Erst Bauchnabel, dann Welt

von Jan Fischer

Braunschweig, 25. November 2013. Drei Menschen auf der Bühne, zwei Männer, eine Frau, Wohlstandskinder, alle miteinander. Eine Gitarre. Ein paar Caipirinhas. Ein Maschendrahtzaun. Die drei Performer der Schweizer Truppe "Neue Dringlichkeit" haben alle etwas mit Brasilien zu tun: Zwei sind dort aufgewachsen, der dritte nach dem Abitur hängen geblieben. Und eigentlich erzählen sie dem Publikum nur Geschichten, die sie, vielleicht, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht genau, erlebt haben: Eine Liebe in den Favelas. Ein Überfall mitten in Sao Paulo. Betrunkene Gespräche unter reichen Jugendlichen, die in neoliberale Rassismen münden. Die drei Performer erzählen von sich selbst, über sich selbst in Brasilien, und erzählen damit irgendwann dann auch, klar, von Brasilien.

Dass "Brazilification" nicht im handelsüblichen Backpacker-Porno hängen bleibt, hängt vor allem damit zusammen, dass der Stücktitel ein globales Phänomen beschreibt, dass sich am Beispiel Brasilien ganz besonders gut veranschaulichen lässt: Die immer weiter aufklappende Schere zwischen arm und reich, bei gleichzeitigem Verschwinden der Mittelschicht. Und so werden die persönlichen Geschichten der Performer zu Berichterstattung direkt von der Front der hyperkapitalischen Kampfzone.

fastforward 560 brazilification johannazielinski uDie Schweizer Kollektiv "Neue Dringlichkeit mit "Brazilification"  © Johanna Zielinski

Vom einzelnen in die Welt

Mit einer ähnlichen Bewegung arbeiten alle Stücke des "Fast Forward": Vom eigenen Bauchnabel raus in die große weite Welt. "GMGS_What the hell is hapiness?" von Codice Ivan aus Italien fragt sich, was Glück ist, und kommt schnell vom Glück des einzelnen auf das Problem, dass es Glück ohne soziale Abhängigkeiten nicht geben kann, und dass die Frage nach dem Glück an dem Punkt sehr schnell sehr kompliziert wird. Immer mehr Plakate mit Anweisungen, Manifesten, Ausbrüchen werden auf die Bühne getragen, so lange, bis der ganze Bühnenraum voll davon ist.

"Ùzivo Frau Stirnimaa!" von Lorenz Nufer aus der Schweiz inszeniert ein Konzert einer Band, die aus Migranten besteht. In den Liedpausen erzählen die Migranten von ihren Erlebnissen, den strapaziösen Überfahrten, den Problemen mit den Schweizer Behörden - mit der Pointe, dass die angeblichen Migranten eigentlich gar keine Migranten sondern Schweizer sind, bis auf den Drummers. Das Stück unternimmt den Versuch, von den persönlichen Geschichten der Fast-Migranten zu einer Geschichte über das Verhältnis der Schweizer zu Migranten abzuspringen.

fastforward 560 orestien joneiriklundberg u"Orestien" von Anja Behrens  © Jon Eirik Lundberg

Die "Orestien" unter der Regie von Anja Behrens aus Dänemark versuchen anhand der Vorlage eine intime Geschichte über Gewalt zu erzählen. "Kijken naar Julie" von Bram Jansen aus den Niederlanden kombiniert die Strindberg-Vorlage mit einer Off-Stimme, die aus den Handlungen der Individuen in der kleinen Herrenhausküche Handlungen von sozialen Wesen in einer hierachischen Gesellschaft macht. "Politik" von The Company aus Dublin nimmt nicht eigene persönliche Geschichten zur Verortung heran, sondern lässt am Ende das Publikum selbst spielen, eine eigene Geschichte erzählen – die Geschichte soll allerdings gemeinsam erzählt werden. "Politik" will damit demokratische Meinungsfindungsprozesse zeigen und hinterfragen. Und die Gewinnerproduktion Dehors" von Antoine Laubin aus Belgien, startet mit persönlichen Geschichten von Obdachlosen, die im Laufe des Stückes immer wieder gegen eigene Erlebnissen mit Obdachlosen gesetzt werden, und mit kleinen Improvisationen und Zitaten kontextuell angefüttert. Die Szenen werden zufällig aneinandergesetzt – was als nächstes kommt, entscheidet das Los.

fastforward 560 dehors alicepiemme aml uDas Obdachlosenstück "Dehors" von Antoine Laubin gewann den Wettbewerb 
© Alice Piemme | AML

Gelungen, nicht gelungen

Einige der Stücke sind gelungen, andere wieder nicht. "Dehors" von Antoine Laubin wartet mit einer spannenden Inszenierungsmechanik auf Basis eines Zufallsprinzips auf. "GMGS_What the hell is hapiness?" schüttelt einen angenehm leichten und fluffigen Essay zu sozialen Abhängigkeiten aus dem Handgelenk. "Kijken naar Julie" zieht mit einer Off-Stimme wie aus einer Tiersendung einen doppelten Boden in die Vorlage ein. "Brazilification" berichtet charmant und unaufgeregt von der schönen, neuen Welt ohne Mittelschicht.
"Ùzivo Frau Stirnimaa!" verliert sich dagegen manchmal allzu sehr in seiner Lustischkeit. Die "Orestien" sind zwar exzellent choreographiert und beeindruckend minimalistisch, können dem Stück aber auch nicht mehr abringen als den üblichen altgriechischen Psycho-Splatter-Porno. Über Probleme und Vorzüge der einzelnen Stücke ließe sich noch lange sprechen – das grundlegende Problem, welches das "Fast Forward" aufzeigt ist aber ein anderes.

Verpuffung in der Offenheit

Das Festival behauptet, die Auswahl sei symptomatisch für junges europäisches Theater. Möglicherweise ist sie nur symptomatisch für junges Theater, wie man es gerne sehen möchte, dasjenige Theater, dass zur Zeit auch in Deutschland die Förderungen abräumt: Politisches, aber handzahmes Diskurstheater, das sich im Großen und Ganzen darin erschöpft, persönliche Essays über große Themen zu formulieren. Interessante Essays, solche, bei denen es Spaß mach zuzuschauen, das schon. Aber allzuoft gehen sie nicht über die Formulierung des Problems und der persönlichen Verortung der Darsteller darin hinaus. "Politik" lässt am Ende, ohne irgendeine Form von Anleitung, das Publikum die Geschichte noch einmal inszenieren.

fastforward 560 politik josemigueljiminez u"The Companie" aus den Niederlanden mit "Politik" © José Miguel Jiménez

Das macht einen irrsinnigen Spaß, beeindruckend ist auch, dass die Zuschauer tatsächlich mitspielen – die Inszenierung soll aber irgendetwas mit demokratischen Prozessen zu tun haben. Kann man so sehen, muss man aber nicht. Jede Team-Building-Übung aus dem Assessment-Center-Handbuch hätte in der Hinsicht ungefähr den gleichen Aussagegehalt gehabt. Die Gewinnerproduktion des Festivals, "Dehors", ist auch ein Paradebeispiel: Das Losverfahren, das der Inszenierungsmechanik zu Grunde liegt, garantiert, dass das Problem Obdachlosigkeit und die – zugegeben spannende – These, dass Obdachlose in unserer Gesellschaft als abschreckendes Beispiel gebraucht würden zwar immer irgendwie formuliert wird. Gleichzeitig garantiert es aber auch, dass die Inszenierung am Ende immer offen bleibt, dass sie nicht dass Risiko eingehen muss, irgendein Ergebnis oder wenigstens einen Vorschlag zu formulieren. Nichts gegen Offenheit und ergebnisoffene Prozesse. Aber wenn es am Ende nichts gibt, an dem man sich abarbeiten könnte, wenn keine Fragen bleiben sondern nur das kuschelig-warme Gefühl, gerade etwas für die politische Bildung getan zu haben, dann verpuffen die ansonsten starken Inszenierungen in ihrer eigenen Offenheit.

fastforward 560 happiness alessandrosala u"GMGS_What The Hell is Happiness?" von Codice Ivan  © Alessandro Sala

Nur ein kleiner Schritt

Die Bewegung, die alle Stücke vollziehen – vom Individuum zum Individuum das sich in der Gesellschaft verortet ist interessant, weil sie den Anfang eines Prozesses markiert, den junges Theater international vollzieht, einen Prozess der langsamen Orientierung hin zu sozialpolitischen Themen. Das Problem bei der Sache ist, dass diese Bewegung erst der Anfang ist, nur ein kleiner Schritt weg vom eigenen Bauchnabel – dass viele der Inszenierungen aber eigentlich schon weiter sein wollen. So zeigt das "Fast Forward" zwar einiges an gelungenen Inszenierungen, und vor allem auch vielfältige Formen und Mechaniken, die aber glauben, weiter zu sein als sie eigentlich sind. So gesehen war das diesjährige "Fast Forward" ein Festival der gelegentlichen Selbstüberschätzung- aber auch eines das gezeigt hat, dass die großen sozialpolitischen Probleme auf den jungen, europäischen Bühnen ankommen, dass ein Orientierungsprozess stattfindet, der noch nicht abgeschlossen ist. Und ein bisschen Selbstüberschätzung ist vielleicht auch nicht verkehrt, wenn man in Zukunft ein paar richtig große Probleme anpacken will.

 

Fast Forward – Internationales Festival für Junge Regie

Ùzivo Frau Stirnimaa!
Regie, Konzept & Text: Lorenz Nufer, Bühne: Chasper Bertschinger, Kostüme: Eva Butzkies, Musik: Gustavo Nanez, Dramaturgische Beratung: Larissa Bizer, Assistenz: Kathrin Doppler, Prolog: Gabriel Vetter, Produktionsleitung: stranger in company.
Mit: David Berger, Dominik Blumer, Christoph Mörikofer, Gustavo Nanez, Grazia Pergolett.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

GMGS_What the Hell is Happiness ?

Regie: Konzept & Bühne: Codice Ivan (Anna Destefanis, Leonardo Mazzi, Benno Steinegger), Musik: Private Culture, Produktion: Codice Ivan, Koproduktion: Centrale Fies.
Mit: Anna Destefanis, Benno Steinegger
Dauer: 55 Minuten, keine Pause

Brazilification
Regie, Konzept, Text, Bühne, Kostüme & Licht: Christopher Kriese, Miriam Walther Kohn, Marcel Grissmer.
Mit: Marcel Grissmer, Miriam Walther Kohn, Christopher Kriese.
Dauer: 55 Minuten, keine Pause

Dehors
Regie & Konzept: Antoine Laubin, Text: Thomas Depryck, Bühne & Kostüme: Aurélie Forges, Licht & Technische Leitung: Gaspard Samyn, Ton: David Vranken, Video: Sung-A Yoon, Produktion: Compagnie De Facto, Produktionsleitung: Cora-Line Lefèvre, Organisation & Vertrieb: Habemus Papam.
Mit: Caroline Berliner, Coraline Clément, Denis Laujol, Jérôme Nayer, Hervé Piron, Renaud Van Camp.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

Orestien
Regie: Anja Behrens, Bühne & Kostüme: Christian Albrechtsen, Ton: Ida Jacobsen,Licht: Mikkel Hansen, Requisite: Denise Conradi, Produktionsleitung: Morten Riis Sørensen.
Mit: Sofie Ancher Vea, Patrick Baurichter, Niklas Bentzen, Silke Birandell, Gry Guldager, Christoffer Læssø
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Kijken naar Julie
Regie: Bram Jansen, Dramaturgie: Frank Mineur, Licht & Musik: Design Guido Langendoen.
Mit: Keja Kwestro, Vanja Rukavina, Jiska de Wit.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

Politik
Regie: José Miguel Jiménez, Konzept: The Company, Bühne & Licht: Ciaran O'Melia, Choreografie: Emma O'Kane, Kamera: Patricio Cassinoni, Produktionsleitung: Stephen Dodd.
Mit: Brian Bennett, Robert McDermott, Stefanie Aine Preissner, Nyree Yergainharsian.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, eine Pause

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