Betreutes Theaterwohnen

von Falk Schreiber

Hamburg, 17. November 2013. "Mein Name ist Schreiber", stelle ich mich vor, "es müsste eine Karte für mich reserviert sein." "Falk!" ruft die junge Frau hinter der Theke (Carolin Seidl), "das ist Falk!"; sie strahlt, aber etwas in ihr strahlt zu grell, sie scheint sich von Herzen zu freuen, doch als ich mein Ticket in Empfang nehme, fürchte ich mich. Wenn ich schon am Eingang mit Emotion überschüttet werde, mit Emotion, die zu viel ist, übertrieben, dann bekomme ich es mit der Angst zu tun. Und ich kenne diese Frau ja auch gar nicht. Kenne ich sie nicht?

Das "Haus Lebensbaum" ist eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Der Psychiater Dr. Marius Mittag (Sebastian Sommerfeld) hat hier sechs Familien untergebracht, die vor 20 Jahren in einem schweren Autounfall verwickelt waren, und die exakt neun Monate nach diesem Unfall jeweils ein Kind bekamen – Kinder, die alle mit schwarzer Iris geboren wurden, und die anscheinend seherisch begabt sind. Genaues weiß man nicht, die Aussagen der Kinder sind ungenau, verschwimmen in der Unschärfe diverser ausgebildeter Psychosen, massiver Alkoholmissbrauch unter den Erwachsenen tut sein übriges.

SchwarzeAugen3 560 ErichGoldmann uWie wurden sie, was sie wurden? Eins der Kinder, 20 Jahre danach mit Vater John (Arthur Köstler).
© Erich Goldmann

Zu ihrem 20. Geburtstag laden die Kinder zum Tag der offenen Tür, man besucht die Familien in ihren Wohnungen: den Lastwagenfahrer John (Arthur Köstler), dessen Viehtransporter sich auf der Autobahn querstellte. Den Bauer Gert (Johannes Köhler), der am Unglücksort erste Hilfe leistete. Corinna (Jenny Steenken), die Kellnerin aus dem Truckertreff. Nach und nach erhellen sich die Umstände des Unfalls, auch Dr. Mittag gibt Erklärungen: Die Kinder leiden am seltenen "Teiresias-Syndrom", benannt nach dem blinden Seher aus der griechischen Mythologie. Aber kann man Mittag trauen, wie er jovial plaudert und die Familien gleichzeitig in Abhängigkeit hält? Allan Sternlieb (Franz-Josef Becker) jedenfalls ist sehr zurückhaltend, als man ihn über sein Verhältnis zum Psychiater ausfragt: "Ich sag mal so: Jeder hat mal einen schlechten Tag."

Apokalyptische Reise

Das "Teiresias-Syndrom" gibt es nicht, genauso wenig wie es ein "Haus Lebensbaum" gibt. Das Gebäude ist die ehemalige Elise-Averdieck-Schule, ein leerstehender, vierstöckiger Klotz im Hamburger Osten, in dem die dänisch-österreichische Gruppe Signa ihre Performanceinstallation "Schwarze Augen, Maria" aufgebaut hat. Sie folgt dem mittlerweile aus Köln und Berlin bekannten Muster, dass eine Handlung über verschiedene Stationen eines möglichst verwinkelten Parcours erzählt wird, in dem sich das Publikum individuell die Geschichte zusammenpuzzlen darf. Vier Stunden hat man in "Schwarze Augen, Maria" Zeit, alle sechs Familien zu befragen, dann wird in die Aula gebeten, zu einem bunten Abend mit Drinks, Tanz und einem apokalyptischen Stück im Stück namens "Die große Reise".

SchwarzeAugen2 560 ErichGoldmann uÜbergriffe auf der psychischen Ebene: Patientin im "Haus Lebensbaum"  © Erich Goldmann

Bei Die Erscheinungen der Martha Rubin (2007), Signas Durchbruch in Deutschland, war das Grundthema Religion, zuletzt im März bei Club Inferno war es Gewalt, hier ist es Behinderung. Das Motiv des Prophetischen taucht immer wieder auf, genauso wie der Distanzverlust zwischen Publikum und Performern, auch wenn der Zuschauer in "Schwarze Augen, Maria" weniger körperlich angegangen wird als bislang: Übergriffe finden hier eher auf der psychischen Ebene statt.

Gruselfilm im Haus

All das passiert in einem bis ins kleinste Detail durchdachten, großartig heruntergekommenen Setting, die Darsteller sind durch die Bank atemberaubend (auch wenn es auf der moralischen Ebene nicht unproblematisch ist, dass nichtbehinderte Schauspieler Behinderte spielen, gerade weil sie das so gut machen). Und nicht zuletzt ist die Geschichte klug komponiert, sie ist spannend, sie ist bei aller Zersplitterung in sich stimmig; sie weiß um die Spezifika ihres Spielorts, wenn an mehreren Stellen der politische Skandal der privatisierten Hamburger Gesundheitsversorgung angesprochen wird. Dennoch fehlt der Aufführung ein letzter Kick, eine inhaltliche Dringlichkeit, die der radikalen Form entsprechen würde. "Ich brauche keinen Fernseher", sagt John mit Blick auf seinen Sohn, "ich habe meinen Gruselfilm im Haus". Ja, das Stück ist ein Gruselfilm, wie er kaum raffinierter sein könnte, viel mehr ist es aber nicht.

Eigentlich hätte "Schwarze Augen, Maria" im Eröffnungswochenende der Karin-Beier-Intendanz am Hamburger Schauspielhaus die installative Flanke abdecken sollen, nach Beiers eigener Inszenierung "Die Rasenden" am Freitag und vor Friederike Hellers "Nach Europa" am Sonntag. Nachdem "Die Rasenden" aber wegen eines Unfalls auf der Hauptbühne in den Januar verschoben wurde, rutschten Signa unfreiwillig in die Rolle, die zentrale Eröffnungspremiere stemmen zu müssen – eine Rolle, die "Schwarze Augen, Maria" nicht ausfüllen kann, auch nicht will. Am Ende bleibt das Bild eines abgründigen Laientheaters: "Ihr lieben Leute, habt gut acht / Was wir an Finstrem mitgebracht." Das Schauspielhaus ist eröffnet: Hamburg, nun freue dich.

 

Schwarze Augen, Maria
von Signa in Zusammenarbeit mit Sebastian Sommerfeld
Regie: Signa Köstler mit Sebastian Sommerfeld, Bühne und Kostüme: Signa Köstler mit Mona el Gammal, Mediendesign: Arthur Köstler, Sound Design: Christian Bo, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Franz-Josef Becker, Michael Behrendt, Christian Bo, Özlem Cosen, Mona el Gammal, Judith Fraune, Petra Gantner, Ana Valeria González, Martin Heise, Johannes Köhler, Arthur Köstler, Signa Köstler, Ilil Land-Boss, Siri Nase, Silvia Petrova, Max Pross, Steven Reinert, Andreas Schneiders, Carolin Seidel, Helga Sieler, Sebastian Sommerfeld, Jenny Steenken, Simon Steinhorst, Mareike Wenzel, Julia Bahn, Anne Hartung, Sophie Hussain, Tom Korn, Klara Stoyanova, Amanda Babaei Vieira, Eileen Weber, Bettina Woitt.
Dauer: 4 Stunden, keine Pause, zuzüglich mindestens 45 Minuten, "Die große Reise", open end

www.schauspielhaus.de
www.signa.dk

 

Kritikenrundschau

Signa schaffen eine Parallelrealität, deren Sog man sich in der vierstündigen Performance nicht entziehen kann, findet Alexander Kohlmann im Deutschlandradio Kultur "Fazit" (17.11.2013). "Nach drei Stunden in jenem Haus passt auch der abgeklärteste Besucher sich an, nimmt die Ärzte als Ärzte und die Bewohner als krank und verletzlich wahr." Eine beunruhigende Erfahrung sei das, "wenn die Theaterrealität wider besseres Wissen so real anmutet, dass es schwer fällt sich zu entziehen." Umso fragwürdiger sei das Bild, was Signa hier von pychiatrischen Einrichtungen und dem Leben behinderter Menschen zeichneten. "Dem jahrzehntelangen Bemühen zahlreicher Organisationen eine Entstigmatisierung seelischer und körperlicher Beeinträchtigungen zu erreichen, haben die Künstler mit der Materialisierung dieses Albtraums jedenfalls einen Bärendienst erwiesen."

Michael Laages schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (18.11.2013), der "Tag der offenen Tür" im "Haus Lebensbaum" sei ein "Ereignis der sehr besonderen Sorte". "Sintflut und Arche Noah" seien gedanklich nicht weit; das "fundamental-ökologische Menetekel vom Weltuntergang" vermenge das Signa-Team mit den "Oberflächenwirkungen psychiatrischer Versuchsanordnungen" – alle Kinder "sind extrem altklug", alle Eltern "total überfordert" und traumatisiert. "Wir sind gezwungen, diesen Berufenen und Ausgestoßenen sehr nahe zu kommen"; wer einsteige, erlebe "die Erfindung einer Art von Theater aus dem Geiste unverstellter Menschen-Kunst". Weit weniger "spektakelig und spekulativ" als zuletzt im schmerzhaft-erotischen "Club Inferno" treffe diese Signa-Fantasie "mitten ins Herz".

Als "begehbares Unterschichtenfernsehen" beschreibt es Tobias Becker auf Spiegel online (18.11.2013). Der Zuschauer, der sich darauf einlasse, verliere seine gewohnten Sinne, sehe dafür aber mehr. "Er verliert den passiven Blick auf die Dinge, aber dafür begreift er sie, in einem ganz wörtlichen Sinn. Er nimmt keine intellektuell abgehangenen Botschaften mit, wie sonst meist im Theater, sondern Erfahrungen." Frühere Signa-Produktionen unter Beiers Kölner Intendanz, etwa "Die Erscheinungen der Martha Rubin" oder "Die Hades Fraktur", seien vielleicht noch spektakulärer, noch verwirrender, noch verstörender gewesen als "Schwarze Augen, Maria". Aber das möge auch daran liegen, dass viele Besucher inzwischen Erfahrungen mit Signas Parallelwelten gesammelt haben. "Und daran, dass die neue Parallelwelt die Besucher nicht ganz so exzessiv zum Saufen einlädt wie manch frühere."

"Die Zuschauer werden Raum für Raum, Schicksal um Schicksal vereinnahmt, sollen für die Reise ans Ende der Welt angeworben werden, werden sanft zum Mitspielen gezwungen, mitinstalliert", beschreibt es Stefan Grund in der Welt (18.11.2013) und zeigt sich beeindruckt und gequält zugleich: "Dieser Abend von Theaterverrückten für Theaterverrückte ist ungeheuer anstrengend, er trägt manipulative und sadistische Züge." "Fast alle" Besucher stünden den Mitgliedern der Sekte der Apokalyptiker nach sechs Stunden "gefühlt nah".

"Die Illusion, in einer ehemaligen Hinterhofschule in Hamburg-Wandsbek unter dem Titel 'Schwarze Augen, Maria' erzeugt wird, zielt auf das gesunde Misstrauen gegenüber esoterischen und okkulten Behauptungen - und berührt zunächst sichtbar das Schamempfinden der Gäste", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (19.11.2013). Zunächst sitze man verlegen in einem pastellfarbigen Wohnzimmer, das detailliert geschmacklos eingerichtet sei. "Die Konstruktion der Geschichte hinter dem schrägen Gebaren ist extrem komplex und reizvoll, weil die okkulte Behauptung eng an soziale Realitäten und glaubwürdige Ereignisse gebunden ist." Dem dreißigköpfigen Ensemble gelinge es in der detailverliebten Kulisse, Heim- und Krankenhausatmosphäre ebenso realistisch wiederzugeben wie das proletarisch prekäre Milieu der Eltern.

Stephen King und David Lynch hätten ihre helle Freude an "Schwarze Augen, Maria", vermutet Peter Kümmel in der Zeit (21.11.2013). "Aber wozu das alles?", fragt er. "Vermutlich verkörpert Gert Millstein in aller Demut den Ehrgeiz der Künstlergruppe Signa: verzerrende Nachahmung und Verkleinerung der Welt zur Erforschung ihrer geheimen Gesetze. Ihre Besessenheit macht sie in dieser Kunst unschlagbar."

Kommentare  
Schwarze Augen, Maria, HH: weißer Raum
Weiß weiß weiß ist der raum, der sich deutsches theater nennt!
Schwarze Augen, Maria, HH: Zustimmung
"Letzter Kick", "Inhaltliche Dringlichkeit" fehlen - stimme ich zu.
Mein erster 'Signa'-Besuch eine Enttäuschung! Wo blieb das Radikale, Neue, das diese Gruppe auszumachen scheint?
Der 'bunte' Abend am Ende harmlos bis peinlich, inkl. Hütchen basteln und Kekse spucken... Manchmal wird auch Hamburg zum Dorf.
Schwarze Augen, Maria, HH: mehr Recherche
Stelle ich mir durchaus schwer vor, nach einem so langen Theaterereignis auch noch eine Nachtkritik verfassen zu müssen, aber Aussagen wie jene, daß es das "Teiresias-Syndrom" und ein Haus "Lebensbaum" nicht gäbe, sollten meineserachtens dann doch nicht ohne Mißtrauen gegen die Kritik geweckt zu haben passieren. Googeln Sie, Herr Schreiber, und suchen Sie sich eines der Häuser namens "Lebensbaum" aus, und zum "Teiresias-Syndrom" könnte man auch einwenden, daß es doch offenbar -wie Sie auch schreiben- Hausetikette ist, nicht von "Behinderung" zu sprechen und daß ein "erfundenes" (oder vielleicht neu zu entdeckendes) Syndrom zudem dem (von Ihnen benannten) moralischen Hintergrund des "Behindertspielens" gerade zu verdanken sein könnte, schiene mir Sinn zu machen, zumal es wohl in der Schwebe bleiben soll, ob Dr. Mittag hier nicht schlicht und ergreifend wie ein Sektenguru agiert. Daß Gebäude als einen vierstöckigen Klotz zu bezeichnen, ist für meine Begriffe einigermaßen lieblos, zumal es einen wirklich reizenden und herrlich halboffenen Hinterhof hat.
Naja, sollte wohl auch eher schwarze Iris heißen als schwarze Pupille, denke ich.
Im übrigen vermisse ich durchaus eine detailliertere Schilderung zu den diversen Familien. Den Truckertreff in Altenwerder gibt es übrigens. Entgegen öffentlicher Darstellungen ist dieser auch gut fußläufig zu erreichen und fein zu verbinden mit ner Dampferfahrt von Finkenwerder aus..
Schwarze Augen, Maria, HH: näheres zu den Orten
Überhaupt sind die SIGNA-Orte eine spannende Angelegenheit für sich mit gehörigem Eigenleben (der Hundsprozeß-Ort zeigte mir noch im letzten Jahr den "Wegweiser durch das Basalgericht", Eingangstürblick), wenn man sich nur die Frage stellt "Wie sind die gerade auf den Truckertreff in Altenwerder gekommen, als es darum ging, für "Schwarze Augen, Maria" (in diesem Falle) eine Exposition (Ex-Position im Wortsinne) zu erzählen, zu finden überhaupt ?" Das mit dem Dorf und Hamburg in § 2
hat dann plötzlich in anderem Kontext durchaus etwas für sich: Altenwerder war bis 1998 ein solches, ein Dorf bei Hamburg, heute betreiben die Ulitzkas die Shell-Tankstelle und den Trucker-Treff dort, verwaist steht in der Nähe noch die St. Gertrud-Kirche, ähnlich verwaist wie jene SIGNA-Spielstätten. Leider konnte ich bislang noch nicht viel über die "Elise-Averdieck-Schule" von einst herausbekommen; es müßte für ehemalige Schülerinnen und Schüler oder auch LehrerInnen dieser Schule noch einmal ganz speziell sein, die "Wiedereröffnung" dieser zu erleben, denke ich (in meiner Phantasie sehe ich schon ganze Klassentreffen dort, könnte ja jemand auf die ulkige Idee kommen, ein Ehemaligentreffen just zur SIGNA-Performance; plötzlich stünden da zwei Blöcke einander gegenüber, jene, die behaupten, dort 10 Jahre zu leben und jene, die dort möglicherweise tatsächlich 10 Jahre zur Schule gegangen sind). Die für die Performance gewählten Nachnamen (der Familien) haben zudem einen ziemlich anglo-amerikanischen Hauch, etwas von der Anmutung jüdischer Exilanten ("Sternlieb", "Millstein"); wenn das nur ins Leere läuft bei dem vorgeblichen (!) Mosaik (warum sollte sich etwas im strengen Sinne lösen lassen, noch dazu, wo andere Abende noch eine Weile lang folgen), wäre das durchaus auch ein benennbarer Kritikpunkt an der Performance. Wer sich einen Voreindruck von der Sache machen will, der kann auf besagtem Vorhof auch so seine Erfahrung machen (besonders an den Wochenendterminen (zwei Performancetermine !) , weil dann gen 17:30 Uhr die erste Gruppe geht und um 18:30 Uhr die zweite kommt), vielleicht ruft John Wager Ihnen sogar etwas zu, obschon Sie sich noch im Vorhof der Sache aufhalten:"Es regnet Laub. Mich macht das immer melancholisch."
Oder Sie bekommen mit, wie Franz Kiebuzinski früher gehen Wollende noch einmal zur Umkehr bewegen will, auf besagtem Vorhof - das Haus verlassend. Durch den Vorhof und den realen "Tatort" (Altenwerder) jedenfalls ist da Bewegung in die "SIGNA-Hermetik" gekommen, zumindestens äußerlich ist das so, ob innerlich wird sich mir zu meinem Termin dann noch zeigen. Oder Sie schauen es sich noch einmal von der gegenüberliegenden Straßenseite, der Hochschule für Bildende Künste (Wartenau 15, irgendwie ein 4-stöckiger Block, würde ich sagen), an (und möglicherweise können KünstlerInnen von dort auch einmal die Straßenseite wechseln für ihre Kunstform ...).
Wer enttäuscht war, mag diese Enttäuschung noch einmal näher charakterisieren, nicht auszuschließen, daß andere Spieler weiterforschen können, ob zB. der ominöse Wolfgang sich irgendjemandem zeigt etcpp. .
Schwarze Augen, Maria, HH: das Signa-Prinzip
Lieber Arkadij Zarthäuser,
mit der Iris statt der Pupille haben Sie natürlich recht (ich kann das von Hamburg aus nicht korrigieren, aber vielleicht wären die Kollegen so freundlich ...?). Aber: Ein Teiresias-Syndrom gibt es doch tatsächlich nicht, zumindest bringt eine Recherche nichts an den Tag, das über den Signa-Kosmos hinausweisen würde. Es stimmt, es existieren mehrere Häuser namens "Lebensbaum", in Erfurt etwa, aber eben keines an diesem Ort. Und Signa arbeiten tatsächlich mit dem konkreten Ort Elise-Averdieck-Schule und nicht etwa mit einer Ferienwohnung in Harlingersiel. Interessanter scheint mir die Frage zu sein, inwiefern der Gleichklang von "Lebensbaum" und der Nazi-Institution "Lebensborn" mit den von Ihnen angemerkten jüdisch anmutenden Namen der Familien unter einen Hut zu bringen ist. Aber das ist ja das Signa-Prinzip: Sie legen Fährten aus, und wenn man anfängt, jeder Fährte zu folgen, dann verläuft man sich ohne jede Chance. Wobei ein Verlaufen natürlich auch seinen Reiz haben kann.
Schön finde ich Ihr Bild eines Klassentreffens bei "Schwarze Augen, Maria", man könnte das sogar noch weiterspinnen, und die ehemaligen Schüler einen Ausflug nach Altenwerder machen lassen. (Den Autohof finde ich hier gar nicht einmal das spannendste Ziel, viel spannender wäre doch das aufgegebene Dorf Altenwerder, das der Hafenerweiterung Platz machen musste. Oder die unwirkliche Welt unter der aufgeständerten Autobahn.) Das hat natürlich nichts mehr mit "Schwarze Augen, Maria" zu tun, womöglich würde das das Konzept auch überfordern ... Allerdings ist das ja ein schöner Nebeneffekt: Wenn die Geschichten von Signa so weitere Geschichten generieren.

(Anm. Die Textstelle Iris/Pupillen wurde im Sinne unseres Autors geändert. Christian Rakow / Redaktion)
Schwarze Augen, Maria: Vorschlag zur Weiterentwicklung
Vielen Dank für die prompte Antwort, Herr Schreiber !
Stimmt schon, was Sie schreiben, bei SIGNA-Installationen hat sich schon so manch ein(e) BesucherIn (auch in und durch "Phantasien")
geradezu festgerannt und ist letztlich etwas halt- bzw. ratlos da
herausgekommen, weil das Ganze dann geradezu den Interneteffekt oder wilden Zappingeffekt hatte und sich kein Fokus mehr ergab.
Ich neige zwar dazu -von "Theaterverrückten für Theaterverrückte" steht in einer der obigen Kritikenspiegel-, sogar mit einer Art Rollenbiografie da ins Haus zu gehen (beispielsweise unter dem Namen Richard Kiebuzinski, der nun Verwandte sucht; tatsächlich findet sich im Internet gerade zum Namen Kiebuzinski eine Familienseite oder als ein anderer Psychologe, am Samstag hatte ich mir tatsächlich so ein Namensschild dazu angeheftet, damit man mich auf dem "Vorhof" zB. auch hätte für einen SIGNA-Spieler halten können (dazu noch eine Ehemaligenplakette einer Abhängigenerkrankungsklinik in Lübeck, auch die Ärzte trugen diese bei jenem Treffen) und den Namen Thomas Gentenbrück (aus Musils "Die Schwärmer", Nachname war nur Entwurf) gewählt), werde mein Gesicht dann aber wohl im letzten Moment für Ausdruck freiräumen.
Genau, wenn eine Sache einen Rahmen spannt, der derlei Nebenwege weckt, wie sich mit Altenwerder zu beschäftigen, das Thema könnte ja bis zur Köhlbrandwerft zurückverfolgt werden beispielsweise (Enteignung 1938, "jüdischer" Besitz), dann bin ich meist bereit, es der Qualität einer (Inszenierungs-, Installations-) Idee zuzu-
schreiben. Und der Frage, wie die SIGNAs gerade auf diesen Truckertreff gekommen sind, möchte ich schon noch nachgehen; die meisten HamburgerInnen werden den nicht kennen. Ja, das aufgegebene Dorf: ich kann jederfrau/jedermann tatsächlich nur wärmstens (schon wegen der Dimensionen, Raummaße) empfehlen, da zu Fuß hinzugehen zB. von Heimfeld/"Schwarze Berge" die lange Waltershofer Straße entlang via Moorburg (das wohl noch umkämpft ist), um Entwicklungen einmal nicht nur "intellektuell", sondern auch "körperlich" zu erfahren, bewußt.
Für derlei Erfahrungen steht auch SIGNA, allerdings muß man (siehe oben) versuchen, den Kopf irgendwie über Wasser zu halten und ein wenig "Mut zur Lücke" zu pflegen. Einer Linie intensiver zu folgen, und dafür nicht alles gesehen haben zu müssen, derlei meine ich. Das war gerade bei den "Hundsprozessen" auch ganz lustig, wenn da Leute kamen und von Räumen und Erfahrungen sprachen, denen ich mich garnicht genährt hatte. Aber das queraufgestellte Schachspiel im Büro des Jurastudenten hatte mich dann ähnlich "getriggert" wie die komische Mitropa-Kantine des Basalgerichtes. Schon am nächsten Tag sah ich Leute draußen Schach spielen und hätte mich ohne die "Hundsprozesse" gewiß nicht hinzugesellt (ich war fertig mit Schach !); daraus ist bei mir eine sehr gute Freundschaft erwachsen -soviel zu derlei "Nebeneffekten". Oder das Essen in der Kantine des Kieler Landgerichtes, auch das ging via "Hundsprozesse": eine "Verklärung des Gewöhnlichen" , wenn man so will oder ein "Nebendraußen" wie bei Peter Handke.
Finde ich ausgesprochen schön, daß Sie das noch ein wenig weitergesponnen haben, zumal ich finde, daß in der seriösen Welt des Schreibens und Redens über das Theater gerade dieses Spinnen oftmals ein wenig kurz kommt; bei SIGNA gibt es aber immer etwas zu spinnen, Sie schrieben etwas von der Wirkung der Räume auf Sie; die war auch bei den "Hundsprozessen" sehr stark.
Was das "Haus Lebensbaum" angeht, das gibt es halt in ihrem Sinne ebensowenig wie den Thomas Gentenbrück über Musil hinaus; das finde ich allerdings nicht sehr ungewöhnlich. Ich schlage vor, im Familienkreis, in einer Bäckerei, im Büro einmal offen die "Einladung zum Haus Lebensbaum" liegen zu lassen oder "öffentlich" zu lesen, schon da baut sich (schon auch wegen "Lebensborn" und "Sekte" als Assoziationen) Spannung auf. Und den Namen "Teiresias"-Syndrom finde ich gut, zumal wenn ich an die Wortschöpfung "Ödipus-Komplex" denke. Es gibt in der psychologischen Literatur zwar kein solches Syndrom, auf Teiresias wird aber zudem häufig Bezug genommen (siehe Transgender-Forschung). Mal sehen, wie es nach dem Besuch im Haus sein wird.. lg aus Kiel
Schwarze Augen, Hamburg: zum ersten Mal enttäuscht
Es war leider langweilig, weil vorhersehbar. Wiederholung der Wiederholung. Immer Randgruppen. Immer möglichst heruntergekommen. Immer mit einer guten Idee, aber ohne Stringenz in der Umsetzung. Ja, und ohne Alkohol geht anscheinend bei Signa gar nichts, denn nüchtern wie in Hamburg bemerkt man leider auch die Schwächen der Darsteller. Ich finde nicht, daß die Behinderungen sehr überzeugend gespielt waren. Eher ein wenig peinlich. Schade. Ja, Laientheater trifft es leider. Ich bin zum ersten Mal enttäuscht von Signa.
Schwarze Augen, Maria, HH: noch eine Korrektur
Korrektur § 4:

St. Gertrud ist mitnichten eine verwaiste Kirche, wie ich es in § 4
noch analog zum Dorf Altenwerder vermutete, im Gegenteil, hier wird ganz bewußt der Teil, der vom Dorf noch übrig blieb, gepflegt, und so ist das auch noch eine lebendige Kirchengemeinde mit regelmäßigen Gottesdiensten. Davon konnte ich mich heute überzeugen. Und auf einem kleinen Vorfeld der Kirche findet sich ein kleines "Wäldchen": von Lebensbäumen !
Lebens- oder Hoffnungsbäume für Hochzeitspaare, um dieses Mal genauer zu sein. Auf einem Schild vor diesem Anpflanzungs"wäldchen"
liest sich das so: "Brautpaare, die in Altenwerder heiraten, pflanzen hier Bäume der Hoffnung."
Ob SIGNA das wußte und zum Ausgang für das "Haus Lebensbaum" nahm, mag man bezweifeln, aber gerne auch mal "Truman Show" dazusagen, wenn da schon von Esoterik die Rede geht. Aber, wenn man da so durch das Hafen- und Brückenlabyrinthrevier zieht, so spazierend im Grunde, dann stellt sich schon das "Eddy-Arendt-in-den-Winnetou-Filmen-Gefühl" ein, aber mit der Fußläufigkeit vom "Truckertreff" aus ist schon das Motiv der "Großen Reise" einigermaßen getroffen und dieser Treff ein schlüssiger Konvergenzort, Spannungsort zwischen Dorf und dem Hafenungeheuer..
Schwarze Augen, Maria, HH: mit Laages und Briegleb
Für mich besteht da zunächst gar keine Frage, daß ich dieses Haus noch einmal besuchen werde (ich besuchte es am Dienstag und war eigentlich erfreut darüber, einen eher still-intensiven SIGNA-Abend
erleben zu dürfen, der gerade sehr haushälterisch umging mit jener Art von "Effekten", die der Gruppe immer verstärkter zum Vorhalt
gemacht wurden) und kann im Groben (ich will das später gerne detaillierter tun, so ich hier spüre, nicht "monologisieren" zu müssen) den Wertungen und Einschätzungen der Kritiker Laages ("mitten ins Herz") und Briegleb ("Komplexität") mich sehr gut anschließen. Die besagte (brieglebsche) Komplexität nimmt meineserachtens den "Unterschichts- und Verengungsvor- bzw. -anwürfen" entschieden an Wucht, und das "Mitten-ins-Herz" weist darüberhinaus noch auf eine spezifische darüberhinausgehende Qualität des Abends hin, er kann sehr wohl, finde ich, charakterologische Grundorientierungen der Zuschauerschaft auf interessante und lebendige Weise freilegen. Ein Indiz scheint mir auch dafür zu sein, daß Herr Kümmel hier offenbar Gert Millstein gesondert ins Feld führt, genau diese Insfeldführungen könnten zunehmend von einigem Interesse sein, leider habe ich noch nicht den ganzen Zeit-Artikel dazu gelesen. Ein anderer Besucher könnte ebensogut versuchen, das an Franz K(iebuzinski), irgendwie auch einer mit nem "Hundsprozeß", zu exemplifizieren (was mir zB. näher käme). Analog zu den "Hochzeitsbäumen" wirkt ja gerade der Spaltpilz zwischen den Geschlechtern hier, mal mehr, mal weniger schleichend, fatal; geradezu "symbolisch" sind ja auch die Blöcke und Schichtungen der Familien angelegt..
Schwarze Augen, Maria, HH: Psychopathologie des Alltagslebens
zu den Korrekturen:

Das obige Bild zeigt im übrigen das Ehepaar Wager (nicht Donni, den
wagerschen Sproß), John und Tracey-Maria (die -wie schon als Frau Leberecht in den "Hundsprozessen"- vortreffliche Anne Hartung).

Der Begriff "Korrekturen" liegt aber allemal und ganz bewußt in dieser speziellen Elise-Averdieck-Schulluft, und daß es in diesem noch jungen Thread schon von solchen wimmelt, mag die "Virulenz" des Teiresias-Syndroms nur umso eindringlicher unterstreichen.
Es ist wohl kein Zufall, daß ich nach der "Vorrecherche" am Samstag bereits unwillkürlich in meinem heimischen Bücherregal nach Freuds "Psychopathologie des Alltagslebens" griff, ein Buch, das sich zur Begleitung des Abends für meine Begriffe dann tatsächlich anbietet, zumal es vitale Gründe gibt, sogar zum "Zufall" zu neigen (siehe Brieglebs Resistenzen gegen die "Esoterik"), erst recht, wenn man so mit Franz Kiebuzinski zu schaffen hatte, der mehr "überschrieben" sein könnte mit einem Titel wie "Die Krankheit als Chance" (Thorwald Detlefsen) -interessanterweise doziert der Sohn vom anderen Ufer (der weibliche Block, so nenne ich den Einflußbereich Maria Marias)
über Hermes Trigesmistos, gewissermaßen dem Ur-Esoteriker, smaragdiner 15-Punkte-"Plan" als Stichwort)-.

Ein Rechtschreibfehler (oder freudsche Fehlleistung ??) begegnet
uns dann auch hinsichtlich des Theaterstückes in sieben Bildern,
das im Programmheft noch als "Tragikomödie" firmiert, auf der Bühne aber hält, Bella Kiebuzinski, meine ich, ein Schild in die Höhe, auf dem "Tragikkomödie" steht, und so schwingt mit diesem Stück dann schon mit, ob nicht die Schöpfung auch als Freudsche Fehlleistung Gottes infrage steht. Was impliziert denn "Tragikomödie" anhand der dort vorfindlichen Gegebenheiten ??
Spielt man als Besucher nicht tatsächlich Komödie, hier und da "positiv zu bestärken" (um gängige Therapeutensprache zu bemühen ?), obschon es gleich zu Beginn starke Zweifel an den seherischen Kompetenzen der Kinder geben müßte (!?), wenn sie den Sturm vom 28.10. schon für "den Sturm" annährend gehalten haben, obschon ihnen unser Besuch schon ins Stammbuch geschrieben stand ?!
Was ist tragikomischer als Carlo und Mutter Traub ??? Von wegen, Du quiekstest wie ein Schwein, als der Franz K. hier bei Dir war !
Wenn einen dann sowohl Franz K. als auch Corinna Traub besonders rühren im Grunde, ist es aber vorbei mit aller Distanz, soviel steht fest !! Insofern könnte der Abend aber auch ein wahrer Lackmustest für angehende Paare (siehe Hochzeits-Lebensbäume !) werden, frei nach dem Motto: "Die Corinna Traub hat Dich so gerührt, Du hattest keine Augen und Ohren mehr für mich.".
Schwarze Augen, Maria, HH: Evolution statt Schöpfung
@ Arkadij Zarthäuser: (...) Eine kurze Frage noch: Was meinen Sie jetzt mit diesem Nebensatz "ob nicht die Schöpfung auch als Freudsche Fehlleistung Gottes infrage steht". Glauben Sie an die Schöpfung? Sind Sie ein Kreationist? Oh, Mann! Für mich geht das gar nicht. Evolution ist das Thema. Und die Frage, wie die Welt enstanden ist, durch den Urknall nämlich. Vulkane bezeugen das.
Schwarze Augen, Maria, HH: sich selbst ausspucken
Liebe Inga, ich beziehe mich in § 10 auf das Stück der Kinder und nicht auf meine etwaigen religiösen bzw. weltanschaulichen Grundbefindlichkeiten. Ich bin kein Kreationist, was mich nicht hindert, Gegebenheiten ua. symbolisch zu verstehen. Gegebenheiten symbolisch zu verstehen, hat das Denken und Handeln der Menschen enorm dynamisiert und steht keineswegs im Gegensatz zur Evolution.
Aber Ihr "Evolution ist das Thema" ist eine Setzung, die Ihnen vermutlich angesichts des Erlebnisses von "Schwarze Augen, Maria"
etwas dürftig vorkommen dürfte, wenn der "Abend" -wie sagte es Peter Kümmel noch: "wieder ausspuckt". Vermutlich verdankt sich dieses "Ausspuckt" im Wortsinne dem Verlauf des Festes, Sie wüßten, was ich meine, hätten Sie den Abend schon besucht; die Pointe ist, daß die Gäste sich quasi symbolisch selbst ausspucken.
Das "Fest" hat auch eigentlich unterschwellig recht infernalischen Charakter und ist auf das Stück der Kinder keineswegs zu reduzieren. Die Spiele (wie auf Schulfesten oder Kindergeburtstagen) binden sowohl an SchülerInnen-Lebensalter an als auch bewirken sie eine öffentliche Atomisierung der Gäste einerseits bei gleichzeitig schleichender Zuspitzung der "Hauskonflikte" (siehe den Zusammenbruch Denis Sternliebs oder auch das Koma-Saufen der Frau Kiebuzinski) andererseits. Insofern stimme ich an dieser Stelle Herrn Briegleb nicht zu, wenn er von einer bloßen Wiederholung nur in einfach rund um das Stück der Kinder handelt, sogar der Versuch einer Zuordnung der verschiedenen Familien zu den einzelnen Akten erscheint mir als eine fruchtbare Möglichkeit, weiter über diese Installation nach-
zudenken. Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß Peter Kümmel noch einmal explizit auf die Namen der Familien eingegangen ist (ganz ähnlich wie ich es hier tat); bedienten wir uns der Symbolsprache jüdischer Mystik, so käme dem Verfahren der Anagramme
im übrigen eine größere Bedeutung zu. "Traub" und "Braut" teilen zum Beispiel einen Zahlenwert oder auch "Gerstein" und "Steigern",
"Millstein" und "Still - Mein", obschon sich gerade Gert Millstein vehement wehrt, wenn von der Anmutung in etwa von "Exilantennamen" die Rede geht und beharrt dann nachdrücklich und physisch sehr präsent auf das geradezu urdeutsche Wort "Mühlstein". Letztlich kommen aber weniger "Schöpfung" und "Evolution" als Grundkanon der Installation vor als vielmehr Statik und Dynamik, die Erschöpfung der Frauen und die Regression der Männer (so in etwa). Es wird nie zu lange nur "Arche Noah" gespielt (siehe Laages), sondern der Schweinelaster (als Anti-Arche-Noah) ist nie fern, und noch bei den (angeblichen) Lustlauten der Corinna Traub heißt es in Anlehnung an den Schweinelaster "Du hast gequiekt wie ein Schwein"..
Schwarze Augen, Hamburg: Mystifizierung
@ Arkadij Zarthäuser: Esoterik, Okkultismus, Zahlenmystik. Ich glaube nicht an sowas. Ebenso wenig, wie ich an den Weltuntergang glaube. Das müssen wirklich sehr seltsame Kinder sein. Und ich frage mich auch, ob dieser Abend eher zur Antipsychiatriebewegung nach Foucault hin tendiert. Oder nicht vielmehr zum Gegenteil, der verdoppelnden Mystifizierung des Kranken und Behinderten durch "die Normalen".

Und dass es hier nicht um Evolution im Sinne des Sozialdarwinismus gehen kann, ist auch klar. Mich erinnert das Ganze eher an den Romananfang "Dirac" von Dietmar Dath. Die Liebste von Paul Dirac, Nicole, "verrückt, halbautistisch, soziopathisch", bekommt darin von einer "Frau von der Küste" gesagt: "Du mußt entscheiden, wer das Leben, wie es ist, nicht mehr braucht."
Schwarze Augen, Maria, HH: mit den Augen des Lokalreporters
"...weil die okkulte Behauptung eng an soziale Realitäten und glaubwürdige Ereignisse gebunden ist", schreibt Till Briegleb.

Liebe Inga, ich kann Ihnen den Besuch im Hause "Lebensbaum" nicht schriftlich ersetzen, substituieren, aber aus eigenem Erleben diesem Briegleb-Satz nur voll und
ganz zustimmen, diesen sozialen Realitäten und glaubwürdigen Ereignissen können Sie dort Schritt um Schritt begegnen und nachspüren. Wirklich langweilig wäre es, wenn der Abend so garnichts an Fallhöhe hätte, die von Ihnen genannten Pole "Antipsychatriebewegung" bzw. "Mystifikation der Kinder" sind ernstzunehmende Gefahren, dem "Vöglein" ideologisch die Flügel zu stutzen oder mit Öl zu tränken,
und sind als beobachtbare Strömungen daher im Haus auch durchaus zu gewahren. Ich wünschte mir von einer Journalistin, einem Journalisten sehr gerne einmal etwas Anderes als eine Art "Theaterabendkritik", sprich dezidiert einen Artikel, wie sie oder er ihn schreiben (oder auch daran verzweifeln) würde, wäre die Aufgabe eine kritische Würdigung für den politischen Teil einer Zeitung oder zumindestens für den Lokalteil. "Ein zweifelhaftes Projekt", "Entrückte Kinder, gelähmte Frauen, gestreßte Männer- ein Fall für das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler oder gar mehr ??" oder auch "Mutiger Ansatz in Sachen dynamisierter Psychotherapie droht zu scheitern" oder gar "Wider Willen an das Himmlische rührend", könnten Titel lauten.
Wäre zB. auch eine Spiel-Erweiterung, wenn jetzt 10 NachtkritikerInnen dergleichen Pro- und Contraartikel fingieren könnten im Sinne der "Dynamisierung der Theaterkritik". Vielleicht sprechen wir nicht über Behinderung, Verrückte oder "Besondere" wie es das Haus selbst vorschlägt, sondern auch und nicht weniger von "Taktverschobenheit" oder gar im musilschen Sinne davon, daß nicht die Unterschiede das "Furchtbare", "Gruselige" sind, sondern die Gemeinsamkeiten.
Aber "Gruselkabinett" ist das dann dort im Haus garnicht, ich zB. ging wie der Kritiker ähnlich "beseelt" aus dem Haus und fand halt immer wieder jene Anker im Realen, die für mich den Abend gerade nicht abdriften lassen, sondern sogar so erden, daß er manchem (auch in diesen Kommentarspalten) zu geerdet daherkommt (und langweilig wird). Nein, ich sah weder Gruselkabinett noch war es langweilig für mich,
und das hatte halt -wie gesagt- gehörig mit jenen sozialen Realitäten zu schaffen. Mit Franz Kiebuzinski unterhielt ich mich über die Hamburger Krankenhausreform, und mit Dr. Mittag kann die geneigte Besucherin, der geneigte Besucher im Einzelgespräch ganz gewiß auch allerlei Fachliches erörtern, denn der Mann, der den Doktor spielt, ist gewissermaßen vom Fach (ausgebildeter Mediziner), und es ist kein Fake, wenn er bei der Eröffnungsrede Kolleginnen und Kollegen der psychologischen Zunft gesondert zum Einzelfachgespräch animiert (Sebastian Sommerfeld hat im übrigen zum Thema "Depression" bereits in Leipzig und Berlin gearbeitet, siehe "PinkFreud"). Gewissermaßen ist das zB. bei Gert Millstein ebenso,
denn auch der "Darsteller" Gert Millsteins ist von der Zunft: der Bühnenbildner. Und so baut er halt im Modell den Unfall-Hergang nach, immer und immer wieder.
Werte Inga, wenn Sie nach einer Stoßrichtung des Abends suchen, so werden Sie eher fündig bei einem Verein wie "Irre menschlich", der seinen Ausgang bei einem Tag der offenen Tür (!) der psychatrischen Abteilung der UKE (Eppendorf) hat; dieser Verein ist kaum älter als das (fiktive) "Haus Lebensbaum". In seiner Vita gibt der (fiktive) Dr. Mittag dann auch das UKE (Eppendorf) an. Es wird sehr gekonnt meineserachtens mit diesen konkreten Außenorten gespielt (siehe das "Geizhaus" der millsteinschen "Herrenabende"). Das Publikum sollte sich halt auch nicht zu leicht vor der Frage ad se ipsum herumdrücken, ob es jemals auf die Idee verfiele, von sich aus so einen realen Tag der offenen Tür einer "Psychatrie" beispielsweise zu besuchen oder auch nur einen Ort des sogenannten "Lebendigen Adventskalenders". Es hat wohl mit selektiver Wahrnehmung zu schaffen, daß ich diesen "Sternliebaufkleber" jetzt überall sehe. Familien laden da mitunter zu Plätzchen und Kaffee und zum Adventssingen für eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde, Familien (!) und zumeist gen 18:30 Uhr. Keine Angst also Inga, es bleibt real und geerdet genug..
Schwarze Augen, HH: warum diskutieren Sie nicht?
Liebe TheaterbesucherInnen und Theaterbesucher dieser Installation !
Ich bin an dieser Stelle wirklich und wahrhaftig ratlos, daß hier an dieser Stelle so ganz und garnicht über Erfahrungen und Erlebnisse mit bzw. in dieser "Sache" ihrerseits geschrieben wird, gerade die Performances mit Sturmbegleitung müßten zum Beispiel ganz eigen gewesen sein, oder täusche ich mich ? Zur Anregung verweise ich gerne auf die sehr liebevolle Kritik des Abends auf der Seite "Hamburger Feuilleton", geschrieben von Natalie Fingerhut am 2.12.2013; hier findet sich ua. der schöne Absatz:
"Sie meinen, das mache keinen Sinn ? Woher wollen Sie das wissen ? Vielleicht macht ja auch ein Leben ohne das Haus Lebensbaum keinen Sinn."
Ich will dabei nicht unterschlagen, daß sie auch schreibt, daß "man" das selbst erleben müsse "Es darf an dieser Stelle nicht mehr verraten werden."
Muß ich also tatsächlich annehmen, daß "man" sich hier ausschweigt, um nichts zu verraten oder aber die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen vor unliebsamen Berührungen von außen zu schützen: aber ach, auch das wäre doch ein herrliches Thema, so ein Schutzbedürfnis ! Also ehrlich, ich bin wirklich ratlos ob der Reaktionen hier. Möglicherweise muß also das Ende am 26.1.2014 abgewartet werden, denn dann gibt es ja wohl nichts mehr zu verraten. Ein kostenloses Publikumsnachgespräch findet dann in der Elise-Averdieck-Schule am 27.1.2014 um 18:30 Uhr statt..
Schwarze Augen, HH: Was wäre wenn?
Oder noch so eine Frage, die sich auf letzte Installationstage bezieht: Was, wenn es am letzten Tage auch zu Lösungen kommt, das heißt zB. plötzlich die diversen apathischen Frauen aus ihrer "Apathie" geweckt werden durch ein gesungenes "Ave Maria" oder so; der Corinna Traub würde ich ja gerne des "Baches Wiegenlied" vorsingen zusammen mit Carlo. Oder das Fest am Ende: Ein Fest für Boris ?? Schubert und Bernhard, da sind sie wieder, Freitag der 13., etwas für Wassermänner..
Schwarze Augen, HH: nicht verbalisieren
Nur mal so als These, lieber Arkadij Zarthäuser: Vielleicht wollen die Besucher gar nicht unbedingt ihre Meinung kund tun? Vielleicht waren sie einfach nur begeistert, berührt, gelangweilt von der Installation und wollen diese Empfindung nicht unbedingt verbalisieren, vielleicht ließ sie der Abend kalt, und es gibt nichts zu sagen? Diskussion ist was schönes, sicher, aber erzwingen sollte man sie nicht.
Schwarze Augen, HH: lebhafte Reaktionen, toter Thread
@ Falk Schreiber

Vielen Dank, Herr Schreiber, eine Diskussion zu erzwingen liegt mir fern, nicht nur weil ich das eh nicht könnte. Ich selbst habe "Diskussion" hier auch garnicht explizit
geschrieben, das "verdichtet" die Überschrift. Kundgetan haben wollte ich im Kern zweierlei, nämlich zum einen meine besagte Verwunderung (denn zu anderen SIGNA-Arbeiten wurde sehr wohl so mancherlei verbalisiert und auch ua. diskutiert, zu den "Hundsprozessen" gab es ihrerzeit ja sogar eine eigene Kunstaktion wiederum dazu
oder daraufhin -Galerie und Titorelli-), im Gegensatz zu den lebhaften Reaktionen von Zuschauergruppen (ich habe das beobachtet) nach der Performance in diesem Thread ziemlich wenig zu lesen, zum anderen schlichtweg, daß mich derlei Weiterführungen tatsächlich brennend interessieren (und da ich dies in einer Kommentarspalte schreibe, trifft das im Falle eines Falles eh nur das Auge jener Leserin und jenes Lesers, der sich auf Kommentare überhaupt einläßt und sich zu derartigen Verbalisierungen ganz ohne meinen Zwang in eine gewisse Nähe begeben hat). An "meinem" Abend waren zB. tatsächlich StudentInnen von der Kunsthochschule gegenüber anwesend, eine Frau, die dort zur Schule gegangen ist und ein Herr, der, wenn ich mich recht erinnere, in dieser Schule selbst Bühnenbild
studiert hat, denn diese Funktion hatte diese Schule auch einmal inne: an ihr wurde gewissermaßen einst "Verwandlung" gelehrt, auf daß sie nun selbst Verwandlung erfuhr. Das sind eben auch nicht nur Diskussionen, die mir am Herz liegen, sondern tatsächlich auch Geschichten..
Schwarze Augen, HH: mystisch-magische Qualität
Ich muss Herrn Schreibers These bestätigen. Ich war selbst unglaublich berührt von dem Erlebnis, und ich habe auch Ihre Ausführungen, Herr Zarthäuser, sehr gerne gelesen. Diskussionen sind grundsätzlich auch immer wünschenswert, aber im Falle des Hauses Lebensbaum erschiene es mir tatsächlich schade, ja fast zerstörerisch, über Details zu sprechen oder mich darüber auszutauschen, was an "Ihrem" und "meinem" Abend unterschiedlich war und im welchem Status die Geschichte gerade hält. Das hätte etwas grausam Desillusionierendes. Selten hat Theater wirklich noch eine geradezu mystisch-magische Qualität, und ich bin von mir selbst überrascht, dass mir in diesem Falle daran liegt, mir diese zu bewahren.
Schwarze Augen..., HH: leben so wie wie in "Des Baches Wiegenlied" gestorben wird
Ja, Sie sagen es : "Mystisch-magische Qualität" !
So ging es mir zB. mit Beethoven bei der "Apassionata", daß da ETWAS ist, das ich liebe und/oder das ich sogar irgendwie leben möchte, erst kürzlich schrieb ich wieder den Satz, daß ich so leben möchte wie in "Des Baches Wiegenlied" gestorben wird, und plötzlich läßt
Beethoven den polternden Gorilla los, ich denke nur, daß es sich lohnt, auch (!) diese Desillusionierungen zu riskieren, schon weil ich davon überzeugt bin, im Kern dem "Mystisch-Magischen" hier nichts anhaben zu können. Natürlich möchte ich (mir) so ein "Gorilla" nicht sein, und tatsächlich schweige ich ganz ähnlich wie die meisten Anderen zu dem Allermeisten, was ich dort erlebte, kommentieren suggeriert fälschlich, daß von mir nicht auch und oft und beharrlich geschwiegen wird; aber : ich möchte schon auch sagen, daß dieses Kunstwerk mich ermutigt hat, mich zu äußern, ja sogar das Bedürfnis geweckt, in meinem Rahmen etwas von dem "zurückzugeben", was mir zuteil wurde..
Schwarze Augen, Maria, Hamburg: Erfahrungsaustausch
Finde es spannend die Erfahrungen anderer zu lesen, aber mir ist es ehrlich gesagt zu müßig, meine Erlebnisse hier alle aufzuschreiben. Aber am 27.1. gibt es ein Publikumsgespräch http://www.schauspielhaus.de/de_DE/kalender/schwarze_augen_maria_publikumsgespraech.12063850
Schwarze Augen, Hamburg: Publikumserfolg
§ 21

Richtig, und dieses gestrige Publikumsgespräch, das sehr liebevoll sich mit dem Nachspann fast noch einmal selbst als halbe Installationsweile anfühlte (als ein erdender Abschied auch) und erst gen 22 Uhr endete im Grunde, hat sehr deutlich gezeigt, wie sehr zB. ein Franz Wille auf dem Holzweg ist, wenn er in etwa feixende SIGNAS sich vorstellt, die sich darüber beömmeln, wie ihnen wieder die Leute auf den Leim gegangen sind ! Was den Kritiken weitestgehend nicht zu entnehmen ist, welch ein Publikumserfolg (!) diese Installation (aus den mannigfaltigsten Gründen) in Hamburg ist. Der Saal in der Elise-Averdieck-Schule war zu dieser Nachbesprechung voll ! Und so viel wurde verraten: Für SIGNA geht es jetzt erst einmal für zwei weitere Installationen in Kopenhagen weiter, aber sie kommen wieder nach Hamburg..
Schwarze Augen, Hamburg: kein Dorf
Altenwerder ist kein "Dorf bei Hamburg", sondern ein geographisch etwas isolierter Stadtteil mit vormals dörflichem Charakter, der in ein Containerterminal verwandelt wurde. http://de.wikipedia.org/wiki/Hamburg-Altenwerder
Schwarze Augen, Hamburg: in Kopenhagen
Bei der damaligen Ausklangsveranstaltung hatte SIGNA bereits angekündigt, daß die nächste Produktion in Kopenhagen stattfinden soll. Auf der Seite "Republique dk." sind dazu die Daten abfragbar bzw. Karten zu bestellen für den neuen Abend "Ventestedet"
(Wartehalle) , der am 24.10.2014 startet und noch Termine bis Mitte Dezember bereithält. Auch die Elise-Averdieck-Schule ist nicht verwaist geblieben im übrigen, sondern dort sind einige rührige Künstler, Designer, Musiker etcpp. seit dem 1. Mai eingezogen und beleben das Haus (zunächst für 2 Jahre wohl) neu. Am 20./21.6.2014 soll es dort ein Sommerfest geben mit allerlei Aktionen, eine gute Gelegenheit für "Ehemalige" sich wiederzusehen ..
Schwarze Augen, Hamburg: Andenken
Lieber Arkadij, zart die Häuser deiner Analysen, in deren Fluren ich herumstehe, in deren Wohnzimmern ich mich auf Sofas sinken lasse, aus denen der Staub längst vergessener Erinnerungen aufsteigt, und ich möchte dir danken dafür; fünf Jahre nach einem Stück, das viel gemacht hat mit mir.
Deine Assoziationen werden den verwinkelten Fiktionen gerecht, denen man als Publikum kaum je zur Gänze auf die Spur kommen kann...
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