Vers für Vers
Berlin, 20. Oktober 2013. Dimiter Gotscheff ist heute früh im Alter von 70 Jahren verstorben. Das meldet die Fachzeitschrift Theater der Zeit auf ihrer Onlineseite. Der 1943 im bulgarischen Parwomaj geborene Theatermacher war einer der prägenden Regisseure des zeitgenössischen Theaters. Als Adressat von Heiner Müllers poetologischem Essay "Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von PHILOKTET am Dramatischen Theater Sofia" (1983) ging er in die Literaturgeschichte ein. Gotscheff war auch nach Müllers Tod 1995 der bedeutendste Bühneninterpret der Werke des großen Nachkriegs-Dramatikers. Zuletzt inszenierte er regelmäßig am Deutschen Theater Berlin, an der Volksbühne Berlin und am Thalia Theater Hamburg.
Hamletmaschine (Deutsches Theater Berlin, 2007) stand der Regisseur selbst auf der Bühne.
Gotscheff kam 1962 nach Ost-Berlin (ursprünglich als Student der Tiermedizin) und wurde 1968 Regieassistent von Fritz Marquardt sowie Mitarbeiter von Benno Besson am Deutschen Theater und an der Volksbühne. 1979 ging er nach Bulgarien zurück und arbeitete dort als Regisseur. 1985 blieb er nach einer Einladung von Klaus Pierwoß in Westdeutschland und inszenierte seither in Köln, Hannover, Düsseldorf, Bochum, Hamburg, Wien und Berlin. Mehrfach wurde er mit seinen Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. In den Heiner-Müller-Abenden "Philoktet" (Volksbühne Berlin, 2005) undÜber den Volksbühnen-"Philoket" schrieb Nachtkritiker Dirk Pilz in seiner Würdigung zum 70. Geburtstag des Regisseurs im vergangenen April: "Sepp Bierbichler saß herum und trank Whisky, Samuel Finzi saß da und hat Augen gemacht, und Gotscheff trug langen Mantel zum langen Haar, kramte in Zetteln und versuchte, den Text vorzulesen. Ich glaube, sie haben damals nicht Theater gespielt, jedenfalls in keiner Weise, was man gemeinhin so spielen heißt. Sie haben sich Vers für Vers durch den Text gebissen. Geschwiegen, gesessen, gesoffen, gerungen. Als ob der Traum des Gotscheff-Theaters das Wegsitzen und Niederringen des Theaters wäre. Ein komischer Traum, aber vielleicht ist es das, was dieser Theaterkunst ihre Kraft verleiht."
Als epochale Arbeit der jüngeren Vergangenheit gilt Gotscheffs Umsetzung von Aischylos' Die Perser, 2007 am Deutschen Theater in der Übersetzung Heiner Müllers, eine in karger, abstrakter Räumlichkeit ganz auf den sprachlichen Vortrag abgestellte Aneignung. Der in die Verse hinein lauschende, genau analysierende Stil war Charakteristikum von Gotscheffs Werk. Seine Bühnenbilder, die ihm zumeist Katrin Brack oder Mark Lammert schufen, waren oft von einer prägnanten Bildidee getragen: Unvergessen sind der endlos wabernde Nebel im "Iwanow", der die Protagonisten ganz einhüllte und wieder entließ (Volksbühne Berlin, 2005), oder der andauernde Konfettiregen im Tartuffe (Salzburger Festspiele / Thalia Theater Hamburg, 2007).
Gotscheff versammelte führende Schauspieler des deutschen Theaters als feste "Truppe" um sich, die man ob ihrer großen künstlerischen Vertrautheit als Gotscheff-Familie betitelt hat (Almut Zilcher, Margit Bendokat, Samuel Finzi, Wolfram Koch). Im Mai 2011 erhielten Gotscheff und seine Schauspieler den Berliner Theaterpreis.
(chr)
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