Queen Recluse - Thiemo Strutzenbergers kunstvolle Dichtung über Emily Dickinson am Schauspielhaus Wien uraufgeführt
Kein Wort so wild wie Nein
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 14. November 2013. Dass also die Bedingung der Möglichkeit von Anwesenheit die Bedingung der Unmöglichkeit von Anwesenheit ist. Dass insofern etwas stets Unmögliches in diesen Worten haust. Ja, haust. Hausen, Haus, Haut. Emily Dickinson (1830–1886) hat aus ihrem Schlafzimmer heraus Unmengen an Gedichten geschrieben. Der Mythos einer frühen Ikone der Frauenbewegung, die Erzählung eines Lebens in Unterwürfigkeit und Entzug. Die biographische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Dichterin kennt Romantisierung und Pathologisierung.
Poetische Verschleierungsspiele: Barbara Horvath und Gideon Maoz © Alexi Pelekanos
Thiemo Strutzenberger, Autor und ansonsten auch Schauspieler am Schauspielhaus Wien, öffnet in seinem Text Möglichkeiten der Rezeption des Werks von Emily Dickinson und konstruiert, der Gedankenrichtung der Lyrikerin folgend, eine Expedition in die Beschaffenheit von Raum. Dabei interessiert sich das Stück weniger für eine historische Verortung oder die konkrete Biographie der Autorin als vielmehr für Bedingungen und Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Biographie schlechthin. Die Frage nach der Identität von Dickinson wird nicht primär aus ihrem Verhältnis zu anderen Menschen entwickelt, sondern aus einem poetischen Denken von innen und außen, das sich mal im Sprechen über Häuser, mal über Häute metaphorisiert.
Die Komik wohnt in den Wortfolgen
Rhythmisch rollt der Text an großen Begriffen wie Denken und Sein, Teilnahme und Verweigerung, globale Ökonomie und privates Schlafzimmer vorbei. Dabei greift Strutzenberger nur manchmal auf das Schreiben von Dickinson zurück. Ganz oft formuliert er so fein, dass der Doppelsinn der Worte aufscheint und ein "abzublitzen" mit einem Mal herrlich obszön klingt. Die Komik wohnt in den Wortfolgen. Wenn die Frage fällt: "Welche Namen gibst du dir?", so greift die Antwort auf ein regelloses Beieinander von sich widersprechenden Begriffen zurück.
Die Inszenierung von Martin Schmiederer macht mit all dem Ernst, ein gutes Stück zu viel Ernst, um nicht zu sagen: oh so very serious. Auf der zwischen den Zuschauern platzierten Bühne steht ein Raum mit Vorhängen und Schleiern. Wo ist innen und wo außen? Die fragilen Trennschleier laden zum Spiel mit den Begrenzungen ein. Und alle tragen weiß: oh so very Totenhemd. Die Stilisierung von Barbara Horvath als Emily Dickinson im einsehbaren, kahlen Innenraum/Terrarium/Bühnenzoo bleibt hinter dem so schön uneindeutigen Text zurück. Die Schauspielerin markiert persönliche Dramatik und Leid. Und die anderen Schauspieler sekundieren diesem Pathos mit hyperventilierendem Ernst.
Zum Küssen nahe: Myriam Schröder und
Barbara Horvath © Alexi Pelekanos
Das Maskenspiel der Liebe
Das Aufeinandertreffen von Räumen und Menschen kulminiert im Stück ganz wie in der Wirklichkeit im Begehren, in der Liebe. Emily Dickinson nähert sich ihrer Nachbarin Susan Gilbert (Myriam Schröder) zum Kuss, und es passiert doch nicht. In der Forschung wurde den Frauen ein amouröses Verhältnis attestiert. Dickinson lockt Gilbert mit dem Bleistift zwischen den Lippen. Die so Umworbene hätte auch daran ersticken können und nimmt sich selbst wieder aus dem Spiel, aus der Beziehung. "Es wird ohne Rechte geschenkt." Das Verhältnis bleibt hingehaucht, fragil. Dickinsons Lust am Verlieren mündet in ihrem Schreiben in eine Lust am Ausprobieren von Identität. Sie verwandelt die Menschen ihres Lebens in diverse literarische Rollenbilder, in Ausfaltungen ihres eigenen Selbst. Eine gewisse Durchlässigkeit der Persönlichkeit äußert sich in der Inszenierung in der Besetzung der Rollen von Austin Dickinson (Emilys Bruder) und Lavinia Dickinson (Emilys Schwester) durch einen Schauspieler: Gideon Maoz.
Der Text macht aus dem Maskenspiel eine Meditation über Innen, Außen, Hausen, Haus, Haut. So beginnt das Stück denn auch mit einer Thematisierung der Auftritte, mit einer Vorstellung der Personen und Räume. Im Ganzen bemüht sich der Abend um ein Ausbuchstabieren eines Satzes von Emily Dickinson: "Weißt du nicht, dass die Sprache kein Wort so wild kennt wie nein?" Das Nein ist hier nicht wild und auch nicht provokant. Das Nein ist überlegt und zurückhaltend. Viel Applaus für den Autor.
Queen Recluse (UA)
von Thiemo Strutzenberger
Regie: Martin Schmiederer, Bühne/Kostüme: Christian Tabakoff, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Barbara Horvath, Myriam Schröder, Gideon Maoz, Steffen Höld.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.schauspielhaus.at
Von einem "leichtfüßigen Gedankenstück", einer "faszinierenden Szenenfolge", ja, einer "Art Über-Jelinek" spricht Ronald Pohl im Wiener Standard (16.11.2013). Nichts wäre einfacher, als das Los der leutscheuen Emily melodramatisch zu beklagen. Thiemo Strutzenbergers szenischer Essay jedoch legt eine tolle Volte hin. Das Stück versammele alle Hauptpersonen aus Emily Dickinsons Leben. Doch seien die Figuren niemals Gegenstand einer Theaterillusion. "Sie verkaufen keine Fabel, sondern die modernen Einsichten der Semiotik. Sie sprechen wie Menschen, die gerade ein Judith-Butler-Seminar besucht haben. Sie wälzen Gedanken zu Weiblichkeit, 'Territorialität' und Besitz. Das Bild, das wir uns von der historischen Dickinson machen, ist bestimmt von den Vorurteilen einer (männlichen bestimmten) Geschichtsschreibung." Das aus dem Abend keine "verkopfte Turnübung" wurde, ist aus Pohls Sicht aber auch den Schauspielern zu verdanken.
"Ein spannender(Frauen-)Abend", schreibt Barbara Petsch in der Wiener Presse (16.11.2013), auch wenn sie die Sprache "teilweise zu sehr an Elfriede Jelineks Wortketten- und Versprecher-Reihen" erinnert, aber auch an Peter Handke. Das einstündige Drama sei reich an Motiven, die "großartigen Schauspieler kommen bestens mit dem schwierigen Text und Strutzenbergers mitunter kompliziert verschwurbelten Gedanken zurecht."
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