Menschenmomente

von André Mumot

Berlin, 9. November 2013. Echt soll sich alles anfühlen an diesem Abend. Die Tränen zum Beispiel, die Dagmar Manzel im Friedhofswartesaal weint und sich etwas übereilt von den geröteten Wangen wischt – für den Fall, dass doch nicht genug fließen wollen. Und der Kaffee, den sich Ulrich Matthes aus dem Automaten zieht. Auf der Bühne des Deutschen Theaters steht nämlich ein echter Kaffeeautomat, in den echtes Geld reingesteckt wird und aus dem echter Kaffee kommt, den Matthes dann trinkt. Und vom Parkett aus schaut man hinauf zu diesem riesigen Heißgetränkeschrank und denkt: Kein noch so künstliches Requisit könnte requisitenhafter und weniger authentisch wirken als dieser durch und durch authentische Automat.

Es gibt auch einen Wasserspender und Stühle und eine Wand und eine Tür, und diese ganze Bühnenbildkatastrophe ist erfüllt von einem unfassbar ungeschickten, kunstlosen Schein-Realismus in Grau. Aber gut, hier soll es eben nicht ums Dekorative gehen, nicht um Bilder, überhaupt nicht ums Szenische, sondern nur um zwei Figuren und ihren Dialog.

Im hässlichsten Bühnenbild der Welt

Es ist, als habe Christian Schwochow, der für seine Fernsehadaption von Tellkamps "Turm" kürzlich mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, bei seinem Debüt als Theater-Regisseur eine möglichst große Distanz zwischen sich und die überspannt performative Welt bringen wollen, die er in seinem Film Die Unsichtbare von 2011 als klischeehaft hysterischen Kunst-Moloch porträtierte. Fein, das hat er geschafft. Das Ergebnis aber ist eine demonstrativ einfallsfreie Inszenierung, in der ihm am Ende eigentlich nur eines am Herzen zu liegen scheint: seinen beiden Zirkuspferden nichts in den Weg zu stellen, während sie zeigen, warum man sie landauf, landab so bestaunt.

gift 3865 560 arno declair hZeigen, wofür man sie landauf, landab bestaunt: Ulrich Matthes und Dagmar Manzel in "Gift".
© Arno Declair

Dabei sind sie anfangs vor allem sie selbst: Matthes, der sich in seiner weltgewandten Jovial-Autorität aalt, und Manzel, die ihm nervös und schnippisch sarkastische Pointen entgegenraunzt. Aber irgendwann, nachdem der Kaffee aus dem Automaten gezogen wurde – es dauert gar nicht lange –, erwischt man sich schließlich doch dabei, wie man ihnen zuhört. Mit Interesse. Dann: Gebannt. Ja. Es passiert nichts, sie reden nur miteinander im hässlichsten Bühnenbild der Welt. Und man möchte, dass sie nicht mehr aufhören.

Geschmierte Brote und Singen im Männerchor

Das ist nicht zuletzt das Verdienst eines bemerkenswert klugen Theaterstücks der holländischen Autorin Lot Vekemans. In "Gift" trifft sich ein geschiedenes Ehepaar nach zehn Jahren ohne Kontakt auf dem Friedhof wieder, auf dem es einst seinen verunglückten Sohn beerdigen musste. Folglich tun die beiden, was Paare auf der Bühne eben so tun: Sie machen einander Vorwürfe, sie versöhnen und streiten sich wieder und wieder, gestehen einander unangenehme Wahrheiten, wischen sich Tränen von den Wangen, prügeln sich einmal fast.

Doch der Dialog, mit dem sie von einem Konfliktpunkt zum nächsten gelangen, ist schlicht und stark, kommt ohne aufgesetztes Pathos aus und ohne aufgesetzte Pathosvermeidung. Vekemans hat ein profundes Alltagsstück über Alltagsmenschen geschrieben, die Brote schmieren und im Männerchor singen, über ihren Schmerz und ihre Strategien, mit ihm umzugehen – es ist die unaufgeregte Skizze eines Mannes, der über seine Trauer hinwegkommen möchte und dem es auch gelingt, und die einer Frau, die es nicht möchte, und der dies ebenfalls gelingt. Ein Text, der Erinnerungen und erlebte Tragödien schlicht als das nimmt, was sie sind: Menschenmomente.

Trauriges Lebensduett

Manchmal werden die Stars beim Spielen laut, zeigen, wie viel Stimme in ihren Profibrustkästen schlummert, und das Matthes-Gesicht läuft lila an vor lauter Schmerzerregung. Gar nicht nötig ist das. Höchstens, um deutlich zu machen, welch zärtliche Differenzierungsschönheit die beiden im Understatement zustande bringen, das Schwochow ihnen mit Nachdruck entlockt: Irgendwann haben sie ihn gefunden, diesen beglückenden, durchweg intelligenten Ton der völligen Selbstverständlichkeit, mit dem sie einander umspielen und belauern, einander berühren, lächeln, Strickjackenärmel hochkrempeln, Beine massieren, Käse essen, einander probeweise provozieren und auslachen, in dem sie ganz wehr- und hilflos und schauspielerisch uneitel sind. Er rechtfertigt sich, charmiert, lenkt ein. Sie stichelt, kann einfach nicht aufhören damit, verbeißt sich in ihrem Elend und sitzt dann bloß noch da, erinnert sich an die letzten Momente mit ihrem sterbenden Sohn. Ihm fällt ein, dass sie ein Lied gesungen hat, ganz leise, aber sie erinnert sich nicht mehr. Es ist sehr wenig, was tatsächlich gesagt wird, und es ist doch alles da.

Man möchte sie gar nicht stören, da oben, neben dem Kaffeeautomaten, bei ihrem traurigen Lebensduett, das dann auf denkbar wunderbare Weise zu Ende geht. Sie muss nach Hause, er noch einmal bei seiner Mutter vorbeischauen, bevor er zu seiner neuen Frau zurückkehrt. Sie werden sich wohl nicht wiedersehen, aber das ist eben so, man muss keine große Show draus machen. Tür auf, Tür zu. Doch, ja: Fühlt sich ziemlich echt an das Ende dieses Abends, der sich genau damit tatsächlich zufriedengibt. Viel zu bieten hat er nicht, das stimmt. Aber wie schön, dass es dann doch mehr als genügt.

 

Gift
von Lot Vekemans
Deutsch von Eva Pieper und Alexandra Schmiedebach
Regie: Christian Schwochow, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüm: Pauline Hüners, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Dagmar Manzel, Ulrich Matthes.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Über die Tränen des Ulrich Matthes und die Neuerkundung der Glaubwürdigkeit im Gegenwartstheater wurde schon mal ausgiebig diskutiert – anlässlich seiner Darstellung des Onkel Wanja in Jürgen Goschs Inszenierung von 2008.

 

Kritikenrundschau

Auf der Website des Deutschlandfunks schreibt Hartmut Krug (10.11.2013): Das Dialogstück sei "klug gebaut", aber in "der Vorhersehbarkeit seiner Fragen und Antworten auch ein wenig langweilig". Die Protagonisten seien weniger Figuren als "Ideenträger und Haltungsverkörperer". Mit Ulrich Matthes und Dagmar Manzel sei eine "handwerklich blitzsaubere Inszenierung" entstanden. "Fast perfekt und doch nicht gelungen". Der Text besitze nichts "Irritierenden oder Verstörendes, und die Figuren stürzten sich nicht in Abgründe, sondern in Erklärungen". Zudem hielten die Darsteller ihre Texte "uns und sich eher vom Leib, mehr noch, von Seele und Gemüt". Aber "keine Frage: Das wird ein Publikumsrenner."

Ulrich Seidler meditiert in der Berliner Zeitung (11.11.2013) über das Problem des 'echten Gefühls' im Theater. Der echte Kaffeeautomat auf der Bühne sei das Ideal, "das ein Schauspieler nie erreichen wird, auch wenn er sein Seelenleben noch so authentisch auszudrücken weiß". Trotzdem delektiere man sich an der "sicher durchgestuften Leidensdramaturgie". Und die Tränen auf der Bühne seien "selbstverständlich echter" als das Zeug, das der Automat ausspuckt. Es handele sich um "grandioses Schauspielertheater, das sich in schwierigste Gefilde wagt und keinen Augenblick an sich selbst zweifelt". Aber der "kostbare Trost, den man erfährt, weil man sieht, wie lebenswert das Leben ist, und wie bereichernd es ist, Mensch und nicht Kaffeeautomat zu sein, dieser Trost taugt nicht für den wirklichen Verlust."

Andreas Schäfer schreibt im Berliner Tagesspiegel (11.11.2013):"Gift" sei ein perfekter "Da-weiß-man-was-man-hat-Abend". Zwei Schauspieler, die alle lieben, geben in einem realistisch trostlosen Friedhofswarteraum ein "leidlich ineinander verstricktes Ex-Ehepaar". Dagmar Manzel spiele die Frau mit "einer Mischung aus Kiebigkeit und galgenhumoriger Bitternis", die dann in ein "fast drolliges Anlehnungsbedürfnis" münde. Matthes lege den Mann mit einer "brüchigen Jovialität" an. Die Anleitung von Christian Schwochow sei "eher zurückhaltend". Das Problem der Inszenierung sei, dass sie gar keines habe. Alles spiele sich auf dem "Feld des Wohltemperierten" ab. Selbst emotionale Ausschläge zeigten mehr die "beeindruckende Virtuosität der Schauspieler", als tief in den Raum des Schmerzes vorzudringen. Erfolg sei dem Abend sicher.

Tobias Becker schreibt auf Spiegel Online (11.11.2013, 9:06 Uhr): "Gift", geschrieben 2009, wirke wie eine Zeitreise in ferne Theaterjahrzehnte, "in denen das Reden noch geholfen hat", psychologischer Realismus "at it's best", ein "beachtlicher, ein großer Text". Schochow sperre die Schauspieler und mit ihnen das Stück in einen Container. Darin lasse er die Schauspieler aufeinander losgehen wie in "einer Versuchsanordnung". Von außerhalb des Containers lasse er die Zuschauer dabei zusehen "wie mit einem Kameraauge". Der Blick der Zuschauer sei dadurch eher ein distanzierter, eher kein emotional involvierter. Die beiden Schauspieler seien "herausragend", aber ihr Spiel liefere keine "intensivere ästhetische Erfahrung" als das Lesen des Textes. Es biete auch keinen "anderen, keinen neuen Blick" auf das Gelesene.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.11.2013) schreibt Irene Bazinger: "Das kunstgerechte Betroffenheitsstück ist von milder Sentimentalität nicht frei, aber es trifft einen Nerv und weiß mit seiner genauen Figurenzeichnung zu beeindrucken." Die Inszenierung folge eng den Vorgaben der Autorin und störe "– keine geringe Leistung –" die Schauspieler nicht weiter. Diese ließen die Schwere des Themas nicht vergessen, "doch sie decken die Leichtigkeit, sogar Komik des Textes auf".

"Die Königsmimen unterspielen den Text fast. Die Aufführung wäre in den benachbarten Kammerspielen besser aufgehoben, wenn die Stars dafür nicht zu groß wären", so Matthias Heine in der Welt (13.11.2013). Für Dagmar Manzel sei "Gift" ein Comeback ans Deutschen Theater, dessen Protagonistin sie war. Für das zuletzt viel kritisierte Deutsche Theater habe sich die Heimholung gelohnt, lange nicht mehr hörte man hier ein Publikum so sprungbereit Bravo schreien. "Es bleiben Zweifel, ob das Stück den Tiefgang, der hier behauptet wird, tatsächlich hat. Den Darstellern gelang es aber, 85 Minuten lang den Eindruck zu erwecken, dass dem so sei."

Gerne hätte Mounia Meiborg von der Süddeutschen Zeitung (14.11.2013) Matthes noch etwas länger "beim Nichtstun" zugesehen, aber mit dem Auftritt Manzels schrumpfe der Abend "auf komödiantisches Yasmina-Reza-Format" – was vor allem an dem Text liege, "der keine Geheimnisse birgt. Alles wird ausgebreitet, reflektiert, erklärt – meistens schon, bevor man es als Zuschauer wissen will." Die beiden gäben im Gespräch so "manche Weisheit von sich", die sie "offenbar von Susanna Tamaro" gelernt hätten. Schwochow verlasse sich "ganz auf den Text – jede Regieanweisung befolgt er minutiös – und auf seine Darsteller". Manzels Figur spreche mehrfach davon, dass sie "im Schmerz erstarrt" sei – "Spüren kann man es kaum. Zu sehr entstammt ihr Gestenrepertoire einer Boulevardkomödie." Fazit: "Abgründe? Ach wo. Wir sind ja schließlich nicht in einer griechischen Tragödie."

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