Spielt mir das Lied der Labdakiden

von Jens Fischer

Hamburg, 24. November 2013. Ein Mädchenchor auf Pilgertour gen Delphi macht Zwischenstopp in Theben. Wenn man schon mal dort ist, sollte der Ödipusmythos ins Besuchsprogramm aufgenommen werden. Ist doch auch spannend, wie Menschenwürmer die Idee eines freien Willens bockig behaupten gegen die Schicksal genannten Richtersprüche der olympischen Götter. Und kräftig gewürzt ist die Geschichte auch mit Generationskonflikten, Inzest und Mord. Die Mädchen staunen so schön, dass Euripides sie gleich als Chor vereinnahmt und ihm ein Stück widmet: "Die Phönizierinnen".

Karin Beier erlaubte als Kölner Intendantin vor zwei Jahren Robert Borgmann, ein wenig an an der politischen Aktualität des Stoffes zu kitzeln und ihn mit Regieeinfällen zu erschlagen. Zur fortgesetzten Eröffnung ihrer Intendanz am Deutschen Schauspielhaus Hamburg soll es Katie Mitchell besser machen. Wieder gibt Julia Wieninger die Ioakste als engagierte Anwältin der Vernunft und Staatsraison. Erfrischend anders aber sind die Worte. Martin Crimp hat Euripides in "Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino" nicht einfach übersetzt, sondern Handlung, Themen, Figuren von heute aus nachgezeichnet. Jedenfalls changiert die Übersetzung Ulrike Syhas zwischen versachlichtem Tragödienton, Jugendslang und dem Diskursjargon an den Runden Tischen der Macht. Um den Spielcharakter zu verdeutlichen, gibt's die beliebten distanzierenden Hallo-wach-Einschübe – Kreon sagt: "Wie ich schon sagte, sagt Kreon." Während Eteokles mit einem flapsigen "Machen wir sie platt" zum Abschlachten loszieht.

Ein Gruselhaus entblättert sich

Mit dem Mädchendutzend konstruiert Crimp das Stück komplett neu. In Hamburg erscheinen sie geheimnisvoll wieselflink choreografiert, sind gleichzeitig Bühnenarbeiterinnen, Souffleusen, Aufseherinnen, Regisseurinnen. Ob es sich um verkleidete Roboter, ein Alien-Forscherteam, Zeitreisende aus der Zukunft handelt, bleibt so unklar wie ihr Auftrag deutlich wird: Sie haben viel gelesen, gehört, gesehen über uns Menschen, aber bekommen ihre Eindrücke nicht zu einer Erklärung zusammen. Warum herrscht "der Gott der Erde Schrägstrich des Krieges" und macht den Menschen zum Tier, zum Schlächter seiner Art? Warum finden Krieger das "schöner, schärfer, süßer als ein Mädchen zu ficken"? Und welcher Sinn steht hinter all den austauschbaren Begriffen wie Ruhm, Gott, Macht, Rasse, Volk, Gerechtigkeit – mit denen Gewalt ideell ummantelt, moralisch gerechtfertigt wird? Mit ganz vielen Fragen kommen die Mädchen auf die Bühne.allesweitere 560a stephencummiskey hIm Geisterhaus der Antike © Stephen Cummiskey

Dort ließ Alex Eales mit sehr viel Liebe zum naturalistischen Detail ein sich entputzendes, entblätterndes, großbürgerliches Repräsentationspalais der Zivilisation bauen, das von der Natur gerade begrünend zurückerobert wird. Also auch eine Metapher ist. Und ein Gruselhaus. Knarrend öffnen sich Türen von Geisterhand, Stühle schweben magisch gesteuert über den Boden. Avancierte Horrorfilmmusik versucht an Zuschauernerven zu zerren. Während die Mädchen alles herbeischleppen, was eine Aufführung benötigt.

Geiseln aus dem Antiken-Schocker

Die Requisiten scheinen einem Museum entwendet, befinden sich noch in Vitrinen. Das Personal ist wohl direkt aus einer aktuellen Inszenierung des Antiken-Schockers entführt worden, in der es in beerdigungsschwarzen Kleidern und Business-Anzügen auftrat. Im autoritären Ton werden diese Schauspielergeiseln nun angewiesen, die Familiensaga der Labdakiden darzubieten. Was sie erst unwillig, dann eher mechanisch tun.

Wie häufig bei Mitchell geht es darum, eine Aufführungsform zu finden, die den Wahrnehmungsprozess reflektierend abbildet. In diesem Fall macht die Britin ohne ihre gerühmten Live-Video-Performances deutlich: Die Mädchen wollen ihre multimedial disparaten Rechercheergebnisse rund ums Ödipus-Thema ausstellen, um sie anschließend zu einer These  zusammenzupuzzeln. Die Vorgeschichte Thebens wird also ausgerollt, der schuldlos schuldige Ödipus hereingeführt. Büßt er nicht nur die Erbsünde? Crimp bezeichnet sie als "Knoten in der menschlichen Geschichte", symbolisiert durch die Söhne Polyneikes und Eteokles, die vom Vater die Sturheit geerbt haben, sich durch nichts vom tödlichen Zweikampf abbringen lassen. Zieht man dem Euripides-Stück wie der beschriebenen Realität den Firnis weg – bleibt rohe Gewalt.

Die Traurigkeit des Idylls

Die Regisseurin begegnet dieser Schreckensmär bildmächtig präzise mit dem wissenschaftlich kühlen Blick der Mädchen. Und zeigt am Ende, welcher Film läuft im "menschenleeren Kino" ihres Geistes: Eine Mutter mit Kind hockt im vogelumzwitscherten, sonnengefluteten Naturidyll, alles könnte so paradiesisch schön, so einfach sein – aber todtraurig ist ihr Blick. Was ist der Mensch? Ein Rätsel. Das er technisch perfekt inszenieren kann. Wenn er Katie Mitchell heißt.

 

Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino
von Martin Crimp
Uraufführung
Aus dem Englischen von Ulrike Syha
Regie: Katie Mitchell, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Laura Hopkins, Musik: Paul Clark, Licht: James Farncombe, Ton: Donato Wharton, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Niklas Bruhn, Uwe Dreysel, Paul Herwig, Jan-Peter Kampwirth, Sophie Krauß, Ruth Marie Kröger, Christoph Luser, Bastian Reiber, Giorgio Spiegelfeld, Julia Wieninger, Michael Wittenborn sowie Gesa Geue, Mieke Biendara, Katharina Bintz, Frederike Bohr, Tinka Fürst, Josephine Gehlhaar, Mersiha Husagic, Johanna Link, Rébecca Marie Mehne, Meike Schmidt, Tamara Theisen, Gala Winter u.a.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Was man bei dieser Crimp-Mitchell-Premiere sehe, sei – trotz des antiken Stoffes – "eine Zukunftswelt, in der die Menschen (...) scheinbar gleich geschaltet von einer geheimnisvollen, autoritären Ordnungsmacht getrieben wie unter Strom herumrennen", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (26.11.2013). Crimp verlagere die Geschichte um Iokaste und Ödipus "in einen science-fiction-artigen Terrorstaat". "Man spricht Tragödienton und Jugendslang (...). Die Gewalt der Vergangenheit pflanzt sich fort in die Zukunft. Fremdheit, Feindseligkeit, Rachegefühle (...) beherrschen die Menschen seit Urzeiten". Dieses "magisch gesteuerte Aktionstheater" sei "beunruhigend schön, rätselhaft, düster", "kunstvoll wie bei dem frühen Bob Wilson". Mitchell finde "ein paar wunderbare Bilder" und betone die Zwangläufigkeit des Geschehens. Alles sei "choreografisch aufeinander abgestimmt, alles klappt roboterhaft wie am Schnürchen". Das sei "künstlerisch innovatives, fesselndes Theater. Das Stück nach einem langen Arbeitstag anzusehen könnte jedoch eine Herausforderung werden."

"Die Geschichte, die Crimp entschlackt und frisch aufbereitet hat, ist alt, und viel Neues hat er auch nicht hinzugefügt, sagt Katja Weise im NDR Kultur-Journal. "Doch wie Katie Mitchell sie auf die Bühne bringt, ist neu." Mitchell schaffe eindrückliche Bilder, die den Bogen schlügen vom Gestern ins Heute. Und sogar ins Morgen. "Denn die Ästhetik, derer sie sich dabei bedient, ist die der Sciencefiction-Filme." Ein regelrechter Sog gehe von der Bühne aus, "man mag sich nicht stattsehen an diesen Bildern und an diesen Schauspielern, die von der Regisseurin so eng geführt werden und doch immer wieder auf kleinem Raum brillieren." Weise attestiert der Inszenierung am Ende "Kultpotential."

"Als Zombiefilm" habe Katie Mitchell Crimps "Menschenanklage" inszeniert und damit einen "rabenschwarzen, beeindruckenden Abend" geschaffen, schreibt Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.11.2013). Weil bereits das Stück selbst "Film genug" sei, könne Mitchell auf ihre gewohnte Kameraarbeit im Live-Set verzichten. Mit "Präzision, Kühle" und einer "beeindruckenden Gnadenlosigkeit" inszeniere die Regisseurin. "Alles ist hochartifiziell, jeder Gang, jede Figur, manchmal läuft eine Szene auch bewundernswert präzise einfach wieder rückwärts."

"Mitchells brillante Mechanisierung des Gewaltmythos wirkt trotz der extremen Düsterheit nicht wie ein Fatalismus-Plädoyer", schreibt ein überaus angetaner Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28.11.2013). Mitchell stelle "mit ihren beeindruckenden Bildern die Frage nach der Systemverhaftetheit des Menschen". Ihre ansonsten praktizierte Live-Filmarbeit habe sie "diesmal in Choreografie übertragen und damit eine für sie neue Form gefunden. Rückspulen und Wiederholung sind Teil des Personenaufmarsches – und beängstigend echt wird das körperlich nachvollzogen."

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