Eingemachtes mit Bombeneinschlag

von Geneva Moser

Bern, 7. November 2013. Material übersichtlich zu ordnen zum Zwecke der Erhaltung und Zugänglichkeit – das ist gemeinhin die Aufgabe eines Archivs. Für die Premiere des Stückes "Archiv[2]: KRIEG" öffnet das Schlachthaus Theater Bern nach einer umfangreichen Sanierung, bei der nicht nur die technischen Installationen in Stand gesetzt, sondern auch diverse Änderungen am Innenausbau vorgenommen wurden, mit feierlichem Einweihungsakt seine Pforten.

Das Schlachthaus – eines der bedeutendsten Theaterhäuser der Freien Szene in der Schweiz – war bereits Spielstätte für die erste Arbeit des Inszenierungs-Labels Les Etoiles Bern: "Burn Out" nach einem Hörspiel von Michael Stauffer. Nach "Archiv[1]: SIE", dem ersten Teil der Archiv-Trilogie mit Premiere im Tojo Theater Bern, wagt sich Les Etoiles Bern nun mit "Archiv[2]: KRIEG" an ein großes europäisches Trauma, den zweiten Weltkrieg, und lässt dabei drei Frauen und eine Puppe die Kriegserinnerungen der Großelterngeneration archivieren.

Drei Frauen …

Vor dem historischen Gemäuer des Altstadtbaus und großflächig projizierten Schwarzweiß-Fotos hangeln sich drei Frauen (Nina Mariel Kohler, Sibylle Mumenthaler, Hildur Óttarsdóttir) in karierten Hosenröcken im 40er-Jahre-Stil von Versatzstück zu Versatzstück der Erinnerungsgeschichte. Ganz Alltägliches wechselt sich mit der existenziellen Bedrohung des Krieges ab: Kriegsbriefe von verliebten Ehefrauen, die gefütterte Unterhosen an die Front schicken, "hoch in einer anderen Lage sind" und schließlich von der strapaziösen Niederkunft der Tochter berichten, werden gelesen.archiv 560 matthiasredlhammer uKochen und Kindheitsreliquien: "Archiv[2]: KRIEG" in Bern © Matthias Redlhammer

O-Ton-Berichte über die Flucht aus Deutschland in letzter Sekunde, über Lebensmittelrationierung und Rekrutierung in der Schweiz werden eingespielt, aber auch Eingemachtes wird gekocht, begleitet von Fluglärm und Bombeneinschlag. Gesprochen wird Deutsch, Englisch und Isländisch, mal aus heutiger Perspektive, mal aus der damaligen.  Zusammengehörig als Gruppe sind die drei Frauen vor allem dann, wenn sie sich immer wieder mit militärischen Gehorsamkeitsübungen unterbrechen und auf Befehl rennen, sich verstecken und salutieren oder wenn sie gemeinsam einen der vielen Sprechgesänge anstimmen.

… und eine Puppe

Eine kleiner Junge, eine bewegliche Handpuppe mit Segelohren, Schelmengrinsen und einer Schildkröte als Haustier, begleitet die Reise ins "Damals" und sorgt für manchen tragikomischen Moment. Er stellt zur richtigen Zeit die richtigen Fragen, ist (beinahe) empfänglich für moralische Erziehung und trotzt mit kindlichem Wutanfall dem kriegerisch um sich greifenden Tod. Einzig der Versuch an ihm einen Bogen von der damaligen Kriegserfahrung zur heutigen und hiesigen Lebensrealität zu spannen, die Krieg stets nur als etwas sieht, das die anderen betrifft, scheitert. Allzu plötzlich steigt der Puppenjunge in ein Flugzeug, überfliegt Kriegsgebiete der Jetzt-Zeit und spuckt bezugslos und bedeutungsentleert deren Namen aus.

"Archiv [2]: KRIEG" bietet viel, vielleicht zu viel: Eine Überfülle an Material, poetische und rhythmische Texte und ein stimmlich starkes Ensemble. Doch die sortierende Archivierungsarbeit blieb aus: Was den Anspruch einer archivarischen Ordnung erhebt, bleibt eine übermotivierte Collage ohne dramaturgischen Aufbau und Spannungsbogen, höchst unelegant gebunden durch militärische Gehorsamkeitsübungen in Improvisationstheater-Manier. Kostbare Kindheitsreliquien werden zum unbeachteten Requisitenberg. Jegliche Symbolik wird zunichte gemacht, weil ihre Konstellation ständig neu angeordnet wird. Vielleicht aus Angst vor Archiv-typischer Verstaubtheit wird übereifrig getanzt und gesungen, Kabel verlegt, mit Kreide geschrieben und in Fahrradepedale getreten – ganz ohne Fortbewegung und ohne Ziel.

Blicke in die Ahnengalerie

Dabei sind vor allem jene Momente stark, die den Text unverfälscht transportieren, ohne verkrampfte spielerische Ambitionen und allseitigem und allzeitigem Beschäftigungszwang. Die nackte Nennung der Namen von ertrunkenen isländischen Flüchtlingen beispielsweise, frontal zum Publikum gesprochen. Der Bezug zu den Vorfahren der isländischen Schauspielerin Hildur Óttarsdóttir wird so hergestellt, wenn auch vielleicht nur fiktiv. Performative Elemente im Spielgeschehen schaffen einen stringenten Bezug und wirken direkt auf das Publikum, beispielsweise wenn die Regisseurin selbst auf die Bühne geholt wird, Blicke in ihre Ahnengalerie gewährt und aus der Biografie ihrer Großeltern erzählt.

Plötzlich wird der Inhalt des Kriegsarchivs offen gelegt und die Spurensuche angeleitet. Die Orientierung, die dem Publikum da geboten wird, lässt Kriegsgeschichten nicht etwa zum schubladisierten, streng beschrifteten und verstaubten Archiv werden, sondern ermöglicht den schlichten, unmittelbaren Zugang zur erhaltenen Erinnerungsfülle.

 

Archiv[2]: KRIEG
von Les Etoiles Bern
Regie, Choreographie, Projektionen, Text: Ragna Guderian, Bühne: Elisa Alessi, Nadja Schaffer, Puppen und Objektspiel: Dorothee Metz, Percussion: Gerd Bracht, Dramaturgie: Heike Dürscheid.
Mit: Nina Mariel Kohler, Sibylle Mumenthaler, Hildur Óttarsdóttir.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schlachthaus.ch

 

 

mehr nachtkritiken