Der Sturm - Am Münchner Residenztheater überflügelt Gísli Örn Gardarsson Shakespeare mit einer utopiefreien Umdeutung seines späten Dramas
Die Insel der Gerächten
von Isabel Winklbauer
München, 20. Oktober 2013. William Shakespeares Alterswerk "Der Sturm" verursacht seit je Bauchschmerzen. Zu fantastisch ist das Märchen um den entmachteten, rachedurstigen Fürsten Prospero, der seinen Feinden dann doch großherzig vergibt und seine wichtigsten Bezugspersonen in die Freiheit entlässt. Einen realistischeren Verlauf spielt man im Geiste aber auch nicht gern durch. Mord, Totschlag, gebrochene Herzen und Prosperos ewige Isolation wären einfach zu deprimierend. Dennoch entscheidet sich der isländische Regisseur Gísli Örn Gardarsson für diese zweite Möglichkeit: Sein "Sturm" am Münchner Residenztheater endet böse.
In luftiger Höhe
Nicht auf einer Insel, sondern in einem geheimen Foltergefängnis lässt Gardarsson Herzog Antonio und seine Entourage nach einem Schiffbruch stranden. Einst brachten sie Prospero um die Macht, deshalb lacht der sich jetzt ob des glücklichen Zufalls ins Fäustchen – und das Publikum, dicht um den dreistöckigen Gefängniskäfig im Marstallgebäude platziert, fiebert mit. Es ist wie mitgefangen in diesem Raum, den man nicht Globe-, sondern Cube-Theater nennen könnte. Eine wunderbare, packende Idee (Bühne: Börkur Jónsson), mit der sich Gardarsson einmal mehr seines 2011 gewonnenen Europäischen Theaterpreises für Neue Realitäten würdig erweist.
In dieser nur aus Gefangenschaft und Qual bestehenden Welt lebt der monströse Diener Caliban unter Gittern im Keller, Tochter Miranda hat ihren Stammplatz zwischen zwei Eisenstangen, Prosperos Erster Offizier, der Luftgeist Ariel, wohnt auf dem Gitterdach. Und Mirandas Liebe Ferdinand schwimmt sogar am Bungee-Seil hoch über dem Geschehen. Das sieht toll aus, vor allem ist es aber dramaturgisch klug, die verschiedenen Gegenden der Insel in die Höhe zu arrangieren. Das spart Szenenwechsel und schraubt das Geschehen auf ein immenses Tempo, was der originale, poetisch ermüdend-ausschweifende "Sturm" dringend nötig hat.
Vor Rachedurst keuchend
Manches geht allerdings zu schnell. Wie gesagt, verzeiht Gardarssons Prospero nicht. Manfred Zapatka zeichnet ihn dabei weniger als Rache-Fanatiker (das übernimmt Guntram Brattia als Caliban stets hasserfüllt röchelnd) denn als einst würdigen, gebildeten Mann, dessen Gerechtigkeitssinn aufs schlimmste verletzt wurde und der nun seine Vergeltungspläne hegt und pflegt wie eine zermürbende Krankheit. Da möchte man doch gerne mit eigenen Augen genauer sehen, warum. Sind die Gestrandeten wirklich so mies?
Dass sie es sind, hätte die Szene zwischen Antonio und Sebastian, in der sie den Meuchelmord an König Alonso planen, gut gezeigt. Doch genau die wurde bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen, ebenso wie die Liebe von Ferdinand und Miranda (wild, aber trocken wie Schiffszwieback: Friederike Ott). Kein Mensch glaubt diese 120-Sekunden-Zuneigung. So wenig wie Calibans und Gonzalos spontanen Putschplan. Der erstere ist vom Hass doch viel zu verdummt, der Andere viel zu intellektuell. Ernste Gefahr droht Prospero nie, und so bleibt sein Rachedurst merkwürdig pathologisch. Da die Hälfte des Ensembles obendrein übertrieben keuchend deklamiert, gerät die Zielgerade zum Showdown zum Holterdipolter.
Ariel als Kampf-Drohne
Umso exquisiter fällt allerdings Prosperos Rache aus. Die Endszene aus "Matrix" ist ein Witz gegen Prosperos und Ariels Vierkampf mit Antonio und Sebastian! Anfangs prügelt Prospero noch selbst mit Fäusten, doch dann übernimmt seine Nummer Eins. Und da entpuppt sich Ariel (Gunther Eckes) als etwas, was bedeutend leichter anzunehmen ist, als ein Luftgeist: Er ist ein Terminator, eine Drohne, die ultimative Waffe mit eingebautem Maschinengewehr, Laserschwert und Handgranaten. Wer Fantasie hat, sieht diese vor sich in den Zuschauerreihen explodieren. Eine meisterhafte Choreografie! Das Publikum schied dank ihr mit lebhaftem Applaus.
Gewaltsame Rache ähnelt unserer Welt nun mal mehr als die originale Utopie des "Sturm". Prospero wird dadurch freilich endgültig zur tragischen Figur. Ihm bleibt nichts und niemand, Miranda igelt sich im Keller ein, nachdem ihr geliebter Ferdinand vor ihren Augen niedergemetzelt wurde. "Wo Ihr selbst begnadigt sein wollt: übt Nachsicht", bittet er das Publikum, "und befreit mich". Das ist genau so aufrichtig wie zwecklos – und damit Shakespeares pessimistischer Sicht auf die Weltgeschichte wesentlich näher als die Originalfassung des "Sturm".
Der Sturm
nach William Shakespeare
Regie: Gísli Örn Gardarsson, Bühne: Börkur Jónsson, Kostüme: Filippia Elisdottir, Licht: Björn Helgason, Musik: Jan Faszbender, Dramaturgie: Veronika Maurer.
Mit: Manfred Zapatka, Jens Atzorn, René Dumont, Arthur Klemt, Miguel Abrantes Ostrowski, Franz Pätzold, Guntram Brattia, Gunther Eckes, Friederike Ott.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Gisli Örn Gardarsson traue "dem Guten im Mächtigen nicht", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (22.10.2013). So müsse Manfred Zapatka – "eigentlich eine Traumbesetzung als Prospero, der für einen Prachtschauspieler auch eine Traumrolle sein dürfte" – "einen von seinen Rachegelüsten zerfressenen Paranoiker mimen" und wirke dabei "wie ein Politiker beim Presseball". Die Liebesgeschichte um Miranda und Ferdinand skelettiere der Regisseur zur Nebensache. "Anderen visuellen Medien" billige Gardarsson "mehr Aussagekraft als dem Theater zu, was auf der Bühne nach hinten losgehen kann". Die Kampfszenen seien zwar "perfekt choreografiert, doch wer Laserschwerter und Action in Superzeitlupe schon bei 'Star Wars' und 'Matrix' albern fand, hat hier viel zu lachen".
Der 1973 geborene Theatermacher Gísli Örn Gardarsson war einst 15 Jahre Leistungsturner in der isländischen Nationalmannschaft, "klar, dass sein Theater körperbetont ist", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (22.10.2013). In diesem "Sturm" könne das sportliche Spiel die Inszenierung aber auch dynamisch entwickeln, "die Geschichte mit Mitteln der Akrobatik, der Kampfkunst und des Zirkus erzählen." Der Regisseur bediene sich aber auch in der Kinogeschichte, zitiere Zombiestreifen oder Zeitlupen-Kämpfe, wie wir sie aus Martial-Arts-Filmen kennen. Fazit: "All das wirkt nie aufgesetzt, sondern entwickelt sich logisch und konsequent. Ein wilder, ein abgefahrener Abend. Ein guter Abend."
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Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Wir kennen doch Shakespeares Pessimismus oder Optimismus ausschließlich aus seinem dramatischen und lyrischen Werk. Es gibt doch keine erhaltenen Korrespondenzen o.ä., die ihn als weitaus pessimistischeren Menschen zeigen. Wie kann man denn dann behaupten, eine Deutung sei näher bei Shakespeare als sein Text? Und nein: Das ist kein "Werktreue"-Statement. Man kann Shakespeares Texte interpretieren wie man will. Aber näher dran am Autor ist eine pessimistische Deutung nicht automatisch.