Whatever happened … to the Hungarian Theatre? - Bei einer Konferenz der Heinrich Böll Stiftung treffen die erbitterten Widersacher Attila Vidnyánszky und Árpád Schilling aufeinander
Volkstänzer vs. Hipster
von Mounia Meiborg
Berlin, 9. Dezember 2013. Da sitzen sie nebeneinander auf dem Podium: zwei Männer, die in Budapest nicht miteinander reden und die das jetzt 876 Kilometer entfernt, in Berlin, tun sollen. Der eine wurde unter der neuen Regierung zum Leiter des Nationaltheaters. Dem anderen wurden 90 Prozent der Förderung gestrichen. Der eine möchte das ungarische Nationalgefühl stärken. Der andere kriegt davon Magenkrämpfe.
Attila Vidnyánszky und Árpád Schilling sind die Protagonisten eines Streits, der seit Monaten in der ungarischen Kulturszene tobt. Es geht darin um die Funktion der Kunst, vor allem aber um ihr Verhältnis zur Macht. Denn seit der Rechtspopulist Viktor Orbán im April 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und mit einer Zweidrittelmehrheit regiert, wurden die Subventionen radikal gekürzt – vor allem bei freien, oft regierungskritischen Theatergruppen wie der von Árpád Schilling. Kritiker sorgen sich um die freie Meinungsäußerung im Land. Und der Vertrag des unliebsamen Intendant des Nationaltheaters wurde nicht verlängert, Róbert Álföldi im Sommer durch den regierungskonformen Vidnyánszky ersetzt.
Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung gekommen sind, um über das Theater in ihrem Land zu diskutieren. Sie sitzen in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg; der Saal ist voll mit deutschen Theatermachern und jungen Exil-Ungarn. Der bullige Vidnyánszky trägt die Tracht eines ungarischen Volkstänzers: schwarze Hose, weißes Hemd, geknöpfte Weste. Árpád Schilling sieht mit seinem Dreitagebart aus wie ein Berliner Hipster. Besinnung aufs Nationale oder Öffnung nach Europa: Das ist das Spannungsfeld, in dem die beiden stehen. Und mit ihnen das ganze Land.
Es ist also eine kleine Sensation, dass Vidnyánszky und Schilling zu einer von Esther Slevogt kuratiertenGlaube oder Teilhabe
Erstmal geben sich beide tolerant. "Jedes Theater hat seine Existenzberechtigung", sagt Vidnyánszky. Er hat gerade die "Johanna auf dem Scheiterhaufen" inszeniert, ein Oratorium des tief religiösen Paul Claudel. Er habe damit zeigen wollen, dass Gottesglaube und Patriotismus zusammen gehören, sagt er. "Unser Problem ist, dass wir den Glauben verloren haben." Über Jahrzehnte seien Patriotismus und Heimatliebe von den sozialdemokratischen Machthabern tabuisiert worden. Jetzt, unter der neuen Regierung, atmeten viele Menschen auf.
Árpád Schilling sieht das anders. "Meine Kreise haben schlechte Laune", sagt er. Man könne den Menschen keine patriotischen Gefühle verordnen. "Man muss die Leute auswählen lassen, welche Zugehörigkeit sie haben wollen. Die ungarische Gesellschaft hat noch keine Teilhabe erlebt." Deshalb arbeitet er mit seiner Gruppe Kretakör (Kreidekreis) seit fünf Jahren daran, die Zuschauer einzubeziehen. Das brasilianische Forumtheater oder das britische Theatre of education sind dabei Vorbilder.
Politisch oder qualitativ motivierte Kürzungen?
Nach ein paar Fragen von Moderator Dirk Pilz ist man schnell beim eigentlichen Streitpunkt angelangt. "Es ist nicht wahr, dass es keine politische Einflussnahme gibt", sagt Schilling. "Lüge!" ruft Vidnyánszky. Schilling wirft ihm vor, die Gelder für seine Gruppe gekürzt zu haben, weil die sich regierungskritisch äußert. Vidnyánszky war bis vor kurzem Chef der fünfköpfigen Kommission, die über die Förderung entscheidet. Er hält dagegen: "Nach Meinung der Fachleute liefert Kretakör keine Qualität mehr."
Es ist ein Streit, der von außen schwer zu durchschauen ist, weil die ungarische Kulturpolitik ebenso kompliziert zu sein scheint wie die deutsche. Weil es nicht nur um Theater geht, sondern auch darum, wie man einen 83 Jahre alten Friedensvertrag bewertet. Weil sich die Frage stellt, wie man Theater macht in einem Land, in dem die nationale Identität nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft gerade zum ersten Mal verhandelt wird; einem Land, das über diese Fragen tief gespalten ist.
Verschärfte Verteilungskämpfe
Das Ausland, soviel ahnt man nach dieser Diskussion, ist an dieser Spaltung nicht ganz unschuldig: Konservative wie Vidnyánszky fühlen sich im Westen nicht gehört. Progressive, links orientierte Theatermacher – neben Árpád Schilling auch Viktor Bodó, Kornél Mundruczó, Béla Pintér – werden dagegen bei den großen Festivals herumgereicht – und zuhause vom anderen Lager umso mehr gehasst.
Vielleicht aber ist die Gemengelage in Ungarn doch nicht so speziell. Das legte das letzte Panel mit einem estnischen und einem niederländischen Kulturpolitiker nahe. Auch dort werden, wie hierzulande, die Subventionen für die freie Szene immer knapper. Vielleicht also geht es in Ungarn nicht nur um politische Positionen. Sondern auch um verschärfte Verteilungskämpfe in Zeiten der Krise – willkommen in Europa.
Whatever happened ... to the Hungarian Theatre?
Eine Konferenz der Heinrich Böll Stiftung | Berlin, 8. Dezember 2013
Mit: Ferenc Laczó, Krisztián Ungváry, Balázs Ablonczy, Attila Vidnyánszky, Árpád Schilling, György Szabó, Stephanie Junge, Pieter Zeeman, Harry Liivrand, Kirsten Hass, László L. Simon.
www.boell.de
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Vor noch nicht allzu langer Zeit bezeichnete die europäische Öffentlichkeit das, was in Ungarn geschieht, als einen fortgesetzten staatsterroristischen Akt. Also als etwas doch sehr Spezielles. So speziell, dass man es in Europa nicht nur nicht willkommen heißen konnte, sondern die Tür davor zunageln mußte. Vor noch nicht allzu langer Zeit, als uns klar war, welche Dinge hinzunehmen waren und welche nicht, war es zu Protesten, zum Nein sagen gekommen. Als wir uns noch sicher waren, dass den an allen Ecken und Enden lauernden Verheerungen Grenzen gesetzt werden müssen. Klar schien: die Politik in Ungarn verhöhnt alle europäischen Vorstellungen von konstruktivem Zusammenleben der Menschen. Die protofaschistische Epoche der Zwischenkriegszeit zeigt ihre nur oberflächlich maskierte Fratze plötzlich von neuem. Was das Theater betrifft, so darf man bislang in Europa doch Theater machen, das nicht von einem Regime bestellt ist. Auch gibt es anderswo keine Medienräte mit der Aufgabe, politisch kritische Stimmen zu eliminieren und Autoren einzuschüchtern, keine Totalkontrolle der öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten und nahezu der gesamten Medien, keine Klerikalisierung der Gesellschaft, keinen gelenkten Rassismus, keine gleichgeschaltete Justiz, keine Rückwendung zu den nationalsozialistischen Zeiten in Kindergärten, Schulen, Gymnasien und Universitäten, keine Rehabilitierung von und zum Bildungsgut erkorenen Rassisten, Antisemiten und Nazischriftstellern und so fort. Und vor allem keine Naziparteien, die, formell in der Opposition, den Regierungen vorgeben, was sie zu tun und zu lassen hätten. Lauter Erscheinungen, die in Ungarn Alltag sind. Willkommen in Europa? „Welches Theater kann der Staat gebrauchen?“ – so hätte die Frage lauten müssen.
Die Welle der Empörung, die durch den Kontinent lief, ebbt ab. Vor lauter verwüstender geschichtlicher Erfahrung und der Erinnerung daran scheint Europa plötzlich erfahrungslos geworden. Gerade in der Reichshauptstadt, sollte man meinen, muss die Hellhörigkeit gegenüber der missbräuchlichen, engen Verwendung von Begriffen wie Patriotismus, Nationalbewusstsein usw. so ausgeprägt sein, dass die kulturelle Unterstellung Orban-Ungarns, es ließen sich die weltanschaulichen Defizite, welche die Theaterkunst des Landes aufwiese, ein weiteres Mal mit ihnen auffüllen, einsichtig zurückgewiesen werden kann. Kuratorin Slevogt spricht stattdessen vom Ende der Ideologien, während doch der völkische Schutt hörbar den ungarischen Kunstberg herabkollert, wenn der neu ernannte Intendant des Budapester Nationaltheaters sein Programm mit dem Credo umschreibt: "Sich im Namen der Liebe für eine Gemeinschaft, für eine Nation, für ein Land und für eine Heimat, in ihrer Allmächtigkeit und im Namen Gottes aufzuopfern, sich nach seinem Willen zu befreien, frei zu werden und dies in die Tat umzusetzen" - einer waschechten Definition des nationalen Faschismus, und ein Credo, nach welchem in Ungarn nicht nur Theater gemacht, sondern die gesamte Politik ausgerichtet, die Gesellschaft umerzogen wird. Die Erlösungsdoktrin ist wieder da. Die Verlogenheit, das organisierte Unwissen sind nach Ungarn nicht nur zurückgekehrt, sie scheinen die einzige Ebene, auf der Gesellschaft noch verhandelt wird. Aber: „Die Fragen, die in Ungarn diskutiert werden, sind europäische Fragen“ (Slevogt). Sind es nicht. Und werden es hoffentlich nie wieder sein. Oder sollen auch hierzulande die Zeiten zurückkehren, die es erlauben, ja gebieten, dem Leiter einer international berühmten Theatertruppe die drastischen Subventionskürzungen damit zu erklären, dass er zur Stärkung der vaterländischen Sache nicht nur nichts beitrüge, sondern im Gegenteil ein Knecht linksliberaler (!) „westlicher“ Trends sei – und ihm, wenn er das politische Bevormundung nennt, scheinheilig mit dem Fachurteil in Kunstdingen berufener Kommissionen zu kommen, Gremien, die durchsetzt sind von „national gesinnten“ Künstlern und Funktionären? Das von den Veranstaltern offensichtlich nicht wahrgenommene Schaurige ihrer „Konferenz“ war die fühlbar im Raum anwesende faschistoide Staatsmacht der trachtenbewehrten Regierungsvertreter „in Sachen Kultur“. Nichtmacht, konfrontiert mit der Macht. Willkommen in Europa?
„Vielleicht aber ist die Gemengelage in Ungarn doch nicht so speziell... Auch dort werden, wie hierzulande, die Subventionen für die freie Szene immer knapper. Vielleicht also geht es in Ungarn nicht nur um politische Positionen. Sondern auch um verschärfte Verteilungskämpfe in Zeiten der Krise – willkommen in Europa.“ Welch ein erschreckender Blödsinn, Frau Meiborg!
L.Kornitzer/F.-P. Steckel
zwischen der Diktatur des Marktes und der Diktatur eines Diktators sehe ich immer noch einen Unterschied.