Perlen des Verlusts

von Christian Rakow

Berlin, 15. Oktober 2013. Don Juan "wird den Damen nicht entrinnen", heißt es in Ödön von Horváths Vorwort zu seinem Stück "Don Juan kommt aus dem Krieg" (im Berliner Ensemble einleitend von der durchdringend klaren Stimme Irm Hermanns per Tonkonserve eingesprochen). Insofern hat er es annehmlicher als seine adligen Vorläufer bei Molière oder Mozart. Seine große Pirsch fällt aus. Horváths Neuausgabe des Ahnherrn aller Schwerenöter lässt sich sanft auf den Wogen des Friedens anno 1918 bis in die Inflationszeit der 1920er hinein treiben. Und hier und da gerät er einer Dame an die Angel.

donjuan1 280h martinwalz uSamuel Finzi als Don Juan © Martin Walz

Zersprengte Ganzheit

Was zugleich besagt: Diesem Don Juan geht alles Heroische ab. "Was ist das, was mich zu dir zieht?", fragt eine verliebte Vermieterin den Kriegsheimkehrer. "Es ist nichts." In den Jahren des Männermangels triumphiert der Umworbene quasi automatisch, als Mann ohne Eigenschaften. Das ist die realistische, konkret zeitbezogene Lesart des Stoffes, den Horváth in den 1930er Jahren in seinem Drama verarbeitet hat (das dann erst 1952 am Wiener Kellertheater zur Uraufführung kam und heute zu den seltener gespielten Stücken des Autoren gehört). Das "Nichts" lässt sich aber natürlich auch in Versalien lesen. Horváths Don Juan ist ein nihilistischer Typus, ein Todesengel, den eine große metaphysische Leere umweht: das NICHTS zieht an.

Drittens aber, und das macht schon die Lektüre des Dramas nicht leicht, ist dieser Don Juan ein zutiefst sentimentalischer Charakter. Marode kehrt er aus den Schützengräben wieder, laboriert an der Grippe, mietet sich später halb gesundet bei einer Witwe ein, taumelt durch Tanzlokale und von Schoß zu Schoß (wobei Horváth alle Erotik ausblendet) und sucht doch bei jeder Frauenbekanntschaft nur die Ähnlichkeit mit einer einstigen Geliebten, an der er sich "versündigt" hat und die ihm nunmehr zum verlorenen Idealbild wird. "Er sucht sich seine große Liebe stückerlweise zusammen", erkennt eine der Damen. So wie der Krieg die Körper in ihre Einzelteile zersprengt hat, so passiert es nun der Wahrnehmung. Die organische Ganzheit – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne (als Inbegriff vormoderner Weltkonzeption) – ist dahin.

Behaglicher Zugang

Es war nicht davon auszugehen, dass am Berliner Ensemble das kalte und sezierende Moment in dieser Anlage betont würde. Das Haus hat in den letzten Jahren einen vergleichsweise behaglichen Zugang zum Bühnenkanon gewählt. Und Luc Bondy, der Meister des diskreten Arrangements, nimmt diese jüngere Tradition wie ein rollendes Wollknäuel umstandslos auf. Wie üblich hat er eine erste Garde von Schauspielern engagiert: Samuel Finzi, Kathrin Angerer, Ilse Ritter – zum Niederknien. Aber wer Samuel Finzis weltverdrossenen Iwanow (aus der legendären Gotscheff-Inszenierung an der Volksbühne) noch im Sinn hat, wenn er ihn nun als trübsinnigen Clochard Don Juan auf die Bühne schlurfen sieht, oder wer erlebt, wie Kathrin Angerer hier ungefähr fünf Oktaven unter ihren virtuosen Volksbühnen-Koloraturen agiert, der ahnt, dass die Schwerkraft im BE derzeit größer als anderswo ist. Man kommt vor lauter Niederknien gar nicht mehr zum Jubelsprung.

donjuan1 560 ruthwalz uFrauen umschwirr'n ihn wie Motten das Licht? Don Juan und seine Frauen. © Ruth Walz

Um dennoch seine Momente zu finden, muss man an diesem Abend den eigenen Ruhepuls maximal runterdimmen und sich ganz tief in den Parkettsessel zurückgleiten lassen. Live-Klaviermusik mit leisen Violinen-Einwürfen und Anleihen bei Mozarts "Don Giovanni" umspült die Sinne. In kurzen Szenen wechseln die Akteure elegant zwischen diversen Spielflächen auf der schrägen und mit expressionistisch verwinkelten Wänden variierten Bühne von Karl-Ernst Herrmann. Ihr Ton ist durchweg schwebend pathetisch, sehnsuchtsvoll psychologisierend. Der eine oder andere verbale Kantenschlag von Angerer oder Ritter und eine kurzzeitige humoristische Vitalisierung des Don Juan von Finzi während der Inflationsjahre stören den Tenor nicht.

Andeutungsvolles Dahinschweifen

Elf Frauen umschwänzeln einen Mann, elf Frauen, die Horváth durchaus als Typen betont sehen möchte – und nirgends wird chargiert, nirgends wird eine Figur verraten. Das ist allemal nicht gering zu schätzen. Swetlana Schönfeld gibt eine dämonische Großmutter im Polstersessel in passgenauer Balance zur würdevoll mauligen Magd von Kathrin Angerer. Die ewigjunge Ilse Ritter und BE-Frontfrau Katharina Susewind skizzieren mit wenigen Strichen ein lesbisches Paar zum Swing der Weimarer Republik (ohne dass der beträchtliche Altersunterschied der Akteurinnen auch nur im Geringsten auffallen würde).

Augenblicke eines eigentümlichen Reizes entstehen vor allem in den prononciert sentimentalen Zuspitzungen. Wie Katharina Susewind als Dirne den Don Juan zu sich aufs Zimmer nimmt und es geschieht nichts, nichts, als dass der Mann müde und siech daliegt, als sich die Frau entkleidet und ihr kurz der im Krieg gefallene Vater in den Sinn kommt – das sind die Perlen des Verlusts, die diese Inszenierung bedachtsam auffädelt. Am Ende stehen wir mit einer kleinen Kette da, von der kaum zu sagen ist, wie man sie tragen soll: ein seltsames Stück, das seine epochalen Koordinaten deutlich, fast überdeutlich, markiert, aber in der szenischen Ausarbeitung nurmehr nebulös andeutungsvoll dahinschweift; es könnte in seinem monotonen Gleichtakt ewig weitergehen. Eine Inszenierung, die andachtsvoll weichzeichnend alle vorgegebenen Stationen abschreitet. Ein Saisonauftakt am Berliner Ensemble wie eine Abenddämmerung.

 

Don Juan kommt aus dem Krieg
von Ödön von Horváth
Regie: Luc Bondy, Mitarbeit Regie: Geoffrey Layton, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Kostüme: Moidele Bickel, Musik: Bela Koreny, Künstlerische Mitarbeit: Reinhild Hoffmann, Maske: Cécile Kretschmar, Dramaturgie: Dieter Sturm, Dietmar Böck.
Mit: Samuel Finzi, Kathrin Angerer, Antonia Bill, Anke Engelsmann, Larissa Fuchs, Johanna Griebel, Ursula Höpfner-Tabori, Coco König, Laura Mitzkus, Ilse Ritter, Swetlana Schönfeld, Katharina Susewind, Musiker: Bela Koreny / Max Doehlemann (Klavier), Dragan Radosavievich (Violine, Banjo, Singende Säge), René Decker (Saxophon, Mundharmonika, Flöte).
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Ein mutloses, müdes Theater, bei dem sich schon viel zu lange in die Jahre gekommene große Künstler von einem in die Jahre gekommenen Publikum feiern lassen", urteilt Andrea Gerk auf der Seite von DeutschlandradioKultur (15.10.2013). Ein bieder inszenierter Reigen kleiner Szenen und Begegnungen sei das, "aus denen nur eine einzige heraussticht: in ihr treffen die beiden Gäste des Ensembles Kathrin Angerer und Samuel Finzi allein aufeinander, und schaffen es, in diesem einen Moment etwas aufblitzen zu lassen von dem unbegreiflichen und zerstörerischen Zauber zwischen Mann und Frau."

Bondy inszenierte das Stationendrama "als neblige maulige Müdigkeits- und Überdruss-Elegie", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (17.10.2013). "Diese Inszenierung aalt sich in großmeisterlicher Mattigkeit. (...) Champagner perlt. Dämmerlicht schmeichelt. Nebelwölkchen wallen. Finzi tut seine Hahn-im-Korb-Pflicht, richtet sein Gefieder, einmal kräht er sogar ins Mikrofon. Und die Frauen − sie gackern." Sein Fazit zur musealen Veranstaltung: "Pantoffeln und Interesse sind vom Zuschauer mitzubringen."

"Von einzelnen Ausnahmen abgesehen (Auftritt der Kommunistin: nichts als eine Karikatur) wirken alle Szenen wie die Pinselstriche eines einzigen grossen Abenddämmergemäldes", schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (17.10.2013). "Das ist der Trick dieser Inszenierung: Sie versetzt den Zuschauer selbst in die Stimmung, den Zustand der Figuren – und lässt ihn danach mit Unruhe aufschrecken. Denn nach und vor jeder Katastrophe ist Lähmung, Starre, Dumpfheit. Diese Inszenierung erzählt damit die Geschichte eines Allerweltsmannes, der aus dem Krieg kommt– und einen neuen, unnennbaren Krieg heraufziehen fürchtet. Er begreift es nicht, wie es niemand begreift. Aber sein Körper, sein Gang, die Hände wissen es längst."

Der Abend flüstere altersmild vor sich hin, hält Andreas Schäfer im Tagesspiegel (17.10.2013) fest. Bondy inszeniere die Beziehungsmissverständnisse so fein, "dass man seine inszenierende Hand überhaupt nicht, dafür aber die Fäden zwischen den Figuren golden funkeln sieht. Kostbare Vignetten über die Unmöglichkeit des Zweisamseins, allerdings immer wieder unterbrochen von naheliegenden, aber trotzdem unmotiviert wirkenden Tanzszenen oder halbherzig aus Karton gesägten Slapstickeinlagen."

"Die Konstellation versprach im Vorfeld also durchaus produktive Spannung - die sich am Abend selbst allerdings schnell legte", fasst Christine Wahl auf Spiegel Online (16.10.2013) den Abend zusammen: Bondy erschöpfe sich in denkbar konventionellen Arrangements. Abgesehen von einigen Angerer- und Finzi-Momenten "plätschert der Abend ähnlich leise dahin wie die sie untermalende Live-Musik aus der Seitenloge".

"Luc Bondy, der Regisseur, der von allen Theaterkünstlern wohl am meisten weiß über Männer und Frauen und was sie mit- und gegeneinander umtreibt, inszeniert einen großen, grandios unheimlichen, düster glitzernden, ironisch schnell schraffierten zauberischen Albtraummaskenball", befindet Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.10.2013). Finzi treffe das Wesen seiner Figur "mit schwerelosem Witz und toller Leichtigkeit. Selbst noch im Schneemann-Tod ist er ein Kind seiner Zeit – aus der Welt gefallen, nur in seiner heimatlosen Welt zu Hause. Man hätte jetzt gerne die Frau kennengelernt, an die er sich als Einzige erinnert. Aber so sanft, so ironieselig und glückstraurig komisch, wie Luc Bondy das hier inszeniert, muss es ein Traum von einer Frau gewesen sein. Für den sich alle Tode lohnen."

Anders deutlich wird Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (17.10.2013): "Wir sind am Berliner Ensemble, und das sorgt selbst bei Bondy für eine gewisse Schwerfälligkeit. Diese Überdeutlichkeit, diese grobklotzige Typenseligkeit, all die angestrengte Aufgekratztheit und brave Sorgfalt, mit der noch Tanz- und Partyszenen serviert werden - das ist der gefürchtete BE-Stil, der sich wie Mehltau über Bondys Regiekünste legt. Manchmal blinzelt man unwillkürlich und fürchtet für einen Augenblick, in einer Peymann-Premiere gelandet zu sein." Einmal frage Don Juan den Flirt des Moments: "Sind Sie Kunstgewerblerin?" "Die offenherzige Antwort der neuen Bekanntschaft: 'Ja.' Dieses zu allem entschlossene Ja zum Kunstgewerbe war möglicherweise der ehrlichste Moment des Abends."

Luc Bondy wolle "ein melancholisches Roadmovie zeigen", und durch den in Bulgarien geborenen Samuel Finzi komme "schon rein sprachlich ein wunderbar patinöser K.-u.-k.-Ton in die Aufführung", schreibt Matthias Heine in der Welt (18.10.2013). Doch der "kabarettistische und plakative Geist, der die Inszenierungen im Berliner Ensemble so oft prägt, hat wie ein Virus auch Bondy infiziert." In vielen Momenten sehe "dieser 'Don Juan' aus, als wäre er von Claus Peymann."

Luc Bondy blicke durch "Horváths zusammengekniffene, von Granatqualm gebeizte Augen auf die Welt", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (24.10.2013). "Seine Inszenierung sollte heißen: Europa kommt aus dem Krieg. Denn Don Juan steht meistens reglos, und die Welt, aus dem Schlachten-Sfumato allmählich auftauchend, bewegt sich um ihn. Karl-Ernst Herrmanns dunkle Bühne verfügt über einen Caféhausbereich im Orchestergraben, an Tischen mit Lämpchen sitzen die Damen, als schwebe alles, was die dahinter aufsteigende Spielfläche an Nachkriegsleben zeigt, nur aus ihren Gesprächen – als sei auch Don Juan in seiner knittrigen Gestalt ihr Traum, ihr Hungertraumwesen." Vier Tage nach Bondy habe in Zürich Herbert Fritschs Version von Dürrenmatts "Die Physiker" Premiere gehabt. Zwischen Don Juan und den Physikern, dem Drama zum ersten Weltkrieg und der Komödie zum allerletzten Weltkrieg, lägen, so Kümmel, nur 25 Jahre. "Doch wer von der einen Aufführung zur anderen reist, dem kommt es vor, als erforsche er einen Zeitabgrund. Die Menschheit scheint in diesen 25 Jahren die Lebensenergie von Jahrhunderten verbraucht und vernichtet zu haben."

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