Kreisverkehr elementarer Kräfte

von Elena Philipp

Berlin, 26. Oktober 2013. Karges Dunkel, von wenigen Scheinwerfern schlaglichtartig erhellter Nebel, ein staubender Aschehaufen – das ist die Szene von "Sacre": Sasha Waltz' Tribut an die Tradition, ihre Version des Frühlingsopfers, des vor genau hundert Jahren in Paris uraufgeführten, skandalumwitterten Schlüsselwerks der Moderne. Igor Strawinskys komplex rhythmisierte, ungewöhnlich orchestrierte Komposition, die schrecklich schöne Feier eines heidnischen Menschenopfers, erregte bei der Uraufführung Unmut, ebenso wie Vaslav Nijinskys Choreographie, die mit eingedrehten Füßen, gewinkelten Armen und zurückgeworfenen Köpfen 1913 gegen alle Regeln der akademischen Tanztechnik verstieß.

Schläge gegen den Unterleib

Nijinskys Bewegungssprache, die nur eine Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer aus dem Jahr 1987 annähernd vermittelt, zitiert Sasha Waltz in ihrer intensiven, exakten Choreographie ebenso wie die "Sacre"-Versionen von Maurice Béjart oder Pina Bausch. Deren Optik hat sie mit den langen, fließenden Kleidern in gedeckten Farben und den langen, fliegenden Haaren unmittelbar aufgegriffen.

sacre1 560  bernd uhlig xEine(r) wird immer geopfert: Sasha Waltz' "Sacre" an der Staatsoper Berlin © Bernd Uhlig

Einen aneinander gedrängten Kreis aus Menschenleibern, aus dessen Mitte sich ein einzelner Körper hebt, hat schon Béjart in seiner Fassung aus dem Jahr 1959 gezeigt, und die wuchtigen, weit ausholenden Schläge gegen den eigenen Unterleib wie mit einem Messer kennt man aus Pina Bauschs "Frühlingsopfer" von 1975. Auch die häufige Sonderung von Männern und Frauen in mal große, mal kleinere Gruppen und die meist klar gegenderte Paarbildung muten vertraut an – und am Schluss liegt das eine, erwählte Opfer tot auf der Bühne: Sasha Waltz bleibt der Überlieferung treu und bestätigt in einem performativen Akt die Tanztradition. Ihre Version hat, innerhalb dieses Rahmens, eine große Kraft. Aber von einer die Spartengrenzen gerne sprengenden, zwischen Tanz, Oper, Bildender Kunst und Architektur beweglichen Choreographin hätte man sich statt einer Bestätigung eher eine Hinterfragung des Überkommenen gewünscht.

Erotik und Gewalt benennt Waltz in einem Interview als die Triebkräfte ihrer "Sacre"-Interpretation, und so winden sich die Tänzer in einer hitzigen Gruppenorgie, dann wieder schleift einer die andere wie leblos über die Bühne. Anziehung transformiert die Masse übergangslos in Abstoßung, Individualität wird bestraft: Ganz zu Beginn liegt ein zärtlich umschlungenes Paar auf der Bühne. Als er später aus der stampfenden Gruppe auszuscheren versucht, wirft sie sich auf ihn, zerrt an seinem Haar, ringt ihn nieder.

Gläserner Blitzschlag

Immer wieder bilden sich auf der Bühne Haufen, die rasch wieder zerstieben: Die Tänzer sind Partikel, die von der Elementarkraft der Musik durch den Raum geschleudert werden, so wie Waltz' Choreographie von Strawinskys Rhythmen vorangetrieben wird. Die Arme verschlingend, versuchen die Tänzer mit ungeheurer Energie dagegen zu halten, doch immer wieder reißt die Verbindung, kreiseln Tänzer wie losgelöste Elektronen durch den schwarzen Bühnenraum, bis die Asche stäubt. Die Körper gehorchen dem archaischen Opferritual, von dem "Le Sacre du printemps" erzählt, und wie das Fatum selbst senkt sich im zweiten Teil eine glänzende Metallspitze aus dem Schnürboden, ein Blitzschlag in Zeitlupe.

Waltz' "Sacre" ist ein Auftragswerk, entstanden anlässlich der Jahrhundertfeier in Paris, gemeinsam mit dem St. Petersburger Mariinsky Ballett. In Brüssel und nun Berlin wird es von ihrem eigenen Ensemble Sasha Waltz & Guests getanzt. Um ein abendfüllendes Programm zu schaffen, haben Sasha Waltz und Daniel Barenboim, der die beiden Berliner Aufführungstermine in der Staatsoper im Schiller Theater musikalisch leitet, dem knapp halbstündigen "Sacre" zwei weitere Werke beigegeben. Musikalisch greifen sie damit die französische Linie auf, in der Strawinsky steht, den Barenboims Staatskapelle Berlin angemessen schneidend, dräuend und süßlich brodelnd interpretiert. Eigens choreographiert hat Waltz "L'Après-midi d'un faune" nach Claude Debussy, mit der "Scène d'amour" zu Hector Berlioz' dramatischer Symphonie zeigt sie einen Ausschnitt aus "Roméo et Juliette", das sie 2007 für die Opéra National de Paris kreierte.

Küsse, Bisse, Umarmungen

Der "Nachmittag des Fauns" erinnert mit der pastellfarbenen Geometrie von Guillaume Bruères Bühne und den alerten, tierähnlichen Bewegungen nicht wenig an Merce Cunningham, und wie in "Sacre" setzt Waltz hier die bukolische Ursprungsfabel des Nymphen verführenden Fauns um, die Vaslav Nijinsky 1912 für die Ballets Russes choreographierte. Die "Scène d'amour", getanzt von den Solisten Emanuela Montanari und Antonino Sutera von der Mailänder Scala, ist reines, weich fließendes Ballett. Das klassische Vokabular von Arabesque bis Hebefigur und das pantomimische Liebesrepertoire – Küsse, Umarmungen, Sichlosreißen und Aufeinanderzulaufen – hat Waltz mit spielerischem Necken und heiteren synchronen Sequenzen ergänzt.

Ihr Fokus auf die Schwerkraft als bewegungsleitendes Moment kommt dem Duett zugute: nicht von einer Pose zur nächsten denkt Waltz, anders als viele vertikal orientierte Ballettchoreoraphen, sondern in Abläufen, in Gewicht und Atemfluss. Jede Bewegung wirkt zu Ende geführt, die Hebefiguren stellen nicht ein einzufrierendes, virtuos gehaltenes Bild her, sondern sind nur eine Position im Durchschwung des Körpers im Raum – eine Reminiszenz ans Fliegen, als das Sasha Waltz einmal ihr Initialgefühl beim Tanzen beschrieb.

Vorerst zurück zur Tradition

Vor einem Jahr hätte man den "Sacre"-Abend als Bewerbung um die Intendanz am Staatsballett Berlin verstehen können. Nach Vladimir Malakhovs Kündigung wurde auch Sasha Waltz' Name im Findungsverfahren gelegentlich genannt. Berlin ist sie eng verbunden, auch wenn ihre Arbeiten hier selten zu sehen sind: Vor zwanzig Jahre mischte sie mit dem tanztheatralen, humorvollen WG-Stück "Twenty to eight" aus der "Travelogue"-Trilogie die freie Szene in Berlin auf und gründete ihr mit den Sophiensaelen einen zentralen Ort.

Mittlerweile ist die von ihrem Mann Jochen Sandig gemanagte Compagnie Sasha Waltz & Guests ein global agierendes Familienunternehmen und auf den großen Bühnen der Welt zuhause. Mit der geschmeidigen Anpassung an das System Ballett hat die stets bewegliche Grenzgängerin Waltz den Rahmen des zeitgenössischen Tanzes verlassen und sich der Tradition zugewandt. Vorerst.

Sacre
Ein Abend in drei Teilen
Musikalische Leitung: Daniel Barenboim, Regie und Choreographie: Sasha Waltz, Kostüme "Sacre" & "Scène d'amour": Bernd Skodzig, Bühne "Sacre": Pia Maier Schriever, Sasha Waltz, Kostüme und Bühne "L'Après-midi d'un faune": Guillaume Bruère.
Mit: Liza Alpizar Aguilar, Israel Aloni, Jiri Bartovanec, Davide Camplani, Maria Marta Colusi, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Luc Dunberry, Edivaldo Ernesto, Delphine Gaborit, Peggy Grelat-Dupont, Hwanhee Hwang, Sergiu Matis, Emanuela Montanari, Michal Mualem, Virgis Puodziunas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Orlando Rodriguez, Mata Sakka, Judith Sánchez Ruíz, Lászlo Sandig, Sophia Sandig, Yael Schnell, Corey Scott-Gilbert, Claudia de Serpa Soares, Xuan Shi, Joel Suárez Gómez, Antonino Sutera, Antonios Vais, Niannian Zhou.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, eine Pause

www.staatsoper-berlin.de
www.sashawaltz.de

 

 
Kritikenrundschau

Von einem "Triumph" berichtet Sandra Luzina im Tagesspiegel (28.10.2013). In "L'Après-midi d'un Faune" werde eine "erotische Spannung" aufgebaut, wobei es Waltz "um das Imaginäre des Begehrens" gehe. Der Pas de deux "Scène d'Amour" sei "etwas brav getanzt" und biete "eine Verschnaufpause". Mit "Sacre du Printemps" würden "dann die elementaren Energien entfesselt – mit einer Vehemenz, die einem den Atem raubt". Es gehe dabei um die "dunklen Seiten der Sexualität". Die Tänzer "stampfen, zucken und stürzen sich in einen kollektiven Taumel. Es sind düstere Ekstasen, zu denen Waltz ihre Tänzer aufstachelt."

Einen "Tanz, der nicht mehr synchron zur Musik verläuft, sondern eigene, kontrapunktische Dynamiken entwickelt" habe Sasha Waltz in der Tradition der Uraufführung von "L'Après-midi d'un Faune" geschaffen, schreibt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (28.10.2013). Die "Scène d'Amour" sei "ganz und gar konventionell, aber wunderschön anzusehen", weil Waltz "einfachste, konkrete menschliche Regungen in das abstrakte Geschehen baut". Am Höhepunkt mit "Sacre du Printemps" moniert die Kritikerin aber die "Hohepriesterei", was sie mit entsprechenden Beobachtungen stützt: "Ein Tänzer lauscht an den Bäuchen der Frauen, als könne er hören, wer auserwählt wird für das Fruchtbarkeits-Opfer."

Ein "großes Panoramabild" schaffe Waltz in "Sacre du Printemps" und weiche darin dem "hohen Pathos und einer holzschnittartigen Expressivität, zu der diese Musik leicht verführt", aus, schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (27.10.2013). Waltz erzähle "anrührend vom Verhältnis der Gesellschaft" zur weiblichen Protagonistin – "ihre Mitglieder spiegeln sich in ihr, sie versetzen sich in sie hinein, teilen ihre Angst und ihren Schrecken". Die Choreographin "streut viele erzählerische Details ein, die aus der Zwangsläufigkeit der Handlung ausscheren". Als anregend und kurzweilig würdigt die Kritikerin "L'après-midi d'un faune"; auch in "Scène d'amour" besteche die "Leichtigkeit der Interpretation".

Ein "emotional, aber auch intellektuell aufwühlendes Ereignis" habe Sasha Waltz mit ihren TänzerInnen geschaffen, berichtet Elisabeth Nehring in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (26.10.2013). "Zusammen mit der fantastischen Staatskapelle unter der Leitung von Daniel Barenboim erreichen sie höchste Form und höchste Überwältigung und treiben damit an die Grenze dessen, was Theater überhaupt leisten kann."

Von der Pariser Premiere der Choreographie "Sacre" berichtet Manuel Brug in der Welt (30.5.2013): Sasha Waltz habe es "schwer, den riesigen Vorbildern" (i.e. Maurice Béjart 1959 und Pina Bausch 1975) "etwas Neues entgegenzusetzen. Fein sind ihre Tableaux', wie ein klassizistischer Skulpturenpark gestellt, noch nie war sie so ballettös." Waltz vermeide "eine konkrete Interpretation", ihre Choreographie "sieht modern und überzeitlich zugleich aus, das gefällt, berührt aber nicht".

"Trotz den ausgesprochen starken Bildern, die Sasha Waltz für ihren 'Sacre' geschaffen hat, vermag das Stück als Ganzes nicht wirklich zu überzeugen", berichtet Isabelle Jakob in der Neuen Zürcher Zeitung (3.6.2013) ebenfalls von der Pariser Aufführung. Waltz mache "nicht ausreichend deutlich, worauf sie hinauswill. Die Figuren auf der Bühne sind zwar von Furcht erfüllt und verausgaben sich unter Ekstase, etwa im Opferungsmoment am Schluss, das unter dem gewaltigen Messer stattfindet. Der Weg dahin wie auch die Wahl des Opfers sind aber nicht nachvollziehbar."

Für ihre Jubiläumschoreographie zum 100. Uraufführungsgeburtstag von "Sacre du Printemps" habe Waltz mit einer "konservativ-klassisch geschulten Truppe" gearbeitet, berichtet Eleonore Büning in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (2.6.2013) nach der Pariser Aufführung. Das zeitige "Konsequenzen". Aus Widerspruch zwischen Choreographin und Tänzern "wächst eine neue Intensität des Ausdrucks, eine neue perfektionistische Üppigkeit. Fließend verwandeln sich sadistische Heerscharen in friedliche Arbeitsgruppen. Aus Liebesdingen entwickeln sich Massenkämpfe. Gewalt wächst aus Küssen."

"Wie ein schwarzes Loch saugt dieses Stück erotisch-gewaltsame Kraftströme in sich ein, um sie danach explodieren zu lassen – mit Waltz' eigenen Leuten geriet das noch konkreter, menschlich selbstentblößender als mit den Russen." So beschreibt Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.10.2013) die Entwicklung der "Sacre"-Choreographie gegenüber der Petersburger Arbeit (die anschließend im Paris zu sehen war). Als "Juwel" des Staatsopern-Abends empfand sie "Scène d'amour", die "lyrisch beflügelte, filigran gearbeitete Szene zwischen Romeo und Julia in der hinreißenden Darbietung der Scala-Solisten Emanuela Montanari und Antonino Sutera."

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