Diese ollen Gespenster!

von Wolfgang Behrens

Berlin, 23. November 2013."Mach's leicht", soll Heiner Müller – damals ein fast schon toter Mann – zu Leander Haußmann gesagt haben, als er diesem sein letztes Stück "Germania 3" zur Uraufführung überließ. Es hätte dieses Rates wohl kaum bedurft, denn Leander Haußmann hat eigentlich immer alles leicht gemacht. Nicht, dass er partout die großen Gesten und das schwere Theatergeschütz gemieden hätte. Von intellektuellen Überbauten jedoch, von der schier zentnerschweren Last der Rezeptionsgeschichte der kanonischen Stücke hat er sich nie erdrücken lassen, sondern stattdessen mit der großen Maschine Theater lustvoll losgelegt, als spiele er mit einer Modelleisenbahn. Deswegen donnert, blitzt und windet es in Haußmanns Theater zwar viel, aber es sind immer Donner, Blitze und Winde, die ihren Effekt bereitwillig herzeigen: Ist es nicht ein wunderbares Spielzeug, das Theater?

Auch im "Hamlet" – jenem allerberühmtesten Shakespeare-Stück, das der aufs Leichte sinnende Ratgeber Müller einst selbst in achtstündiger, grandioser Bleischwere samt "Hamletmaschine" auf die Bühne stemmte und dessen sich Haußmann nun am Berliner Ensemble annahm – donnert, blitzt und windet es wieder aufs Schönste. Auf der Drehbühne, die durch spitzwinklig zulaufende, mit verschieden hohen Tür-, Tor- und Fensteröffnungen versehene Wandsegmente labyrinthisch verstellt ist (entworfen hat das Johannes Schütz), werden mit Bühnennebel, Gegenlicht und grellen Spots wunderbare Atmosphären erzeugt, mit denen das Theater seine Gemachtheit feiert, ohne je das Augenzwinkern beim Einsatz der Mittel zu vergessen.

Hamlet als überforderter junger Mann
Dass auch dieser "Hamlet" trotz seiner über die dreieinhalb Stunden hinausgehenden Spielzeit vordergründig sein Heil im Leichten sucht, zeigt schon die Besetzung der Titelrolle. Wäre man in der Oper, man würde sagen: Dieser Hamlet ist nicht das schwere Heldenfach! Der zierlich gebaute (aber enorm durchtrainierte) Christopher Nell, der in der Gesangsformation "Muttis Kinder" auch schon als begnadeter Kleinkünstler zu brillieren wusste, wirkt schon ob seiner hellen Stimme gewissermaßen leichtgewichtig, wie ein hoher lyrischer Tenor, der sich nun plötzlich als Wagner-Heroe bewähren soll.

hamlet2 560 lucie jansch uHamlet (Christopher Nell) fasst sich an den Kopf. © Lucie Jansch

Und Nell und Haußmann verstehen es, aus dieser Konstellation Funken zu schlagen. Hamlet ist hier nicht der große Zauderer, das tragische Urbild aller Intellektuellen, sondern einfach ein überforderter junger Mann: Vater gestorben, Aufregungen wegen der ersten Freundin, und jetzt beäugen ihn auch noch alle so misstrauisch! Der Geist des toten Vaters, den Joachim Nimtz mit liebevoll ausgepinseltem Tragödenton und Darth-Vader-Röcheln vorstellt, erscheint Hamlet, als dieser gerade im Schlaf liegt, allerdings nicht allein, sondern in nackter Umschlingung mit Ophelia (virtuos durch die Register zirpend: Anna Graenzer).

Was der Geist Hamlet mitteilt, ist ihm nicht schwerer Schicksalsschlag, es kommt dem die Liebe erprobenden jungen Mann einfach ein bisschen – sagen wir: ungelegen. "Jetzt kuschel' ich hier so schön", so scheint es Nell mit seiner Körpersprache auszudrücken, "und dann kommt da dieses olle Gespenst!" Nells Hamlet flüchtet sich in der Folge genervt in die Posen eines jungen Menschen, der nicht weiß, wo er eigentlich hin will, mal grausam, mal albern, mal revoltierend, mal nerdig, aber immer unverstanden von allen, die um ihn herum sind.

"Death is not the end", tröstet Bob Dylan
Leicht ist auch der Ton, in dem "Hamlet" in der Übersetzung August Wilhelm Schlegels hier gesprochen wird: Meisterhaft etwa versteht es Roman Kaminski als Claudius, die Shakespeare-Schlegel-Verse wie nebenbei dahinzusagen. Und Haußmann wäre nicht Haußmann, wenn nicht in wohldosierten Abständen immer mal wieder ein schnodderiger Spruch ("Ist doch gut gelaufen!") oder ein eingestreutes "Jetzt lass ihn doch mal!" den ohnehin eingeschlagenen Duktus witzig unterstriche. Das ist über weite Strecken liebenswürdiges Theater mit ein paar kräftig gesetzten Stimmungen. Freundlich lässt dazu ein "Apples In Space" genanntes Gitarren-Akkordeon-Duo, das zur Hälfte aus Haußmanns Sohn Philipp besteht, melancholische Singer-Songwriter-Musik erschallen, milde breitet sich so Bob Dylans "Death is not the end" über die angehäuften Todesfälle des "Hamlet" aus …

Bei aller zum Elegischen hinschielenden Leichtigkeit hat Haußmann freilich noch einen echten Schocker im Gepäck – der mag den Zartbesaiteten den Magen umdrehen und den Abgebrühten läppisch erscheinen, aber er ist doch ein Coup. Zu einem mit den hastig hingenuschelten Worten "Sein oder Nichtsein" beginnenden, nicht ganz unbekannten Monolog macht sich Hamlet nämlich über die Leiche des gerade erstochenen Polonius her (Norbert Stöß spielt diesen, solange er noch lebt, beamtenhaft geschäftig und mit trockenem Witz) und weidet sie auf viehischste Weise aus. Gedärm quillt, Blut spritzt – aus dem unverstandenen und doch eigentlich so harmlosen jungen Mann ist ein völlig irrer, hysterisch überdrehter Amokläufer geworden, der danach mit dem Revolver um sich schießt und auf seinen Onkel mit dem Eisenhammer losgeht. Wie Haußmann und Nell diese Wandlung zeigen, das hebt den Abend über bloße Gefälligkeit hinaus: Leichtigkeit ja, aber kein Fliegengewicht.

Hamlet
von William Shakespeare, aus dem Englischen von August Wilhelm Schlegel
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer, Komposition: Apples In Space, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Licht: Ulrich Eh, Kämpfe: Rainer Werner.
Mit: Roman Kaminski, Traute Hoess, Christopher Nell, Norbert Stöß, Anna Graenzer, Felix Tittel, Luca Schaub, Peter Miklusz, Georgios Tsivanoglou, Boris Jacoby, Joachim Nimtz, Peter Luppa, Martin Seifert, Marcus Hahn, Rayk Hampel, René Haßfurther, Franz Jarkowski, Ulrike Just, Carsten Kaltner, Marc Lippert, Haiko Neumann, Apples in Space (Philipp Haußmann, Julie Mehlum).
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Die "offensive Verspieltheit" dieses Abends mache, "weil die Inszenierung trotz der Ironie- und Selbstironieeinlagen beträchtliche Sogkraft, Verstörungspotential und Melancholie entwickelt, großes Vergnügen", meint Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2013). "Denn das Erstaunliche an diesem schönen Abend ist, dass Haußmanns Charme-Attacken den Stoff nicht banalisieren, sondern für die nötige Durchlässigkeit und Weichheit sorgen." Man lerne durch Christopher Nell den Hamlet "als zarte Seele und bei allem Nervpotential erstaunlich sympathischen Hipster mit anstrengendem Gefühlshaushalt" kennen. Und: "So lebendig wie diese melancholische Shakespeare-Geisterbahn war lange kein Abend am Berliner Ensemble."

In Leander Haußmanns Inszenierung komme "das Mörderkind Hamlet nie zu sich", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (25.11.2013). Alles sei "hier an ein Genre, die hypermalade Horror-Spaß-Show, delegiert. Man sieht keine Welt. Man blickt auf eine lustig durchgedrehte Theaterbetriebsnudelei." Haußmann wickele eine "große Tragödie in Pop- und Schmock-Windeln". Immerhin könne man bei Haußmann "auch mal lachen – so, wie man über schlechte Witze lacht. Theaterspießerstammtisch auf Schloss Helsingör."

Zu Haußmanns "ewiger Berufsjugendlichkeit hat sich so etwas wie aufrichtiger Respekt gesellt", befindet Andreas Schäfer im Tagesspiegel (25.11.2013). "Und der Hang zur Unterhaltung geht nun mit einer fast schon altmeisterlichen Lässigkeit und einem schlafwandlerischen Gespür für Tempiwechsel und Atmosphäre zusammen." Haußmann behaupte "ein Getümmel, in das er sich stürzen und ansprechend herumtreiben kann. So flieht er zwar die Innerlichkeit der Figur und verfehlt irgendwie das Herz des Stückes, findet aber im breiten Erzählstrom eine schöne Melancholie und viele poetische Kammerspielmomente." Was auf Dauer "an Haußmanns sympathischem Bauchladen und Christopher Nell als Hamlet" aber doch störe: "Die Unkonzentriertheit." Nell sei als Hamlet "chamäleonhaft wandelbar, aber auf seltsame Weise kaum zu greifen."

Haußmann lasse "den Profi raushängen" und liefere "mit sicherer Hand einen respektablen Abend ab", urteilt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (25.11.2013). "Die Theatereffekte sitzen − und sie verweisen natürlich auf das selbstreflexive Grundthema des Stücks, das da fragt: Was, von dem, das wir wissen müssen, bevor wir handeln dürfen, ist eigentlich keine Illusion?" Wohin Haußmann wolle, sei "nicht so eindeutig, spielt vielleicht auch keine große Rolle." Er wolle "einfach nur einen funktionierenden, nicht zu anstrengenden Theaterabend aus diesem Stück machen", halte "Maß, was Albernheit und Langeweile angeht. Darüber rutschen Text und Spielsituationen oft weg, bevor man Interesse an ihnen entwickeln und sie richtig aufnehmen kann."

Haußmann setze in seinem "Hamlet" "vor allem auf Unterhaltsamkeit und Überdeutlichkeit", sagt Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (24.11.2013). Nell spiele "weniger einen sinnsuchend zaudernden Hamlet als einen Jüngling, der zwischen Revolte, Empörung, erster Liebe und des Vaters Racheauftrag seine Coolness verliert." Haußmanns Inszenierung sei voll von "Einfällen, von Slapstick und szenischen Gags, mit denen er Situationen oft unterhaltsam macht, sie zuweilen aber auch unnötig aufbläst. Es ist eine Inszenierung mit überraschenden und schönen szenischen Ideen. Leider verliert sie sich aber oft auch ohne Gefühl für ein szenisches Timing in ihren Spielereien."

Im Boulevard-Blatt B.Z. (25.11.2013) kommt Martina Kaden ins Spekulieren: "Sollte Leander Haußmann mit diesem Hamlet eine Bewerbung um die BE-Intedanz abgegeben haben, spricht jetzt ziemlich viel für ihn."

Haußmann habe dem Klassiker "mit staunenswerter Leichthändigkeit den übergrossen Ernst ausgetrieben", ihn aber auch "nicht zum blossen Schabernack verhackstückt", so Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (26.11.2013). Vielmehr erzähle er ihn als "Allerweltsgeschichte", in den das Unglück Hamlet "wie ein plötzlicher Wetterumschwung ereilt. Kein Intellektueller, kein Zauderer, kein Gedankengrübler ist dieser junge Mann, sondern einer, der (...) überfordert ist von sich und seiner Umwelt. Der lieber seine Ruhe statt Racheaufträge hätte. Ein Harmloser – aus dem die Gelegenheit einen Irren macht. (...) Und in uns allen, so will uns die Regie offenbar nahelegen, schlummert ein Monster, wartet der Irrsinn auf seinen Ausbruch." Nell spiele das "mit grosser Lässigkeit" und Glaubwürdigkeit. Überhaupt sei hier "ein bemerkenswert homogenes Ensemble beisammen".

"Splatter-Orgien, eindrucksvoll ausgeleuchtete Borderline-Tänze des Titelhelden, Blitze und Theaterdonner en masse: In der Story aus dem dänischen Königshaus fährt Haußmann wirklich alles auf, was das persönliche Kreativ-Zentrum und die Theatermaschinerie hergeben", schreibt eine hoch begeisterte Christine Wahl auf Spiegel online (26.11.2013). "Bei Haußmann ist Hamlet weniger der philosophisch angehauchte Zögerer als vielmehr einer, der den lästigen Auftrag so pragmatisch wie möglich hinter sich bringen will. Er weiß nur leider nicht, wie – und ist damit in bester Gesellschaft."

Dieser "Hamlet" wirke, als wolle Haußmann, der in den frühen 1990ern mit romantischen Shakespeare-Inszenierungen das Theater eroberte, "zwei Jahrzehnte später nostalgisch noch ein bisschen DDR-typisches Grau und Grauen nachholen", schreibt der Kritiker der Welt (27.11.2013) Matthias Heine und fühlt sich ans Horrorfilm-Genre erinnert: "In den Aufschlitzerfilmen gibt es immer einen psychopathisch-charismatischen Messermörder, der umrahmt ist von langweiliger menschlicher Schlitzware – und so ist es hier auch. Christopher Nell ist sehenswert, der Kontrast dieses zarten Mannes zu den schwergewichtigen Darstellungsbeamten um ihn herum (Ausnahme mal wieder: der feine Martin Seifert als Totengräber), lässt die Last nachfühlen, die auf dem Rächer wider Willen ruht."

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