Tote Katze, Hitler, LSD

von Steffen Becker

Stuttgart, 25. Oktober 2013. Bewusstseinsstrom – Erzähltechnik, die in ungeordneter Folge Bewusstseinsinhalte einer oder mehrerer Figuren wiedergibt. Bernward Vesper hat so geschrieben – über Drogen, seinen Sohn, seinen Vater, seine Freundin Gudrun Ensslin, "aber Gudrun soll heute keine Rolle spielen". Lüge! Natürlich ist sie da, in Stuttgart, da spielt doch auch eine Frau mit (Svenja Liesau). Ach so, die ist auch Bernward, wie auch die anderen vier Männer, sogar der alte Sack (Peter René Lüdicke). Lacher, als er sagt, er wolle mit 30 Jahren eine Biografie schreiben und sie "Hass" nennen. "Überhaupt, wer nennt sein Kind eigentlich Bernward?". Zum Namen kommen dann noch Nazi-Papi, schwer lastende Hakenkreuzdecken als Bühnendeko, Drogen, die RAF-Frau (auch wenn sie nicht da ist).

diereise 280h connymirbach uNazifahnen und Liegestühle: "Die Reise"
© Conny Mirbach
Die Reise ist also örtlich (Trips in München, tote Katze in Gifhorn), zeitlich (Hitler! ganz viel Hitler, Fetisch-Tanz mit Hakenkreuz-Fahne, Prügelei um Hakenkreuz-Decke) und geistig (LSD!) zu verstehen. Ach egal, wozu nacherzählen, was schon bei Wikipedia steht. Und wo ist eigentlich der Nichtraucherschutz in Baden-Württemberg, in dem Theaterraum rauchen die alle ständig. Nur nicht, als sie nicht Bernward sind (klingt echt nach Nazi-Brut), sondern Schauspieler, die das mit dem Bewusstseinsstrom selber mal ausprobieren. "Was man alles für einen Schwachsinn denkt, die ganze Zeit". Lacher! Aber weniger als beim Hakenkreuz.

Die Bühne, es muss was über die Bühne gesagt werden. Manchmal sieht man nichts wegen der Suchscheinwerfer und der Nebelmaschine, deren Geruch noch viel stärker auffallen würde, wenn nicht ständig geraucht würde. Einziger Fixpunkt ist das Leselicht des Souffleurs. Gifhorn, die Kindheit, ist auch undurchsichtig, manchmal wegen Plastikplanen, manchmal wegen Regenwand. Bernward sagt was Komisches, sein Elternhaus sei vegetabil gewesen. Blitzlink: Gudrun Ensslin lässt einen Gemüseladen ausrauben – in Bruce LaBruces Film The Rasperry Reich. Was eigentlich ein Schwulenporno ist.

Der Mensch denkt meist an Sex, wenn er sich unterbewusst ablenken will. Zum Beispiel von 2,5 Stunden Beine in den Bauch stehen in einem Raum ohne ausreichend Sitzplätze. Nur die Schauspieler vertreten sich die Beine, der alte Sack wandert um den Pavillon mit dem Krankenbett (endlich, mehr Details zur Bühne). Er lamentiert – über Teekannen, die man nur zeichnen kann, wenn die Nervenströme über die Netzhaut direkt in den Arm wandern, über Bernwards beschädigte Generation, in Schizophrenie getrieben zwischen Revolte und Kuscheln mit den Verhältnissen – so Kram steht zumindest auf der Webseite. Diese Suada-Reise dauert lange, sehr lange, das ist so anstrengend, dass der Mann später den Unterschied zwischen Juden und Jugend erst nach einem Kraftakt im Klappstuhl aussprachlich bewältigt.

Die Konzentration und die Augen schweifen, wo ist eigentlich der Souffleur hin, nirgends, verschluckt und die PET-Flasche da drüben ist doch ein Stilbruch im Sixty-Klamotten- und Einrichtungsstil. Das mit der Persönlichkeitsspaltung haben sie aber gut hinbekommen. Bernward, der Wütende (Lüdicke), Bernward, der Manische (Paul "Wo ist meine Sonnenbrille, sie ist ein Teil von mir" Schröder), Bernward, der Reflektierte (Manolo Bertling), Bernward, der Traurige (Christian Schneeweiß) sowie Bernward, die Frau, die manchmal auch Gudrun ist (Svenja Liesau). Eine Figur, so multipel, so zersplittert, so abgefahren, so manchmal ulkig und meistens echt anstrengend wie sein Buch – über das er sich umgebracht hat. Überdosis.

 

Die Reise
nach dem Roman von Bernward Vesper
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Friederike Bernhardt, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Manolo Bertling, Svenja Liesau, Peter René Lüdicke, Christian Schneeweiß, Paul Schröder.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Mehr zu Vespers Die Reise auf der Bühne? Eike Hanemann hat den Roman 2008 in Erlangen auf die Bühne gebracht und wurde damit 2009 zum Festival Radikal jung nach München eingeladen.

Mehr zu Regisseur Martin Laberenz gibt's im nachtkritik.de-Lexikon.

Mehr zum Intendanz-Auftakt von Armin Petras in Stuttgart? Simon Solberg inszenierte zeitgleich den Urgötz auf der großen Bühne.


Kritikenrundschau

"Wohlfühlen soll sich hier keiner", schreibt Elisabeth Maier in der Esslinger Zeitung (28.10.2013) über den Abend. Die Schauspieler zeigten überzeugend "unterschiedliche Facetten" von Bernward Vespers "gespaltener Persönlichkeit" und rissen das Publikum "in einen Bewusstseinsstrom, der von einer bemerkenswerten Lichtregie getrieben wird". Vieles in Laberenz' Spielraum wirke trotz der "vielversprechenden" Akteure "konstruiert", zumal der Regisseur für seine Spielfassung Vespers Textfragmente "teilweise sehr plakativ und platt ausgewählt" habe. Auch werden "merkliche Längen" und manch "effekthascherisch" gesetzte Bilder konstatiert.

Martin Laberenz' Inszenierung wolle "statt einer Geschichte eher Bewusstseinszustände vermitteln", berichtet Andreas Jüttner in den Badischen Neusten Nachrichten (29.10.2013) in seinem Überblick zum Stuttgarter Intendanz-Neustart. Laberenz teile die Figur Vesper auf mehrere Spieler auf, "die mal LSD-Trips probieren, mal aus einer Dachbodenkiste das verdrängte Erbe in Form einer Hakenkreuzfahne herauskramen und mal im von der Decke prasselnden Bühnenregen dem Bombenhagel ihrer Kindheit im letzten Kriegsjahr nachspüren". Auch musikalisch und durch den Bühnennebel verstärkt schwebe über der Szene ein "Hauch sedierender Melancholie".

Kommentare  
Die Reise, Stuttgart: Vielschichtige Schizophrenie
Da wird viel geschrien und gebrüllt. Der Zuschauer wird von Kettenrauchern vollgeraucht (wo bleibt denn das Rauchverbot in öffentlichen Räumen?) und immer wieder mit gleissendem Licht geblendet. Das ist manchmal anstrengend. Was bleibt, ist eine martialische Studie über persönliche und politische Zusammenbrüche in Zeiten des Umbruchs. Synonym als Endstadium der Geisteskrankheit. Der Nihilismus ist aber permanent Gefahr, in Destruktivismus umzuschlagen, der sich dann auch gegen das Publikum richtet. Überdosen an Lärm, Rauch und Licht führen allmählich zu Allergien, die den Blick auf die eigentliche Substanz des gewaltigen Textes verstellen. Respekt vor den SchauspielerInnen, die bis zum Schluss des zweieinhalbstündigen Marathons nicht aufgeben (manche Zuschauer freilich schon). Dabei ist der Grundgedanke, die vielschichtige Schizophrenie der Hauptperson in die jeweiligen Protagonisten des Abends aufzuspalten, sicher eine sehr kluge Entscheidung gewesen.
Die Reise, Stuttgart: ein Erlebnis!
Mich hat die Reise sehr mitgenommen, aber dafür möchte ich meine Hochachtung aussprechen, denn ein Erlebnis wie diese Vorstellung habe ich lange nicht mehr im Stuttgarter Theater gehabt. Ja, die Gefahr der Destruktion habe ich auch bemerkt und dass sie sich nachteilig auf die Inszenierung auswirken kann, allerdings haben meiner Ansicht nach die Schauspieler das zu verhindern gewusst. Bleibt die Frage, inwiefern das wirklich Konzept ist.
Die Reise, Stuttgart: Substanz
Was ist denn "die eigentliche Substanz des gewaltigen Textes"? Was sie damit meinen, würde mich angesichts der Inszenierung sehr interessieren. Ich finde, in dieser Version der Reise gibt es ungemein viel Substanz zu bestaunen, aber ich bin mir nicht sicher ob das nur die Substanz des Textes ist. Und mit "nur" möchte ich keineswegs den Text abwerten. Aber so sonderbar, wie die Inszenierung daher kommt, ist genau das, die Frage der Substanz, einer der für mich wesentlichen Punkte.
Die Reise, Stuttgart: Lanze für die Schauspieler
Zu @3.: Der Begriff „gewaltige Substanz“ deckt sich eigentlich mit dem, was ich auch bei Ihnen lese. Das Problem liegt eher auf der Ebene der Wahrnehmung. Deswegen kann ich die Frage nach der Substanz nur mit einem partiellen Substanzverlust in meiner Wahrnehmung beantworten, wie ich das schon in @1. versucht habe, zu beschreiben. Zum Beispiel nach dem eindrucksvollen, längeren Monolog hatte ich den Eindruck, dass ich da Wesentliches (also Substantielles) nicht mehr richtig verstanden habe. Vielleicht liegen die Rezeptionsprobleme zusätzlich auch am jeweiligen Umschlagen von Aktualität in die Geisteskrankheit, das kann ich aus der Retrospektive nicht mehr genau sagen. Hintergrund ist ja ein epochales Buch, und das verleiht den hohen intellektuellen Anspruch des Abends. Eine Lanze breche ich nochmals für die wirklich hervorragenden und hochmotivierten SchauspielerInnen (einschliesslich Musik), die m. E. von den Rezeptionsproblemen im Publikum etwas gespürt haben. Ich habe sehr bedauert, dass eine Einführungsveranstaltung kurzfristig wegen Krankheit ausgefallen ist. Ich denke, je größer das Hintergrundwissen ist, umso besser kommt man mit dem schwierigen Stück klar.
Die Reise, Stuttgart: isoliertes Verstehen
Vielen dank für Ihren Kommentar, den ich nicht unbeantwortet lassen möchte. Zunächst stellt sich mir nach der Vorstellung die Frage: Ist "Wahrnehmung" nicht eines der Kernthemen der Inszenierung? Diesbezüglich ist das "richtige" Verstehen dann einer der wesentlichen (also substantiellen) Konflikte, die hier durchgespielt werden; gerade der von Ihnen erwähnte Monolog ist für mich wichtig gewesen, um zu "verstehen". Und zwar, dass es gar kein für alle "richtiges" Verstehen gibt, sondern viel eher ein vereinzeltes Verstehen, vielleicht sogar ein isoliertes. Und darüber habe ich meinen Zugang zur Inszenierung gefunden.

Sie nennen den Text epochal. Was ist daran eigentlich epochal? Der historische Kontext? Der Grad seiner thematischen Auseinandersetzung? Sein, wie sie es nennen, hoher intellektueller Anspruch? Seine radikale Subjektivität, die womöglich mit der bereits genannten Schizophrenie zusammenhängt? Ich wüsste keine Antwort, je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger kann ich "verstehen"!

Aber eine Frage drängt sich mir noch auf: Warum eine Lanze für die Schauspieler brechen? Ich hatte den Eindruck, dass das gar nicht nötig ist, weil sie genau wissen, was sie spielen und in welchem Zusammenhang. Und das hat bei mir den Eindruck hinterlassen, dass die von ihnen beschriebene und von mir genauso empfundene Destruktivität in Teilen des Abends bewusst begangen wird, was für mich an manchen Stellen ebenfalls zum Problem wird, weil ich dort nicht nur nicht mehr im "Verstehen", sondern auch nicht mehr im "Erleben" folgen kann. Aber seltsamerweise ist das vielleicht der Moment, an dem die Inszenierung den Problemen des Verstehens, der Schizophrenie, des Zusammenbruchs und des Selbstmordes am nächsten kommt: Sie gefährdet sich selber.
Die Reise, Stuttgart: Konfrontation mit Wirklichkeit
Ich bin von der Inszenierung schlicht begeistert, ebenso von den großartigen Schauspielern. Einen solch schwierigen Roman so spannend, verstörend und gleichzeitig kurzweilig umzusetzen, ist eine Leistung. Am Anfang heißt es, alles ist nicht real. So sind alle Schauspieler Bernward Vesper, der diese »heile Welt« (im doppelten Sinne »Heil/heilen« – vor 45: »Heil Hitler« – nach 45: »wir duschen uns den Faschismus weg« heilen uns von Schuld), in die er unschuldig/schuldig ??? hineingeboren wurde, hinterfragt und demaskiert. »Wir alle haben Väter, Mütter, Onkel, Schwestern und Brüder«. Seine Beziehung zu seinem »Nazi«-Vater, die Suche nach der »Wahrheit«, »was ist die eigene Meinung?« und die Konfrontation mit der Wirklichkeit: »Unfähig, den Widerspruch zwischen der Welt und seiner Vorstellung von ihr wahrzunehmen«, führen zur totalen Verweigerung Bernward Vespers. Er merkt, es fehlt etwas, was ihm keiner geben will oder kann – sein Weg (Ausweg): Psychose – Suizid. Für mich ist es nicht nur die Auseinandersetzung mit der damaligen Generation, sondern generell die Frage, wie komme ich mit dieser Welt klar, in der ich hineingeboren werde – mir die Eltern, Erwachsenen Regeln, Sichtweisen vorgeben, was richtig oder falsch ist – und ich merke, dass vieles nicht stimmt, versuche dagegen anzukämpfen und stelle fest: alles vergeblich (ja, ja Sisyphos ein glücklicher Mensch!!??)
Dies sind nur einige spontane Gedankenfetzen zum Stück. Ich werde mir die Vorstellung sicher noch einmal anschauen.
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