Dementia, Or The Day Of My Great Happiness - In München porträtiert Kornél Mundruczó eine Gesellschaft in kollektiver Amnesie
Suizidales Weihnachtsmärchen
von Cornelia Fiedler
München, 20. November 2013. Tag der offenen Tür in der "Geschlossenen": In pinkes Licht getaucht wiegt sich der siebenköpfige Demenz-Chor im Walzertakt und singt "Wiener Blut". Kurz vor Weihnachten werden hier Spenden gesammelt, für die völlig marode Station. Sie ist die letzte ihrer Art, der Rest der berühmten psychiatrischen Klinik ist bereits geschlossen und verfällt. Der einzige Besucher, der herausfordernd mit einem dicken Scheck winkt, stellt sich als neuer Eigentümer der Immobilie heraus. Dessen Plänen fürs schnelle Geld stehen jetzt nur noch zwei Patientinnen, drei Patienten, ein Arzt und eine Krankenschwester im Weg. Ein bitteres Weihnachtsmärchen zwischen Operette und Splatter nimmt seine Lauf.
Mehr Demenz in der Kultur
Dass "Dementia, Or The Day Of My Great Happiness" Analogien zum Rechtsruck und der massiven Einschränkung der Kunstfreiheit in Ungarn unter der Regierung Orbán aufzeigen will, daran lässt der Budapester Autor, Filmemacher und Regisseur Kornél Mundruczó keinen Zweifel: Roland Rába als medikamentenabhängiger Psychiater erklärt zu Beginn euphorisch, bei Demenz werde "das Hirn vom Nichts gefressen – so wie in Ungarn: keine Vergangenheit, keine Zukunft".
Dementia, Or The Day Of My Great Happiness © Produktion
Später wird eine Patientin, die frühere Operndiva Mercédes (Lili Monori), mit einem Blick, in dem Wissen und Leere miteinander kämpfen, an der Rampe stehen und mehr Demenz in der Kultur fordern: "Film und Theater schaden nur", gut seien nur "demente Filme mit einfacher Handlung und ganz leisen Dialogen".Der Hintergrund: Seit einer Verfassungsänderung Anfang des Jahres entscheidet in Ungarn eine Künstlerische Akademie über die Vergabe von Geldern. Künstlerinnen und Künstler, die deren nationalkonservativen Kurs nicht teilen, können kaum mehr arbeiten, ein antidemokratischer Kahlschlag im Kulturbereich findet statt. Produktionen wie diese von Mundruczós Proton Theatre sind daher nur noch mit einer langen Liste internationaler Koproduzenten möglich, darunter das Münchner Spielart-Festival, das nun die Erstaufführung in Deutschland (Ungarisch mit deutschen Übertiteln) präsentiert.
Bittere Psychiatrie-Satire
Elemente für eine schlagkräftige Gesellschaftssatire, für einen dieser flirrend leichten und gleichzeitig knallharten Mundruczó-Abende, sind viele da: Der entlarvende Blick auf psychiatrische Praktiken à la Einer flog übers Kuckucksnest, Klinik-Slapstick unter sinnfreiem Effizienzdruck, bizarrer Hospitalismus bei Arzt und Pflegerin, ein marthalerisch-absurder Kühlschrank, aus dem beim Öffnen Klassik dröhnt und dazu der kritische Subtext.
Dementia, Or The Day Of My Great Happiness © Produktion Die Story schnurrt allerdings recht erwartbar dahin und bleibt aufgesetzt deutlich, was das Politische betrifft: Der diabolisch Investor (Ervin Nagy) ködert Krankenschwester Dóra mit der Aussicht auf so etwas wie Liebe und einen Job in einer schmierigen Nackt-TV-Show. Den Arzt gewinnt er mit einer neuen Stelle in der Schweiz. Und so wird in dem zweigeschossigen, hyperrealistisch abgeblätterten Klinikraum (Bühne Márton Ágh) auf den Tod der störenden Kranken und Alten hingearbeitet. Das erfordert einige List, denn die Patienten müssen für gesund erklärt werden, um sie dann ihrem Schicksal überlassen zu können.
Blut aus der Wand
In Großaufnahme auf den vorübergehend geschlossenen Vorhang projiziert ist zu sehen, wie einer nach dem anderen absurden Tests unterzogen und zur Unterschrift unter die eigene Entlassung gezwungen wird. Lukács, vor der Erkrankung Computerspezialist, liest das Dokument Wort für Wort laut vor und versteht sichtlich, was hier geschieht. Doch als er versucht, das zu formulieren, kommen die neuronalen Querschläger dazwischen. Gergely Bánki spielt diesen Kampf mit den widerspenstigen Worten zum Heulen gut: aus unbootmäßig wird Boot, aus Boot wird Balaton und schon ist er wieder gefangen in der ewigen Schleife seiner Lieblingsgeschichte, der von der Segelregatta am Plattensee.
Die Frage Bleiben oder Gehen, sprich Kämpfen oder Aufgeben, wenden und zerren die Insassen und das ambivalente Personal noch mehrfach hin und her. Nur der böse Investor bleibt durchweg böse. Zur Einscheidungshilfe läuft auch mal Blut aus der Wand, eine Zunge wird abgebissen und wieder angenäht, man betet, singt Weihnachtslieder, prügelt, wirft Pillen ein und schreit. Das Happy End fällt trotzdem aus. Unterm Weihnachtsbaum finden alle eine stabile Plastiktüte für den kollektiven Suizid. Gezwungen, dem Ersticken im Wunderkerzenschein zuzusehen, kann man darüber nachdenken, ob die irritierend pamphlethafte Deutlichkeit der Inszenierung daher rührt, dass der ungarischen Theaterszene in ihrer verzweifelten Lage einfach keine Zeit und Muße mehr bleibt, für dezente Andeutungen.
Dementia, Or The Day Of My Great Happiness
von Kornél Mundruczó, Proton Theatre
Regie: Kornél Mundruczó, Bühne und Kostüme: Márton Ágh, Dramaturgie: Viktória Petrányi, Gábor Thury, Musik: János Szemenyei, Licht: András Éltetö.
Mit: Ervin Nagy, Roland Rába, Kata Wéber, Lili Monori, Balázs Temesvári, Orsi Tóth, Gergely Bánki, László Katona.
Dauer: 2 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.spielart.org
www.protoncinema.hu
Der Abend sei "eine böse grelle Farce, ein wohltuende, fabulierende Unverschämtheit, eine Parabel in fabelhaftem Setting", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (22.11.2013). Er zeige "abenteuerliche ungarische Theatergestalten, die mit Inbrunst und viel Körpereinsatz Blödsinn mit Schmerz, Albernheit mit Pathos mischen" und am Ende "einem echten Horrorende" entgegenpoltere.
Mundruczós "Dementia" (…) sei herrlich wild, böse und mit vielen schrägen Handlungs- und Bildideen einer der unterhaltsamsten Abende im bislang eher spröden Programm des Spielart-Festivals, findet Sabine Leucht in der taz (26.11.2013). Andererseits aber verlaufe sich die Sozialfarce (…) gegen Ende gnadenlos. "Dass der Abend eine Parabel auf die ungarischen Verhältnisse ist, ist schnell klar." Das blutige Schauermärchen, zu dem der unfertig wirkende Schluss mutiere, verspiele den guten Eindruck, den zuvor vor allem Ervin Nagy als fabelhaftes Ekel Bartonek und Annámarie Lang als durchgeknallte Pflegerin gemacht hätten. "Dieser auftrumpfende Operettentenor und diese eigenartig isolierten Becken- und Brustmuskelbewegungen von Nagy sind so widerwärtig wie sexy. Und die tiefenentspannte Nacktheit Langs ist schlicht phänomenal." Doch - und das gelte auch für das Festival selbst: "Weniger wäre mehr gewesen."
Anlässlich des Gastspiels der Produktion auf der Wiesbadener Biennale "Neue Stücke aus Europa" schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (27.6.2014), man fühle sich an diesem Abend "immer wieder wie in einem grellen Film". Es sei ein "sagenhaft frecher und trostloser Beitrag".
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Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2014/03/14/willkommen-im-nichts/