Reality-Grusel-TV

von Petra Hallmayer

München, 10. Oktober 2013. "Det wollt ick nich!", erklärt Frau John. Doch da ist längst nichts mehr zu retten und wiedergutzumachen, treibt die Tragödie schon unaufhaltsam ihrem finsteren Ende entgegen. Düsternis liegt von Beginn an über Yannis Houvardas' Inszenierung. Durch eine Bühnenbodenluke kriechen die verschatteten Figuren wie Gespenster herauf, die Putzfrau John, die sich sehnlichst ein Kind wünscht, und das über seine Schwangerschaft verzweifelte polnische Dienstmädchen Pauline Piperkarcka.

In Gerhart Hauptmanns Tragikomödie "Die Ratten" treffen zwei konträre Welten aufeinander. Im Dachgeschoss eines Berliner Kleine-Leute-Mietshauses hat der verkrachte Theaterdirektor Hassenreuter seinen Kostümfundus eingelagert. Derweil er mit dem jungen Idealisten und Möchte-Gern-Schauspieler Spitta über Realismus in der Kunst streitet, torkeln die sozialen Verlierer in ihr Verderben. Houvardas demonstriert den Voyeurismus der Bildungsbürger anschaulich: Immer wieder steigen Hassenreuter und seine Entourage ins Parkett des Residenztheaters hinab, um die Not des Prekariats wie ein Schauspiel zu betrachten.

ratten 02 560 andreas pohlmann uValery Tscheplanowa als zarte, somnambul verstörte Frau John. © Andreas Pohlmann

Hauptmanns spätnaturalistischer Klassiker verwebt trostfreie Sozialdramen zu einem gruseligen Großstadtkrimi: Jette John, die den Tod ihres Sohnes nie verkraftet hat, kauft der Piperkarcka deren Neugeborenes ab. Als die ihr Kind zurückfordert, verfängt sich Frau John in einem auswegslosen Gestrüpp aus Lügen und Betrug. Sie versucht, Pauline ein todkrankes Baby unterzuschieben, und hetzt ihren kleinkriminellen Bruder auf die Polin, der sie umbringt.

Stilisierung in Käfigen

Der griechische Regisseur, bis vor einem halben Jahr Künstlerischer Direktor des Athener Nationaltheaters, nähert sich dem Text mit unhipper Ernsthaftigkeit, verzichtet auf alle sprachlichen Modernisierungen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es dauert zwar eine Weile, bis man sich an das Kunst-Berlinerisch gewöhnt hat, doch dann stört es nicht einmal mehr, dass einem manches Wort entgeht. Daran liegt es nicht, dass einem die Hauptmann'schen Figuren bei Houvardas so traurig fern bleiben.

Die Unterschicht trägt Drillich, ist in uniformes Arbeitskittel-Graublaugrün gehüllt und haust in einem Lastenaufzug, einem kahlen Stangengerüst, das wechselweise hochgefahren und versenkt wird. Auf der antinaturalistischen Bühne zeichnet Houvardas spukhafte Bilder, die ein als kleiner Junge maskierter Klavierspieler mit Variationen von "Morgen kommt der Weihnachtsmann" untermalt. Keuchend und flüsternd jagen die wie aus einem expressionistischen Film entsprungenen Elendsgestalten in ihr Unglück und werden von einem Rocker-Hausmeister sukzessive in rollbare Käfige gesperrt. Berühren können uns die Lebenskatastrophen dieser in ihrer Stilisierung vollkommen der Gegenwart entrückten Figuren kaum.

ratten 04 560 andreas pohlmann uUlrike Willenbacher, Oliver Nägele und Valery Tscheplanowa. © Andreas Pohlmann

Katharina Schmidts Pauline ist eine schaurig pittoreske Jammergestalt, die mit schreckensweiten Augen umherirrt. Hanna Scheibe darf als Frau Knobbe mit flatternden Händen eine Solonummer als wirre Junkie-Ruine zeigen. Nicht gar so eindimensional bleibt Jette John, eine Frau, die danach hungert, geliebt zu werden und zu lieben, die nicht weiß, wohin mit ihrem Herzen, sich einen Säugling kauft, um etwas zu haben, woran sie es hängen kann, und um ihren Mann (Michele Cuciuffo) heimzuholen. Valery Tscheplanowna ist eine zarte, somnambul verstörte Jette, die ihr erschwindeltes Mutterglück mit erbarmungloser Brutalität verteidigt. Wenn sich die Eheleute in einer letzten bitteren Auseinandersetzung wie Fremde gegenüberstehen, glückt den beiden eine der emotional stärksten Szenen der Inszenierung.

Papa Hassenreuter bekommt einen Job

Doch zu weniges wirkt zwingend und zu vieles misslingt an diesem Abend. Was satirisch-lustig sein soll, rutscht in Albernheiten, wie etwa Hassenreuters erotische Eskapade mit Stierkampfpantomime. Oliver Nägele, der als Theaterdirektor routiniert polternde Komik zeigt, sorgt zwar für ein paar Pointen. Die sich rund um ihn entspinnenden Handlungsstränge und die Liebesgeschichte zwischen seiner Tochter und Spitta aber bleiben spannungs- und bedeutungslose Einschübe.

Erst sehr spät scheint bei Yannis Houvardas etwas von dem kritischen Potenzial auf, das heute noch in Hauptmanns Text steckt. Während das Leben der kleinen Leute schließlich in Trümmern liegt, retten sich die Vertreter der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht noch einmal in ein Happy-End: Die rebellischen Kinder kehren in den Schoß der Familie Hassenreuter zurück, Papa bekommt einen neuen Job. Gemeinsam stellen sie sich im Halbkreis auf und schauen gebannt dem grausamen Finale der Unterschichtstragödie zu, als sei es eine Szene aus dem Reality-Grusel-TV.

 

Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Yannis Houvardas, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Esther Bialas, Musik: Rudolf Gregor Knabl, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Oliver Nägele, Ulrike Willebacher, Marie Seiser, Thomas Grässle, Sophie Melbinger, Michele Cuciuffo, Valery Tscheplanowa, Tom Radisch, Katharina Schmidt, Sierk Radzei, Hanna Scheibe, Sara Tamburini; Musiker: Michael Gumpinger.
Dauer: zwei Stunden 20 Minuten, keine Pause.

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Die Putzfrau Jette John in einem exponierten Kunst-Berlinerisch, die Dienstmagd Pauline Piperkarcka in polnischem Melodrama-Akzent" – man komme schwer hinein in diesen Abend und nach zwei Stunden wenig berührt wieder heraus, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (12.10.2013). "Die ganze bittere Dachbodenkomik, die im Theaterstrang von Hauptmanns 'Tragikomödie' steckt, wird hier zerfasert, zerpoltert, vertan. Dafür geht Yannis Houvardas den Elendsstrang des Stückes umso ernster und elegischer an". In den Unterschichtsszenen gelingen Houvardas dichte und berührende Momente. Dennoch sei es eine unausgegorene, seltsam schwerfällige Inszenierung. Fazit: "Keine große Tragödienwucht ist bei diesen 'Ratten' zu konstatieren. Auch kein speziell 'griechischer' Krisen-Blick. Nur ein kurzer Einblick ins Jammerloch Welt."

"Nach einigen Längen findet Houvardas Inszenierung in der Abrechnung zwischen Jette John und ihrem Mann einen Höhepunkt", so Gabriella Lorenz in der Münchener Abendzeitung (12.10.2013). "Wie Michele Cuciuffo langsam versteht, was seine Frau getan hat, ist eindringlich." Regisseur Houvardas halte sich recht werktreu, doch klug stilisierend an Hauptmanns Text. "Die Schauspieler haben akribisch den Berliner Kunst-Dialekt studiert, in den man sich erst einhören muss. Der Gewöhnung bedarf auch der Akustik-Unterschied zwischen vier Mikroport-Trägern und den ohne Verstärkung klar verständlichen, großflächig theaternden Schauspielern."

Proletarier in Käfighaltung gebe es zu sehen, "dass wir Zuschauer vor diesen Käfigen als Besucher eines Menschenzoos erscheinen, ist allerdings der einzige dezidiertere Interpretationsansatz in einer ansonsten eher werktreuen Inszenierung", findet Alexander Altmann im Münchener Merkur (12.10.2013). "Den Versuch, in dieser edelbitteren Groteske über die Klassengesellschaft Bezüge zur Gegenwart aufzuzeigen, macht Yannis Houvardas’ historisierende Inszenierung kaum – Käfighaltung hin oder her."

 

Kommentare  
Ratten, München: gut + schwach
gute schauspieler / schwache, uninspirierte, konturenlose regie
Ratten, München: weltfremd
Haben selten eine solch distanzierte Vorführung von Maschinenwesen erlebt. Ich war masslos enttäuscht und überrascht zugleich, wie weltfremd manch ein regisseur die Welt aufzeiogen kann.
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