An den Festungsgittern Europas

von Tim Schomacker

Hamburg, 17. November 2013. Irgendwann wird Bettina Stucky die Bank aus vier verschraubten grauen Plastikschalensitzen lautstark über die Bühne zerren. Sie wird sich in eine Ecke kauern, die Bank über sich kippen. Dann ist sie in einem Zelt in einer namenlosen Wüstenstadt. Dann ist sie Khady Demba, die vollkommen entkräftet das Zelt lange Zeit nicht verlassen kann. Dann ist Bettina Stucky mittendrin in einem Abend, der – die dritte Episode aus dem Roman "Drei starke Frauen" der französischen Bestsellerautorin Marie NDiaye adaptierend – der leidvollen Lebensbeschreibung von Flüchtlingen auf bemerkenswerte Weise Poetisches abringt. Bemerkenswert vor allem, weil "Nach Europa" (im Titel wohl nicht zufällig an die müde Metropolensehnsucht der drei Tschechow-Schwestern angelehnt) es schafft, jegliche Tränenzieherei (vulgo: Kitsch) zu vermeiden.

Auf der Flucht in die Brave Old World

Nicht eben leicht angesichts der Geschichte, die hier erzählt wird. Khady Demba wartete als junge Frau ebenso verbissen wie vergebens darauf, schwanger zu sein. Nach dem Tod ihres Mannes, von dem es heißt, er hätte "niemals protestiert gegen die alles beherrschende Gegenwart dieser Schwangerschaft, die nicht kam", zieht Khady zu ihrer Schwiegerfamilie, die ihr irgendwann sehr bestimmt den Abschied nahelegt. Ihr bisschen Geld gibt Khady einem Schlepper, der sie Richtung Grenze bringt.

Im Flüchtlingsboot lernt sie Lamine kennen. Beide fliehen auf dem Landweg weiter – stets das wie in einer Jahrmarktsbeleuchtung aus den Bauhausateliers stahlende "EU"-Zeichen und also die Brave Old World im Blick. Sie werden von Soldaten geschunden, von Schleppern verraten, und Khady muss eine sehr lange Weile – die sie, "wenn ich später an diese Periode zurückdenken würde (...), auf ein Jahr abrunden" würde – als Prostituierte arbeiten. Nur um schließlich doch nicht in die scheinbar so gelobte Weltgegend zu gelangen.

NachEuropa1 560 MatthiasHorn hMit den Zugvögeln nach Europa: Bettina Stucky und Matthias Bundschuh © Matthias Horn

Friederike Heller verlagert diese Lebensbeschreibung in einen abstrakten Erzählraum. Hier ist alles Erlebte nur in der Nach-Erzählung existent. Die Bank aus vier verschraubten grauen Plastikschalensitzen bleibt – als universelles Transitraum-Symbol – nahezu das einzige Requisit. Links und rechts die charakteristischen Betonwände des Malersaals, dahinter eine raumhohe (und irgendwie luftdicht wirkende) Wand aus 36 ebenmäßigen Plexiglasrechtecken. Die Wand erweist sich später als großes Tor, das für Khady freilich verschlossen bleibt.

Die Entdeckung des Ich

Mit Bettina Stucky und Matthias Bundschuh hat Heller ein Duo, mit dem sie NDiayes Text schillern lassen kann zwischen der ersten und der dritten Person. Beide Akteure bleiben in einer Art Halbdistanz zu dem, was sie da erzählen. Selten nur tritt Stucky für Momente näher heran an ihre Figur. Etwa wenn sie über die Bühne stampft und wütet, weil Lamine mit ihrem Geld verschwunden ist.

Meist sind es distanziert-abstrahierte Gesten, die den Text tragen – der in seiner herzlichen Härte beinahe wie die Hörspielproduktion eines Jelinek-Monologs ("Jackie") daherkommt. Etwa wenn Stucky schlaff gegen die Wand gelehnt sitzt und sich wieder und wieder mit der flachen Hand auf den Schenkel schlägt. Ein karges wie körperliches Accelerando, das ebenso von der unter Hunderten von Freierkörpern paralysierten Khady erzählt wie es vom Versuch berichtet, diverse Wundschmerzen auszugrenzen. Mindestens ebenso wie dieses "Europa" ist das (dort qua Individualitätsdenken und Menschenrecht ja grundlegende) "Ich" das Ziel dieser Reise, die auch Züge einer Coming-of-Age-Geschichte trägt. Auch wenn Kahdy eigentlich längst erwachsen ist.

Redliche Reisende

Bundschuhs Halbfiguren – er deutet einen Beamten des europäischen Grenzregimes an, einen zugleich skrupellosen wie sentimentalen Schlepper, oder auch Khadys Fluchtpartner Lamine – bilden zusammengenommen so etwas wie "die Erzählstimme", in die Stuckys Kahdy immer wieder hineinragt. Gelegentlich in afrophonem Französisch, meistens in einem schönen, manchmal knapp am Prätentiösen entlang schrammenden Kunst-Deutsch ("Ich kann jetzt denken, dass jedes Ding einen Namen hat und ich diese Namen nicht kenne").

Der nur gelegentlich schroffe, meist aber samtige Sound der Bühnenmusik von Kante-Sänger Peter Thiessen (vormals Blumfeld) wirft Khadys Geschichte ebenso auf uns zurück wie ein Imagefilm der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der "redliche Reisende" von "unredlichen" unterscheiden zu können glaubt, und der zu Beginn klein auf die riesige Plexiglaswand projiziert worden war. Denn diese Produktion schaut – wie wir Zuschauenden auch – ja über die hochtechnologischen Zinnen der Festung Europa nach draußen. Und eben nicht umgekehrt.

Folgerichtig das Schlussbild: Nachdem Stucky von den verzweifelten (und in Khadys Fall gescheiterten) Versuchen berichtet, mit selbstgebastelten Leitern Grenzzäune zu überrennen, sieht man Bilder von Überwachungskameras, die genau das zeigen. Heller lässt uns nicht vergessen, dass unser Blick jener der Überwachungskameras ist – und nicht (bei aller Empathie) jener der Migranten, die gegen das Grenzregime anrennen.


Nach Europa
nach dem Roman "Drei starke Frauen" von Marie NDiaye
in einer Fassung von Friederike Heller
Regie: Friederike Heller, Bühne, Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Peter Thiessen, Licht: Andreas Juchheim, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Matthias Bundschuh, Bettina Stucky, Peter Thiessen.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Mehr zu den Arbeiten von Friederike Heller finden Sie im nachtkritik.de-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

 

"Ein berührender Abend ist das, dessen Einzelschicksal-Erzählung vor allem durch die Bilder einer Überwachungskamera von unserer gemeinsamen EU-Außengrenze beglaubigt wird", meint Alexander Kohlmann im Deutschlandradio Kultur "Fazit" (17.11.2013). "Wenn man dort die Flüchtlingsmassen sieht, die über Stacheldraht und meterhohe Zäune steigen, teilweise abstürzen und liegenbleiben, kann das Theater hier nur als eine weitere Aufforderung zum längst überfälligen Handeln begriffen werden."  

Michael Laages schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (18.11.2013), Hellers Inszenierung nutze den "erzählend-poetischen Ton", "wirklich dramatisch" und zum Stück aber entwickele sich der Text nicht. "Dass die (im Roman!) zarte zerbrechliche (und natürlich dunkelhäutige!) Khady hier auf der Bühne von der sehr kräftigen und sehr hellen Bettina Stucky gespielt wird", dass also "im Spiel Distanz und Fremdheit demonstrativ gespiegelt werden", markiere noch den "klügsten Gedanken dieser ansonsten überschaubaren Arbeit".

Nicht einmal die Regisseurin selbst behaupte, dass sich dieser Roman sonderlich für die Bühne eigne, schreibt Volker Corsten in der FAZ (19.11.2013). "Wer sind sie, die wir davonabhalten wollen, die lebensgefährliche Reise zu uns anzutreten?", heiße es in einem Ankündigungstext zu "Nach Europa“. Und: "Ist es uns möglich, ihre Perspektive einzunehmen?" Der Perspektivwechsel werde hier zwar versucht, so Corsten, allein schon durch die Besetzung. Bettina Stucky ist eine Wucht, aber natürlich das Gegenteil einer "hochgewachsenen, zierlichen schwarzen Frau", als die Khady Demba sich vorstellt. Und der stets so protestantisch daherkommende Matthias Bundschuh ist natürlich auch kein Afrikaner. "Aber an den beiden famosen Schauspielern liegt es nicht, dass nach achtzig Minuten die Antwort auf die Frage, ob es uns möglich ist, ihre Perspektive einzunehmen, nur lauten kann: nein, ist es nicht."

"Das Stück in der Regie von Friederike Heller ist ein kritischer Beitrag zur Debatte über den Umgang der EU mit Flüchtlingen", sagt Klaus Irler in der taz Nord (19.11.2013). "Immer wieder fallen die Schauspieler aus ihrer Rolle und sprechen das Publikum direkt an. Dazu gibt es Filmeinspielungen, die Politiker beim Unterzeichnen von Verträgen und Flüchtlinge beim Klettern über einen Grenzzaun zeigen." Fazit: Das Stück verfehle seine Wirkung nicht, ist aber in seiner künstlerischen Form uninteressant. "Gedacht war es als Ergänzung zur Eröffnungspremiere 'Die Rasenden'. Darüber, was die Intendanz von Beier mit sich bringen könnte, sagt es nichts aus."

 

 

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