoph Gockel inszenierten Mini-Dramas, die von jenem Spiel-Realismus etwas abrückt, der den vorhergehenden beiden Stücken wenig Gutes tat. Den anspielungs- und bildreich gestalteten Text "Mondlandschaften" Jörg Albrechts etwa, vor dem Regisseur Robert Borgmann zu Beginn des zweistündigen Abends weitgehend ideenlos steht.

Die Bombe und die Dichterin

Im Gegensatz zu Birke nimmt Albrecht zwei schillernde, widerspruchsgeeignete 60er-Celebrities her, wobei er durchaus gekonnt die Oberflächen des Mainstream-Wissens absurft. Der V2-Erfinder und Raketen-Passionist Wernher von Braun, der die ideologischen Seiten opportunistisch gemäß seiner Raumfahrt-Leidenschaft von Nazi-Deutschland ins Nachkriegsamerika wechselt, trifft bei ihm auf die vom Kommunismus begeisterte Skandal-Dichterin Gisela Elsner.

Ein Kaltes-Kriegs-Paar, das für eine konfliktreiche Begegnung prädestiniert wäre: Was sie verbindet, ist einzig das lunare Motiv, das sie forschend oder schreibend umkreisen.

Borgmann lässt Felix Römer als schmierig-selbstbegeisterten von Braun und Ursula Doll als staksig-langbeinige und besessen schreibende Elsner jedoch zwischen ihren zwei Sofas in einer seltsam erotisch aufgeladenen Liaison agieren, in der er ihr ausgerechnet in dem Augenblick an die Wäsche geht, als sie auf die KZ-Häftlinge zu sprechen kommt, die seine Hitler-Raketen bauen mussten.

Ein Fahrstuhl ins Klischee

Daniela Janjics Arbeiteraustauschs-Skizze sozialistischen Milieus – Titel: "Der Umsturz der Milchkanne" – hätte Regisseur Gockel dagegen wohl am liebsten hinter den ganz verschlossenen Türen jenes Lastfahrstuhls im Studio-Foyer verschwinden lassen, in dem Bormann und Tempel – für viele Zuschauer schwer einsehbar – einen Großteil des Textes herunterspielen.

Mit dem leider in auffindbarsten Klischees stecken bleibenden Paargeschichtchen zwischen der Sozialismus-hoffenden Zora und dem nach Westen sich sehnenden Alex scheinen weder er noch seine hilflos ein wenig Einfühlung andeutenden Schauspieler etwas anfangen zu können.

Bleibt also wieder nur zu sagen: Die Gewichtigkeitsschreibung, mit der die Autoren beauftragt wurden, funktioniert nur bedingt und erscheint bisweilen vor allem als große Google-Hupferei, bei der mal mehr, mal weniger gewinnbringend herbeirecherchiert und -assoziiert wird. Trotz von Braun und Armstrong vermögen jedenfalls diese Sechziger nicht nach Sternen zu greifen.


Mondlandschaften
von Jörg Albrecht
Regie: Robert Borgmann, Raum: Magda Willi, Bühne und Video: Jochen Schmitt, Kostüme: Esther Krapiwnikow, Musik: Alexander Britting.
Mit: Niels Bormann, Ursula Doll, Felix Römer, Ina Tempel.

Der Umsturz der Milchkanne
von Daniela Janjic
Regie: Jan-Christoph Gockel, Raum: Magda Willi, Bühne und Video: Jochen Schmitt, Kostüme: Esther Krapiwnikow.
Mit: Niels Bormann, Ina Tempel.

Kill Willy
von John Birke
Regie: Jan-Christoph Gockel, Raum: Magda Willi, Bühne: Jochen Schmitt, Kostüme: Esther Krapiwnikow, Musik: Alexander Britting.
Mit: Niels Bormann, Felix Römer, Lore Stefanek, Ina Tempel.

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Esther Slevogt beklagt in der taz Berlin (7.1.2008), dass mit der "Deutschlandsaga" an der Schaubühne "mit großem PR-Getöse eine Maus geboren und Fördergeld in den Sand gesetzt" worden sei. Und sie weiß "aus gut unterrichteten Kreisen" zu berichten, dass die Dramatiker "pro Drämchen" magere 500 Euro gezahlt bekommen: "Wahrscheinlich war schon die Herstellung des überflüssigen 'Fanzines' teurer, das zu jedem Jahrzehnt produziert worden ist." Die "anämische Signalreizdramatik" der Saga führt sie schließlich zu der Vermutung, dass der deutsche "Dramatikernachwuchs die eigene Geschichte nur noch als Phänomen von Google und Wikipedia wahrnimmt", was doch beruhigenderweise auch "etwas zutiefst Antinationalistisches" an sich habe.

"Und wieder fragt man sich: Warum das alles?", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (5.1.2008). Den Nachwuchs zu fördern und Deutschlands Selbstverständnis zu befragen, was die "Deutschlandsaga" wolle, sei zwar löblich, aber "Nachwuchsförderung allein ist nicht abendfüllend, was eine Befragung des Geschichtsbewusstsein durchaus sein könnte, wenn man unter Geschichte mehr als ein Sammelbecken von Erinnerungsfundstücken (...) verstehen würde". Genau das sei aber hier der Fall. Immerhin komme diesmal Ostdeutschland vor (beim 50er-Projekt spielte es keine Rolle), und immerhin habe "Kill Willy" von John Birke so etwas wie "eine Haltung zum Stoff", weshalb auch die Regie von Jan-Christoph Gockel nicht "vom einen Klischee ins nächste Missverständnis" tappe. Sonst aber werde "hilflos auf der Erinnerungsoberfläche" herumgesurft.

Peter-Hans Göpfert hält in der Berliner Morgenpost (5.1.2008) dagegen sowohl Stück als auch Inszenierung von "Kill Willy" für "ziemlich belanglos". Er konnte dem ersten Mini-Drama des Abends mehr abgewinnen: "Immerhin einen gewissen Anspruch und eigene Form lässt "Mondlandschaften" des in Berlin lebenden Literatur- und Theaterwissenschaftlers Jörg Albrecht erkennen", obwohl auch dieses Stück – wie Daniela Janjics "Der Umsturz der Milchkanne" – eher dem Hörtheater zuneige. Aber Robert Borgmann habe Albrechts Text, "diesen seltsamen "Dialog", mit Ausnahme szenisch alberner Einsprengsel, dicht und kontrolliert" inszeniert.

Kommentare  
Deutschlandsaga: Frage an Schaubühne
Mir ist nicht ganz klar, warum die Schaubühnendramaturgen meinen, die deutsche Geschichte müßten ausgerechnet jene erzählen, die nichts von dem erlebt haben, worüber sie schreiben. Oder war das eine Rechercheübung? Was macht die an einem Hauptstadttheater? Es gibt doch genügend reife Autoren, die gerne so einen Auftrag übernehmen würden. Vielleicht auch solche wie der Kroetz. Wäre schön, wenn das mal jemand von den Schaubühnenleuten beantworten könnte.
Deutschlandsaga: es fehlt der Reflexionshorizont
Liebe Anna P., Ich finde, man muß die Geschichte nicht selbst erlebt haben, um darüber Stücke schreiben zu können. Schiller hat ja zb auch 200 Jahre nach dem historischen Don Karlos gelebt. Das Problem an der Deutschlandsaga in der Schaubühne ist eher, dass es dort gar kein Bewußtsein für Geschichte gibt. Kein Gefühl, was die Geschichte mit einem selbst zu tun haben könnte. Im Untertitel des Projekts wird ja auch von einer Annäherung an eine Identität gesprochen. Aber davon kann man überhaupt nichts spüren. Genauso gut hätten sich die jungen Leute an jedes andere Thema setzen können. Das Leben in der Südsee zum Beispiel. Und das ist eben das Peinliche an dieser ganzen Reihe: dass hier wirklich ein führendes Theater dieses Landes ein so wichtiges Thema völlig unzureichend angeht. Deutschland, klingt immer gut... Ich stand am Kudamm und redete mit dem Mendelsohn-Bau: Blablaba.... Oft hat die Schaubühne ein Supergespür für Themen. Es fehlt ihr dann aber meist der Reflexionshorizont, sie angemessen umzusetzen. Vielleicht auch ein bißchen Demut. Und die Einsicht, dass ein Thema nicht bloß ein kulturell vermarktbarer Gegenstand ist.
Deutschlandsaga/Kommentar von C. Birnbaum: sehr treffend
liebe charlotte birnbaum,

etwas derart treffendes hab ich lange nicht mehr gehört. stimmt stimmt stimmt. und leider nicht nur an der schaubühne.
Deutschlandsaga: Hohles Verwurstungsprojekt
Birnbaum hat völlig recht! Das Historische ist nur Aufhänger für ein cool klingendes, hohles Verwurstungsprojekt. Alleine schon die seltsame Einteilung von Geschichtsperioden in Jahrzehnte reflektiert nur ein Geschichtsbewußtsein à la Guido Knopp trifft RTL 80erJahre-Nostalgieshows. Und was draus gemacht wird ist einfach nur grausam und zwar alles (Stücke, Regie, Schauspieler).
Deutschlandsaga: Warum sind Theaterautoren so jung?
Liebe Charlotte Birnbaum, hat sich Schiller denn für die historischen Umstände des Carlos interessiert? Und die zweite Frage wäre, ob die gezeigten Szenen nicht ein Erleben dahinter vermissen lassen. Große Begabungen mögen eine Zeit spiegeln können , die sie nicht erlebt haben, aber hier sind sie offenbar nicht am Werk. Im Theater muß ein Autor erst mal jung sein. Warum ist das Durchschnittsalter der Theaterautoren weit unter dem der Posaautoren?
Deutschlandsaga: Wer erzählen kann, muss nichts erlebt haben
"Das Durchschnittsalter der Theaterautoren liegt weit unter dem der Prosaautoren."
Wie wollen Sie diese Aussage beweisen? Liegt das Durchschnittsalter GEDRUCKTER Prosaautoren tatsächlich unter dem Durchschnittsalter in ganz Deutschland gespielter Theaterautoren oder beschränken Sie Ihre Aussage auf Berlin? Und was soll diese Behauptung überhaupt - Autoren sind oft in mehreren Genre und Gattungen gleichzeitig schreibend.
Wenn Sie das "etwas erlebt haben" zum Kriterium und zur Legitimation fürs Schreiben erheben, dann stimme ich Ihnen nicht zu. "Autor sein" ist die Fähigkeit, etwas zu erzählen - ob für die Bühne oder anders. Die Frage ist nicht "ob die gezeigten Szenen nicht ein Erleben dahinter vermissen lassen." - sondern ob die Notwendigkeit des Erzählens fehlt, oder das Publikum, oder die Fähigkeit Geschichten zu erzählen oder darzustellen. "Im Theater muß ein Autor erst mal jung sein." - natürlich: knackig, frisch, saftig, neu, energiereich. Brennbar - für den Theaterbetrieb - oder für seine Sache, seine Geschichten.
Deutschlandsaga: wenig Reife in der neuen Dramatik
Woran liegt es nur, dass alle klagen: Es gibt nicht genug Welt im neuen deutschen Drama, liebe Eva Kunze? Woran liegt es, dass so viele Autoren (auch "erfolgreiche") ab einem bestimmten Alter keine Lust mehr haben, sich im Theater entsaften zu lassen? Woran liegt es, dass die von Notwendigkeiten getriebenen "Burner", die Sie an die Wand malen, weit und breit nicht zu sehen sind? Deren Alter wäre mir egal. Aber ich finde es bemerkenswert, dass so wenig Reife (und die ist zuweilen mit Erfahrung verbunden) in der neuen Dramatik zu finden ist.
Deutschlandsaga: man muss etwas ausdrücken wollen
Ja! Auf die NOTWENDIGKEIT kommt es an, beim Erzählen oder beim Kunst-Machen überhaupt! Der Schreibauftrag muss ja noch nicht das Problem sein. Aber Auftragskunst mit vorgegebenem Thema - da ist es dann wohl Zufall, ob der Autor für dieses Thema BRENNT oder nicht. Er muss doch etwas ausdrücken WOLLEN, und zwar UNBEDINGT. Sonst bleibt es tatsächlich bei der reinen Rechercheaufgabe. Interesse, Dringlichkeit, Geschichtsbewusstsein, Neugier, Faszination, Fragebedürfnis einem bestimmten Gegenstand gegenüber lässt sich eben nicht verordnen.
Deutschlandsaga: anschauen, nachdenken, aufschreiben
frau birnbaum,
bitte was für eine allgemeine soße - "die schaubühne denkt", "dort". schreiben sie doch mal ein paar details auf, nein moment: anschauen, nachdenken, dann aufschreiben. danke
Deutschlandsaga: Frau Birnbaum liefert Details
Apfelbäumchen, warum denn so pampig? Arbeiten Sie etwa an der Schaubühne und verkraften die Kritiken nicht? Nach was für Details gelüstet es Ihnen denn? Hier gäbe es ja durchaus allerlei Pikantes aufzulisten. Angefangen von der ziemlich flächendeckenden Abwesenheit einer ostdeutschen Perspektive, wozu angesichts der Tatsache, dass die deutsche Geschichte in den letzten sechzig Jahren von der Teilung geprägt worden ist, schon eine gehörige Portion Ignoranz gehört. Bis hin zu den merkwürdigen Karikaturen, die da einer Reihe von Schauspielern darzustellen zugemutet wird. Von der Reduzierung der Geschichte auf eine pittoreske Elvis-Edgar-Wallace-Kriegsheimkehrer-Raumschiff-Orion Klischeversammlung ganz zu schweigen.
Deutschlandsaga: Abbrechen, das Projekt ist falsch geplant
Ich glaube, es ist grundsätzlich uninteressant, Autoren ein Recherchestück über eine bestimmte Zeit schreiben zu lassen. Ich finde es gut, dass an der Schaubühne junge Autoren schreiben, aber die sollten sich auf die Suche nach der deutschen oder europäischen Identität oder Identitätslosigkeit machen völlig unabhängig von irgendwelchen Einteilungen in Dekaden. Ich habe bislang nur die 50er Jahre gesehen, das war sehr sehr schlecht: Die Stücke waren uninteressant, die Regie war bedeutungshubernd, man schämte sich beim Zuschauen für den Murx. Warum müssen die diese 50er 60er 70er Jahre Blöcke vorgeben? Es ist doch völlig uninteressant, was eine Frau Syhar zu den 50er Jahren zu sagen hat - sie hat dazu nichts zu sagen und sie bastelt ein bisschen mit Dramaturgieförmchen herum, das ist uninteressant, unkreativ, das ist für keinen der Beteiligten, noch für die Zuschauer von Belang - und die Regie nervte wahnsinnig - das kommt dann erschwerend hinzu, wenn da Regieschüler sich auch noch beweisen wollen und so aufdringlich die Texte kaputt inszenieren, die ohnehin schon schwach sind. Das Projekt ist falsch geplant, es liegt eine falsche Grundidee, ein falsches Konzept dem ganzen zugrunde - vielleicht sollte man es einfach abbrechen und die jungen Leute einfach schreiben lassen, sollen sie ruhig über Deutschland schreiben, aber irgendetwas, das sie selbst interessiert, sonst kann es uns auch nicht interessieren.
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