Die Europäischen Medien. Ein Schauprozess - Zum Hamburger Nordwind-Start zeigt Nielsen einen Abend zwischen Privatsphäre und Weltpolitik
Konfrontation auf kleinstem Raum
von Katrin Ullmann
Hamburg, 5. Dezember 2013. Der Europäer konnte am besten nachdenken und verzweifeln, heißt es am Ende. Und von Anfang an ist klar, die Zeit des Europäers ist vorbei. Hier, auf diesem kleinen Kontinent, wurde zwar die Demokratie erfunden, hier wurde die Aufklärung erdacht, aber hier wird schon lange nicht mehr Weltgeschichte geschrieben. Die Weltgeschichte schreibt vielmehr China, zumindest ökonomisch und weltbevölkerungsanteilig betrachtet – "Ihr verschwindet, schwupp!"
Angela Merkel und der minderjährige Sexarbeiter
"Die Europäischen Medien – Ein Schauprozess" eröffnet das diesjährige Nordwind Festival auf Kampnagel. Nielsen autorisiert sich für Text und Regie. Nielsen ist hervorgegangen oder vielleicht sogar wiedergeboren aus dem Dänen Claus Beck-Nielsen (2001 für tot erklärt) und damit auch eine Fortschreibung des von 2002 bis 2011 weltweit politisch-künstlerisch agierenden Labels DAS BECKWERK.
Mit sieben Darstellern, mit sieben "europäischen Medien", erschafft Nielsen einen Abend zwischen Identität und Fiktion, zwischen Privatsphäre und Weltpolitik. Die Schauspieler sind nurmehr Medien, mehr oder weniger besessen von einer fremden Macht, von Rupert Murdoch (Dietrich Kuhlbrodt), von China (Cornelia Dörr, später Irina Wrona), von einem thailändischen Jungen, der seine Scham für 50 Euro verkauft (Lukas Vögler), von einem toten afrikanischen Flüchtling (Moritz Grabbe), von Angela Merkel persönlich (Cornelia Dörr) und von einer Gottesgestalt auf Schäfchensuche (Oana Solomon). Die Schauspieler sind mit sich selbst im Zwiegespräch. Immer wieder versuchen sie ihre eigene Identität zu behaupten, sich von der auferlegten Figur und ihrer Übermacht zu lösen. So stehen Proklamationen über Massenmedien, Machtübernahmen und Meinungsfreiheit Zweifel, europäischen Wurzeln und zaghaftem Widerstand gegenüber.
Wortwitz und Gesellschaftskritik
Der selbstbewusste Vortrag eines Besitzenden wird vom Erstaunen des Normalbürgers konterkariert, die phrasenreiche Regierungsrede vom Einspruch der enttäuschten Wählerin, der Sextourist von der naiven Erzählung eines minderjährigen Thailänders. Nielsen arbeitet diese (und noch vier weitere) Gegenpositionen sehr fein aus und erschafft eine Konfrontation auf kleinstem Raum, eine Konfrontation im Inneren des Schauspielers. Diese Auflösung in jeweils einer Figur, dieser enge Dualismus wirkt wie ein Brennglas und die Polarität der Positionen gewinnt auf leise Art Raum. Die Darsteller (allesamt beeindruckend!) grenzen diese Doppelpersonen mit kleinen Gesten voneinander ab: ein gesenkter Blick, ein fast unmerkliche Handbewegung, eine leichte Gewichtsverlagerung.
Der Abend ist sehr genau gearbeitet, bewegt sich manchmal haarscharf an der Grenze zur Karikatur, bedient Wortwitz (etwa wenn Cornelia Dörr als Medium von Angela Merkel äußert: "Sie hat mir ihre Stimme gegeben, ich spreche für sie, sie spricht durch mich. Wie heißen Sie?" – "Cornelia Dörr." – "Ich auch.") und Gesellschaftskritik. Er schafft eine eigenartige Nähe zu den Figuren, die keine sein sollen und wollen. Gegen Ende verirrt sich Nielsen leider in einen überflüssigen Epilog, der die längst geklärten Fragen nach Identität, freiem Willen und der Vorherrschaft Chinas erneut dekliniert und nochmals das Ende Europas vorhersagt, um sich mit dem letzten Satz aus "Hamlet" dann doch wieder (Nord-)Europa zuzuwenden.
Die Europäischen Medien –
Ein Schauprozess
von The Nielsen Movement
Text und Regie: Nielsen, Musik: Tobias Gronau. Medien: Cornelia Dörr, Moritz Grabbe, Philipp Meier von Rouden, Oana Solomon, Lukas Vögler, Irina Wrona, Dietrich Kuhlbrodt.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.kampnagel.de
www.nordwind-festival.de
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