Die Untergangsgesellschaft

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 15. November 2013. Für einen kurzen Moment wirkt es so, als werde hier doch an ein Wir geglaubt, also dieses völlig utopische Theater-Wir, das Bühne und Saal vereint. Im "Kirschgarten"-Text passiert gerade einer dieser Tschechow-Momente, wo jemand in den dunklen Garten guckt und Geister sieht. Bei Nurkan Erpulat ergreift es die ganze Gruppe, alle schauen versonnen ins Leere und fangen gleichzeitig an zu reden. Sie sagen Dinge wie "Meine Heimat", "meine Liebe". Das Saallicht wird ein bisschen nach oben gedimmt; fast scheint es, als sei das Publikum dazu aufgefordert, einzustimmen.

Nicht, dass das ein besonders kunstvoller Moment wäre. Trotzdem hebt er sich wohltuend ab vom Großteil dieses Abends, der daherkommt wie so ein "mission statement" eines großen Unternehmens, wo sich die Floskelmacher austoben dürfen. Wo es um "branding" geht, also darum, eine Marke zu stärken. Der "Kirschgarten" wird, nur leicht gekürzt, vom Anfang bis zum Ende durchgespielt. Bühnenbild und Kostüme sind Boulevard, einmal durch die Trashtonne gezogen. Zwei kleine Exkurse entführen in die Lebensgeschichten zweier Darsteller (ja, das sind Menschen, die auch Geschichten zu erzählen hätten, vielleicht sogar interessantere als diese bescheuerten Tschechow-Langweiler!).

kirschgarten4 560 thomasaurin uDie neue Kirschgartengesellschaft im Scheinwerferlicht © Thomas Aurin

Tschechow nennt das Stück ja eine Komödie, also wird ein Gagfeuerwerk gezündet, und wenn einer richtig gut funktioniert – wie: Anja küsst Trofimov, und der redet einfach weiter in ihren an ihm herumschnabelnden Mund hinein –, dann wird er auch mal wiederholt.

Machtwechsel statt Paradigmenwechsel

Alle Figuren bis auf Gajew (Falilou Seck) und Warja (Sesede Terziyan) bleiben Hülsen. Die Inszenierung interessiert sich auch keinen Deut für sie. Erpulats Deutung des Tschechow-Stoffs wird von Lopachin (Taner Şahintürk) zusammengefasst, nachdem er, der Emporkömmling, das Gut der Ranjewskaja bei der Zwangsversteigerung erworben hat. Da schraubt er sich in einen wütenden von Tschechow startenden, bei Deutschlands Umgang mit seinen (türkischen) Gastarbeitern landenden Monolog hinein, dessen Essenz ist: Eine Gesellschaft, die das Fremde so ausklammert wie die Familie der Ranjewskaja, eine Gesellschaft, deren Identität gestiftet wird von einem Kirschgarten, dessen Kirschen sie schon lange nicht mehr erntet, solch eine Gesellschaft wird zugrunde gehen.

Allein: Der Dialog, der vorher nicht möglich war – sie haben ihm, der versucht hat ihnen guten Rat zu geben, nicht zugehört, ihn nicht ernstgenommen – ist auch jetzt nicht möglich. Es hat kein Paradigmen-, sondern lediglich ein Machtwechsel stattgefunden. Jetzt ist Lopachin derjenige, der bestimmt über den Kirschgarten und auch darüber, welche Musik gespielt wird. Und die laute, orientalische Musik, die seine Musiker machen (vorher ist vorwiegend Chopin geklimpert worden), übertönt dann für ein paar Minuten alles, was auf der Bühne gesprochen wird.

kirschgarten5 560 thomasaurin uLopachin (Taner Şahintürk), der am Ende den Kirschgarten kauft, vor den Tapetenresten derer,
die dort vor ihm waren  © Thomas Aurin

Kuss der Vergebung

Bis dahin hatte die Deutungshoheit bei Ranjewskajas Bruder Gajew gelegen, bei Tschechow der Trottel vom Dienst. Hier wird er von einem Haufen gackernder Frauenfiguren übertrieben ernst genommen – als Chefideologe der Dekadenz schenkt Falilou Seck ihm tatsächlich eine gewisse Würde, was dann auch wieder paradox ist.

Die schönste Szene des Abends passiert gegen Ende und fällt in ihrer Innigkeit total raus. Wie Sesede Terziyan als Warja ihre letzte Chance auf einen Heiratsantrag des gefühlsverwirrten Lopachin verpasst und ihm dann einen äußerst souveränen Kuss der Vergebung aufdrückt, das ist herzzerreißend und weist ganz weit über das hinaus, was dieser Abend ansonsten ist: eine erstarrte Protestpose.

 

Der Kirschgarten
Eine Komödie von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Sinem Altan / Tobias Schwencke, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Tamer Arslan, Mareike Beykirch, Çetin İpekkaya, Marleen Lohse, Ruth Reinecke, Taner Şahintürk, Falilou Seck, Aram Tafreshian, Sesede Terziyan, Mehmet Yılmaz, Fatma Souad, Özgür Ersoy, Sinem Altan.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Mehr lesen? Hier der Bericht von der Pressekonferenz, auf der das neue Leitungsteam des Maxim Gorki Theaters um Shermin Langhoff und Jens Hillje seine Pläne präsentierte.


Kritikenrundschau

Einen "Migrantenstadl", lustiges "Boulevard mit 'postmigrantischen' Schauspielern" hat Eberhard Spreng beim "Kirschgarten" erlebt. Er schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (17.11.2013): An einer detaillierteren Figurenzeichnung habe Erpulat kein Interesse, ihm gehe es um "grelle Kulturkontraste". Erpulat habe es nicht mit "den soziokulturellen Details" sondern eher mit dem "grellkomischen Kampf der Kulturen". Die interessanteste Figur sei Lopachin, hier der aufgestiegene Vertreter eines neuen türkischen Bürgertums in einem müden Deutschland. In der Verkörperung durch Taner Þahintürk sei eine gebrochene Figur zu erkennen, die wenig Spaß am Erfolg zu haben scheint.

"Was ist das überhaupt, Heimat, Identität? Das spielt der Abend an den unterschiedlichsten inhaltlichen Fronten durch", schreibt Esther Slevogt in der taz (19.11.2013). Taner Sahintürk lege in den ungelenken Charme, den er seinem Lopachin verleiht, einmal auch die ganze Verbitterung der türkischen 'Gastarbeiter' und ihrer Nachkommen über die Missachtung, die ihnen hier zuteil geworden ist." Gleich die erste Szene könnte aus einem Traum von Thilo Sarrazin stammen, denn eine Frau in der schwarzen Ganzkörperverhüllung Hidschab ist zu sehen. "Ein kleiner, frecher Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der Deutschland-schafft-sich-selber-ab-Krakeeler?" "Doch dieses Deutschland - das ist die Botschaft von Nurkan Erpulats Lesart - gleicht dem titelgebenden Kirschgarten, der gar keine Kirschen mehr trägt, aber seinen lethargischen Bewohnern immer noch als Folie für ihre Identität dient."

"Nurkan Erpulat hat Tschechows 'Kirschgarten' als Manifest inszeniert, das nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lässt", findet Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (19.11.2013). "Alles ist zur Parabel auf eine deutsche Gegenwart zurechtgebogen, in der Deutsche mit nichtdeutschen Herkünften noch immer Bürger zweiter Klasse sind." Tschechow als Textlieferant für ein Problemstück also. Man könne diese Ebene in der vor knapp 100 Jahren uraufgeführten Komödie entdecken, allerdings nur unter Verzicht auf viele Nuancen, unter Einebnung der Vieldeutigkeit, die Tschechows Figuren mitbringen. "Die Inszenierung wirkt, als habe sie Not, sich selbst von ihrer grobschlächtigen Deutung zu überzeugen."

Vor lauter angestrengten Provokationen und demonstrativ aufgetürmten Klischees vergesse Nurkan Erpulat, was Tschechow erzählen wollte, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.11.2013). "Er kümmert sich lediglich um das, was er selbst erzählen will." Das habe wenig mit Tschechows russischer Gesellschaft zu tun. Erpulat suche sich alle möglichen und unmöglichen Assoziationspünktchen, an denen er sein politisches Mütchen kühlen könne. "Mit der Last der aufgepfropften Integrationsdebatte freilich kämpfen zumal die jungen Darsteller wie Sesede Terziyan als Warja und Marleen Lohse als Anja, die Töchter, die mehr könnten als gutmenschelnden Agitprop in der Sache ihres Regisseurs." Schließlich werde à la Aretha Franklin noch laut "Respect" eingefordert – "ohne ihn auch nur im Geringsten Anton Tschechow und seinem Stück entgegenzubringen, von den geprellten Zuschauern ganz zu schweigen."

"Die schrille 'Kirschgarten'-Inszenierung von Nurkan Erpulat fand nicht ins Spiel, sondern verharrte zwischen kabarettistisch-literarischem Liederabend, multikulturellem Medleyprogramm und ironisch übers Klischeeknie gebrochener Protestveranstaltung", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.11.2013). "Man durfte völlig unirritiert einer so trompetenhaften wie harmlosen Stadttheaterbeschlagnahmung beiwohnen." Trotz des vor Energie vibrierenden jungen Ensembles sei an diesem ersten Langhoff-Gorki-Premierenabend zu befürchten gewesen, "dass die respektable Penetranz, mit der die neue Intendantin ihrer politisch sinnvollen und überfälligen Sache erfolgreich Gehör im Betrieb und in der Politik verschafft hat, nun einfach auf die Bühne verlängert wird: als Theaterkunst im Dienst einer Sache, also als Debattenillustrationsveranstaltung."

"Um Unmündigkeit geht es, und um Heimat", schreibt Volker Corsten in der FAZ Sonntagszeitung (17.11.2013). Es werde oft gesungen, von dem Brunnen vor dem Tore oder - auf Türkisch - bei der Siegesfeier Lopachins. Alle dürfen ihre Ängste und Kränkungen einmal rauslassen (auch mal salbungsvolle Integrationssätze sagen im Stile Christian Wulffs). "Die grundsätzlich gute Laune aber darüber, dass die Welt sich dreht, Chancen bietet und jedes Ende auch einen Anfang bedeutet, die lässt sich in diesem unglaublich optimistischen 'Kirschgarten' und im Gorki von Shermin Langhoff niemand nehmen."

Von einer "mutigen Eröffnung" schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (17.11.2013). "Angriffslust und Lebensfreude will dieses Theater verkörpern – mit einem Dramatiker, dessen Figuren genau das abgeht, die herumsitzen und die Liebe und das Leben verpassen." Subtil könne man Erpulats Regie nicht nennen, es gehe direkt zur Sache. "Er hat einen Zug zum Boulevard, aber das passt zum Gorki und seiner Lage." Die Menschen dieses "Kirschgartens" seien Getriebene. "Auf der Bühne stehen eine Menge Biografien nebeneinander, westliche, östliche, nördliche, südliche. Tschechow als Weltbürgermikrokosmos." Es gebe Löcher in der Inszenierung, weil Erpulat noch mehr wolle und mächtig holze und sich nicht auf Tschechow und seine Schauspieler verlasse. Aber klar werde auf jeden Fall: "Mit diesem Ensemble werden wir noch Freude haben."

Erpulat deute die Vertreibung der bankrotten Ranjewskaja und ihrer bräsigen Familie aus dem Wohlstandsparadies in eine Aufsteigergeschichte eines Migranten um, schreibt Jenny Hoch in der Welt (19.11.2013). "Damit seine Botschaft – die Mehrheitsgesellschaft hat ausgedient – auch wirklich ankommt, umrahmt der Regisseur sie mit grellen programmatischen Einschüben." Die seien mal mehr, mal weniger gelungen.

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2013): "Selbstverliebt dröhnend, reichlich konfus und nicht weiter an Figuren, Stückvorlage oder Inhalten interessiert", führe der Hausregisseur Nurkan Erpulat eine "eitle, folkloristisch bunt aufgedonnerte 'Kirschgarten'-Variation" vor, halb schwerfällige Revue, halb Typenkabarett". Seine Inszenierung beweise vor allem, dass es keine gute Idee sei, jedes Stück zur "Postmigrantenparabel verbiegen zu wollen", und dass "Posen kein guter Ersatz für Kunst sind".

"Die Aufführung ist überstürzt, unfertig, laut: ein Schwank im Millowitsch-Rhythmus, gespielt von türkischstämmigen Deutschen. Es gibt hier keinen Sieger, es gibt aber auch kein wirkliches Opfer", schreibt Peter Kümmel im Neustart-Porträt (Gesamtfazit: ein "guter Anfang") für die Zeit (28.11.2013). Es wirke, als sei der ganze "Kirschgarten" um der zentralen Lopachin-Szene willen gemacht worden: also mit Fokus auf die Übernahme des abgewirtschafteten Guts durch den Sohn des – in Erpulats Adaption – türkischen Gemüsehändlers. Anders als in den Zeitungen und im nachtkritik.de-Forum kritisch diskutiert, liegt hier für Kümmel keine einfache Drohgeste vor. Die Kritik übersehe, "dass Lopachin in Erpulats Inszenierung nicht als Sieger, sondern als ein Aggressor in einer langen Kette von Unterdrückern erscheint: Die Ausbeutung verfeinert nur ihre Methoden und ihre Tanzmusik. Am Ende ist Lopachin ernüchtert; Investoren aus China, so erfährt man, werden sich als Nächste über das Land hermachen."

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