Helden, Menschen, Avatare

von Katrin Ullmann

Hamburg, 6. Januar 2008. Das Kaminfeuer ist echt. Es brennt in der hinteren Ecke des Raumes, und im ersten Augenblick meint man, das Feuer verantworte die erhöhte Raumtemperatur im Malersaal, der kleinen Spielstätte des Hamburger Schauspielhauses. Doch wahrscheinlich wärmt nicht das Feuer den kleinen Betonraum (Bühne: Claudia Rohner), sondern die Abwärme von einem halben Dutzend Rechnern.

An ihnen sitzen die Darsteller in Roger Vontobels Inszenierung "Die Helden auf Helgeland". Sie sind schrecklich moderne Büromenschen: Headsets auf den Ohren, den Blick auf die Flachbildschirme gerichtet. Leise klackern ihre Finger über die Tastaturen. Sie spielen Theater auf der Bühne und zugleich auf der Online-Plattform "Second Life".

Virtuelle Wikinger

So hat es Vontobel gewollt, und so hat er es mithilfe des Zwei-Mann-Webdesignbüros "two antennas" eingerichtet. Also gibt es neben Henrik Ibsens Örnulf von den Fjorden auch den Avatar "Oernulf Paulse", neben Sigurd auch "Sigurd Knoller", neben der unbezwingbaren Hjördis auch "Hjördis Halcali", neben ihrer Stiefschwester Dagny auch "Dagny Knelstrom" und so weiter. Die virtuellen Figuren und ihr Handeln sind für alle sichtbar an die Rückwand des Raumes gebeamt.

Zunächst erinnert die Inszenierung an ein schlecht animiertes Hörspiel. Darin fliegt der weißbärtige Wikinger-Avatar Oernulf durch eine wolkenverhangene Computerlandschaft und erreicht schließlich die kunstschneebedeckte Insel Helgeland. Dort will er Ordnung schaffen, denn vor ein paar Jahren wurden sowohl seine Tochter Dagny als auch seine Pflegetochter Hjördis von jungen Norwegern – Sigurd und Gunnar – geraubt und unrechtmäßig geheiratet. Noch dazu hatte damals Sigurd für Gunnar den gefährlichen Eisbären getötet, damit dieser Hjördis zur Frau nehmen durfte. Der Betrug fiel nie auf, Gunnar heiratete Hjördis, Sigurd Dagny. Eine tragische Verwechslung. Denn eigentlich war Sigurd auch schwer in Hjördis verliebt.

Die Netzwelt als Bühnendekor

Während die Schauspieler den frühen Ibsen-Text sprechen, lassen sie ihre Avatare tanzen, mit Schwertern fuchteln und Flicflacs springen. Barfüßig stolpern sie in "Heidi"-Manier die Berge hinauf, umarmen, winken oder drohen sich. Manchmal hüpfen sie recht drollig in die Luft oder machen einen holprigen Flugversuch: Dann springen die Schauspieler aus ihren Bürosesseln.

Nach und nach jedoch – und das rettet die Inszenierung – übertragen die Schauspieler ihre "Second-Life"-Identität in den Theaterraum. Dann wird die bunte Netzwelt zum Bühnendekor, der Avatar-Charakter zum ganz normalen, absolut glaubhaft gespielten Theaterhelden. Dann ist Jana Schulz eine manische Hjördis und Julia Nachtmann ihre spitzzüngige Stiefschwester Dagny. Dann spielt Janning Kahnert einen besonnenen Sigurd und Hans-Caspar Gattiker einen unterwürfigen Gunnar.

Hjördis, Gunnar, Sigurd und Dagny feiern ihr Zusammensein mit Konfettibomben und Dosenbier. Die Stimmung ist übermütig und aufgekratzt, doch dann werden Heldentaten ausgepackt – "wer ist der herrlichste Mann in dieser Runde?" –, und irgendwann wird natürlich der frühere Betrug entdeckt: Jana Schulz' Hjördis rast vor Zorn und drängt Gunnar zum Rachemord an Dagny und Sigurd.

Die unverwüstlichen Mittel des Theaters

Jana Schulz ist großartig unberechenbar: Sie faucht, bittet und schmeichelt, verspricht das Blaue vom Himmel und wütet mit dem Schwert, während Hans-Caspar Gattiker sich schon längst unter die Tische geflüchtet hat. Zum Rachemord wird es nicht kommen, denn Janning Kahnert und Julia Nachtmann steigen vorher aus dem Stück aus und stehen recht betreten da, als Jana Schulz in Schwert und Harnisch über die Tische tobt und "Das Glück ist eine Großtat wert!" schreit.

Vontobel inszeniert den Tanz am Abgrund feinfühlig und genau, dosiert ihn mit der perfekten Mischung aus Psychologie und Ironie. Untermalt von synthetischer Streichermusik und wechselweise ehrlichem Punkrock, lässt er die Darsteller auf den Bürotischen in ihre schicksalhafte Ausweglosigkeit laufen. Lässt sie klein, schwach und eifersüchtig sein, eitel, laut und provokativ. Lässt sie Helden sein und ganz normale Menschen, hin- und hergerissen zwischen Fügung und Gefühl.

Offenbar ist es Vontobels These, dass man die neuen Helden heute in der virtuellen Welt finde. Und doch berührt seine Inszenierung nur im zweiten Teil. Wenn die Schauspieler auf die Mittel des Theaters zurückgreifen und die Welt des "Second Life" in den dekorativen Hintergrund rückt. Ist doch die Theaterwelt virtuell genug, um aus ein paar (schauspielernden) Menschen Helden zu machen.

 

Die Helden auf Helgeland
von Henrik Ibsen
Deutsch von Marie von Borch
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Nadine Grellinger, Virtuelle Realisation: two antennas.
Mit: Julia Nachtmann, Jana Schulz, Martin Wolf, Jürgen Uter, Janning Kahnert, Hans-Caspar Gattiker.

www.schauspielhaus.de

nordische-heerfahrt.blogspot.com

 

Kritikenrundschau

Auf Welt online (8.1.2008) zitiert Monika Nelissen die Reklame des Schauspielhauses, das behauptet, als erstes Haus weltweit "lebendige Schauspielkunst mit der virtuellen Welt des 'Second Life' verbunden" zu haben. Ibsens Frühwerk jedenfalls nahm, laut Frau Nelissen, keinen Schaden. "Je tiefer die Konflikte der in der Wikingerzeit angesiedelten Heldensaga gehen, desto sparsamer treten die Kunstwesen auf dem übergroßen Bildschirm auf." - "Spannend und ernst" werde es immer dann, wenn die Schauspieler sich von ihren Bildschirmen lösten und Vontobel "die Geschichte von Menschen spielen lässt." Am Ende, und da sei Vontobel ganz bei Ibsen, finde die "sehr eindrückliche Jana Schulz als Hjördis" nicht mehr in die reale Welt des Malersaals zurück. Sie verliere sich in ihrer Rolle, könne nicht mehr aus ihr heraustreten. Fazit: "Als Versuch ist diese Inszenierung prima, mehr davon aber braucht das Schauspielhaus nicht.

Im Hamburger Abendblatt (8.1.2008) schreibt Maike Schiller, es sei "nicht nur eine hübsche Spielerei, sondern macht durchaus Sinn", Ibsens "Nordische Heerfahrt" im "World Wide Walhalla" stattfinden zu lassen, gehe es doch sowohl im Stück als auch in "Second Life" um die "Sehnsucht nach dem besseren, dem eigentlichen Leben." Auf Bühne und Bildschirmen schaffe Vontobel "ein Fantasymärchen voller 'Herr der Ringe'-Pathos, bei dem Hass und Neid schließlich außer Kontrolle geraten". Die schauspielerischen Live-Leistungen "fabelhaft". "Eine schlüssige Inszenierung, ein gelungenes Experiment."

Das glatte Gegenteil attestiert Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.1.2008): Die Avatare seien "überflüssige Staffage, die so flach und blass wie der Stoff bleiben, auf dem sie erscheinen (...) Betrachten wir diesen Flirt zwischen Theater und Web 2.0 demnach als gescheitertes Experiment, das jenseits der künstlerischen Disparität auch betont, dass sich die heiklen Komponenten eines Stücks nicht einfach per Knopfdruck in ein anderes Trägersystem entsorgen lassen. In 'Die Helden auf Helgeland' geht es nämlich trotz der rauhen Sitten und urigen Gebräuche vor allem um die Frage, was warum im Leben zählt." Die Bühneninszenierung findet sie "zaghaft", Vontobel mache es sich "mit anbiedernder Alltagssprache ('Die sollen sich warm anziehen!') und technischem Schnickschnack leicht". Nur das Schlussbild gefiel, immerhin.

Auch Susann Oberacker mag nicht jubeln. In den Kieler Nachrichten (8.1.2008) nennt sie die Internet-Ebene ein "ödes Hörspiel", das glücklicherweise nicht allzu lange dauere. "Jana Schulz ist überzeugend und ausdrucksstark als Hjördis, fordert eine 'Großtat' gegen das an ihr begangene Unrecht. Kurz: Die Frau will Rache. Doch die lieben Kollegen ziehen ihre Figuren klammheimlich aus dem Stück zurück. Regisseur Vontobel glaubt offenbar nicht an Helden – nicht mal im Theater. Damit hat er sicherlich Recht, aber enttäuschend ist es doch. Auch die Idee mit dem 'Second Life'. Denn eine weitere Dimension hat sie dem Theater nicht eröffnet."

Auf den Textseiten von Deutschlandradio Kultur liest man in einem Beitrag von Elske Brault vom 7.1.2008: "Die Zuschauer im Theater ... lachen sich schlapp über die abgehackten Bewegungen der Avatare, über das Schwerterschwingen und Muskelaufpumpen dieser Playmobil-Wikinger. Doch während die Bilder die blutrünstige Heldensage ironisieren, ergreifen einen die echten Gefühle in den Stimmen der Schauspieler." Roger Vontobel, schreibt Frau Brault weiter, gelinge "die überzeugende Wiederbelebung eines vergessenen Ibsen-Dramas und eine vielschichtige Reflexion über das Verhältnis von Internet und Theater, von Spiel und Realität."

Simone Kaempf fühlte sich bei Vontobels Unternehmung "streckenweise an ein Live-Hörspiel und animierte Comics erinnert". Aber, schreibt sie in der taz (10.1.2008) weiter, "man hat Teil an der Empathie mit der das entsteht". Im zweiten Teil "steigen die Schauspieler von den Stühlen auf die Tische, aus dem Virtuellen in die Wirklichkeit, und spielen, was den Avataren nicht mehr darstellbar ist: Verletzung durch Betrug, Eifersucht, ehrhafte Freundschaft." Das geriete dann aber zu derart "anstrengendem und nervigem Wüten", dass man sich "zurück ins Virtuelle" wünschte. Aber so sei es ja "tatsächlich mit dem Verhältnis von Echtem und Virtuellem: ständig verlagert sich eine Sehnsucht von einen Ort in den anderen." Dieser Crux habe Vontobel einen "glaubwürdigen Abend abgetrotzt", der auch den Ignoranten die "überraschende Schönheit des Second Life" vor Augen führe.

 

 

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