Neues aus der Anstalt

von Nikolaus Merck

Berlin, 11. Januar 2008. Und das war einmal ein Rebell! Randle P. McMurphy, der proletarische Kleinkriminelle, Großmaul, Sexprotz und Windmacher. Der die harmlosen Insassen der psychiatrischen Klinik Kuckucksnest gegen die Autoritäten aufstachelt. Hu hu hu, wie haben wir ihn geliebt, als er uns vor 30 Jahren mit dem Ohrfeigengesicht von Jack Nicholson von der Leinwand angrinste. Ja, das war uns ein Vorbild und den Vietnam- und Watergate-geschädigten Amerikanern sowieso, die 1975 gleich fünf Oscars auf den Film von Milos Forman häuften.

Jetzt hat "Einer flog über das Kuckucksnest" im Berliner Maxim Gorki Theater Premiere gehabt. Ronald Kukulies spielt dort den Randle P. McMurphy wie Nicholson mit Strickmütze und gerade so, als seien McMurphy und Nicholson und all die anderen post- und prä-hippiesken Rebellen Fleisch von seinem Fleisch. Kukulies protzt mit seinem Gemächt, um den Anstalts-Intellektuellen Harding (Gunnar Teuber) als "Oberirren" zu verdrängen. Kukulies baggert die lila bestrumpfhoste Doktor Flinn (Wanda Perdelwitz) an, als sei er aus einem Chaplin-Stummfilm gefallen. Kukulies fläzt sich, schlenkert und brüllt, und fährt seinem Mit-Irren, dem peniblen Cheswick (Ulrich Anschütz), auch schon einmal mit Nase und Mund ins Gesicht. Auf die Chefärztin Ratched geht er mit dem Schwung eines stiernackigen, deutschen Hausmeisters los, dem ein wohlmeinender Gott den Gehorsamkeitsinstinkt umgepolt hat. Statt Unterordnung fordert Kukulies Aufruhr. Statt Botmäßigkeit und Disziplin verordnet er Sex and Drugs and Rock'n Roll.

Und steht damit völlig auf verlorenem Posten.

Die Verhältnisse, sie sind nicht mehr so

Als das "Kuckucksnest" 1982, einen Tag nach der Geraer DDR-Erstaufführung, auch im Maxim Gorki Theater Premiere hatte (Pikanterie am Rande: auch damals spielte Wolfgang Hosfeld die Rolle des Mamasöhnchens Billy Bibbit), durfte keiner laut sagen, was alle dachten: Die Anstalt ist die DDR und wir sind ihre Insassen. Wer hier versucht zu fliehen, bekommt es mit dem zu allem entschlossenen Klinikpersonal zu tun. 25 Jahre später ist nicht nur die Klinikwand aufgepeppt mit modischem, gebürstetem Edelstahl (Bühne Thilo Reuter), die Verhältnisse haben sich in ihr Gegenteil verkehrt.

McMurphy alias Kukulies vernimmt es fassungslos: seine Mit-Irren sind alle freiwillig in der Anstalt, außer ihm will hier keiner raus. "Wir sind einfach nicht hart genug im Nehmen", formuliert der cholerische Scamlon (Silvio Hildebrandt) die Losung der Männer, die sich vor der Leistungsgesellschaft, vor allgemeinen sexuellen Bedrängnissen und speziellen Mutter-Traumata in den Schoß der Anstalt und an den Busen der silberhaarigen Doktor Ratched flüchten.

Die spielt Ursula Werner nur ein klein wenig verschlagen, ansonsten mit tadellos ausbalancierter Freundlichkeit, ohne Fehl und Tadel. Was diese Doktorin an Prinzipien vorbringt, zählt heutzutage zum Standard der allgemeinen Pädagogik. In der Erziehung, die ja eine Sozialisation, sprich: Anpassung sein soll, bedarf es der Regeln, des strengen Rhythmus, der Grenzen. Grenzübertretungen müssen der Glaubwürdigkeit halber geahndet werden. Schon daran sieht man, in welch grundlegender Weise sich die Zeiten geändert haben. Man könnte das kalte Grausen bekommen.

Noch 25 Zentimeter bis zum Identifikationszentrum

Und kann die Anstaltsinsassen durchaus verstehen. Wenn sie, anstatt Solidarität mit dem Genossen McMurphy zu üben, lieber bei der Chefärztin petzen und sich danach schamerfüllt an den Stationsbaum, eine Art Pranger für Selbstmitleidige, stellen.

Regisseur Jan Jochymski lässt das Stück ohne Sperenzien spielen. Er erzählt die Geschichte geradlinig, die Schauspieler dürfen sich die Figuren bis auf 25 Zentimeter nah ans Identifikationszentrum heran holen und keiner zwingt sie, sich besserwisserisch und naseweis über ihre Charaktere zu erheben. Das ist gut so, weil so auch kein Schauspieler überfordert wird, was am Gorki Theater nicht selbstverständlich ist. Hier und da, wenn die so gar nicht Kranken mit einem Sitzball für gerade Rücken Basketball spielen oder Billy Bibbit mit der Schlampe Candy Starr (Hanna Eichel) tanzt, gelingen auch innigere Bilder.

Am Ende hat Randle McMurphys private Theologie der Befreiung aber nur bei einem Erfolg. Häuptling Bromden, der den Indianer in sich auch nur träumt, wird von McMurphy aus der selbst gewählten Katatonie geholt. Jochymskis Aufführung verzichtet auf den mitleidigen Mord, auf den herausgerissenen Pranger. Während dem geschundenen McMurphy Blut aus den Augen läuft, geht Bromden einfach durch den Zuschauerraum hinaus. Ob dort draußen allerdings auch Freiheit zu finden ist?


Einer flog über das Kuckucksnest
von Dale Wasserman
nach dem Roman von Ken Kesey, Deutsch von Ingeborg von Zadow
Regie: Jan Jochymski, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Petra Winterer,  Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Ursula Werner, Wanda Perdelwitz, Hanna Eichel, Max Simonischek, Gunnar Teuber, Wolfgang Hosfeld, Silvio Hildebrandt, Ulrich Anschütz, Ronald Kukulies.

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"Fotowände vom Wald" schmückten die Bühne, schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (15.1.2008): "Nur leider sieht man die Inszenierung vor lauter Bäumen nicht", merkt Wildermann an, nachdem er die Insassen der "Zwangsgemeinschadt" vorgestellt hat. Ihre Unkenntlichkeit werder "spätestens schmerzhaft", wenn "der Outlaw Randle McMurphy (Robert Kukulies) erscheint. Das Stück selbst erfreue sich "wegen seines antiautoritären Gestus zeitloser Beliebtheit". Und mehr als die "Rebellenpose" lese ihm auch Jochymski nicht ab. "Murphy bleibt unhinterfragter Held, der die Verzagten wachrüttelt", die "wahre Nonkonformisten" seien, "weil sie sich dem bürgerlichen Erfolgsmodell entziehen. Ihr Recht auf Rückzug zu verteidigen, wäre ein spannender Ansatz gewesen."

Für Dirk Pilz (Berliner Zeitung, 14.1.2008) ist McMurphy dagegen gerade kein Rebell mehr. "Denn Jochymski erzählt eine gnadenlos heutige Geschichte: Es gibt nichts mehr, wofür sich in Rage geraten ließe. Kein Anders, kein Draußen." Die "Träume vom (richtigen) Anders-Leben und von (tatsächlicher) Selbstbestimmung mögen geblieben sein, es gibt nur keine Wirklichkeit mehr, auf die sie passen würden". Die Figuren seien so angelegt, dass dies alle begriffen haben, bloß McMurphy nicht. "Er ist der Dumme in einer Gesellschaft der Weggekrümmten – oder schlicht ein pubertierender Macho?" Dieser Abend sei damit "auch ein Aufschrei: Er giert nach einem Ausweg, den keiner kennt".

Wo ein feiner Regiebleistift nötig gewesen wäre, sei mit einem dicken Filzstift herumgekritzelt worden, bis vom Stoff nahezu nichts mehr zu erkennen gewesen sei, beklagt sich Meike Hauck in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (13.1.2008), die als Grundgefühl zu diesem Abend "Fremdschämen" zu Protokoll gibt, das seinen Höhepunkt erreicht, als Hanna Eichel als Candy strippen und sich dabei mit Sekt übergießen muss. Am Ende weiss sie "vor lauter Klamauk, Chauvinismen und Phrasendrescherei" nicht mehr, wer sich hier über wen lustig macht: "Die Gesunden über die Kranken, die Hobbypsychologen über Freud, die Künstler über das Publikum?"


Kommentare  
Kuckucksnest: geschmacklos, erschütternd, provokativ
Die Premiere war nicht nur eine Frechheit für die Augen. Das Theater als Anstalt? Oder ist der Regisseur irre? Müssen sich gestandene Schauspieler (hervorrgangende Besetzung bis auf McMurphy) heute auf der Bühne entblöden und fern jeglicher Schamgrenze verhalten wie in einer Peepshow, nur weil die Arbeitsmarkt kritisch ist und der junge Regisseur von sich reden machen will?
Das McMurphy nach nur 10 Minuten splitternackt zu sehen ist, ist mehr als eine Provokation. Aber nicht thematisch das Stück betreffend, sondern das Maxim Gorki Theater und seine Inszenierungen betreffend.
Ich bin erschüttert über die postive Kritik, die ich hier lesen muss. Denn alle Frauen, mit denen ich gesprochen habe, fanden die Darstellung unangebracht, fühlten sich belästig. Ist es das richtige Mittel, eine Systemkritik zu übersetzen mit wichsenden Fast-Rentern? Einfach nur Geschmacklos, von Anfang bis Ende.
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