Gestrandet in Dänemark

von Falk Schreiber

Hamburg, 14. Dezember 2013. Dänemark stinkt. Die Gülle stinkt, die die Bauern auf ihren Feldern ausbringen. Die Räume der Asylbewerberunterkunft stinken, in denen der Inder Hanuman und der Russe Sid die Langweile wegkiffen. Die Körper stinken, seit Tagen nicht gewaschen. Nach Amerika wollten Hanuman und Sid, jetzt hängen sie in der stinkenden Provinz, ihre Ansprüche haben sie längst runtergeschraubt. Lolland soll auch schön sein, ebenfalls Provinz, klar, aber, hey!, "Lolland, wo sich halbnackte Mädchen im Pool aalen wie Robben", wie Hanuman in einem Anfall von Selbstsuggestion ausruft. Sie werden es auch nicht nach Lolland schaffen.

Der estnisch-russische Autor Andrej Iwanow entwirft in "Hanumans Reise nach Lolland" eine Zwangsgemeinschaft der Ausgestoßenen. Übriggebliebene der Globalisierung sind die Migranten, die festsitzen im Lager Farsetrup, und die jetzt versuchen, sich bauernschlau durchzuschlagen: indem sie verdorbenes Tiefkühlfleisch aus dem Müll klauben und den Arabern nebenan als "frisch geklaut" verkaufen. Oder indem sie einem dunkelhäutigen Harmlosling ein debiles Monsterweib als "echte Dänin, blond" für einen auf atemberaubende Weise zu langen Fick ausleihen.

Viele Sehnsuchtsorte

Rafael Stachowiak und Sebastian Rudolph geben diese hoffnungsverlorenen Galgenvögel an der Hamburger Thalia-Außenstelle Gaußstraße mit Lust zur Schmiere, mit Begeisterung für bauerntheaterhafte Drastik, die immer wieder ins Dunkle lappt: in politphilosophische und ästhetische Diskussionen, die zeigen, dass Menschen hier ihr Ziel verloren haben und verzweifelt nach einem Halt suchen, den das nackte Überleben nicht bietet.

hanumans4 560 krafft angerer hKampf ums nackte Überleben: "Hanumans Reise nach Lolland" am Thalia in der Gaußstraße
© Krafft Angerer

Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper vom estnischen Theater NO99 inszenieren mit "Hanumans Reise nach Lolland" zum zweiten Mal am Thalia. Vor einem Jahr zelebrierten sie mit Fuck your Ego das Scheitern eines Kollektivs auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Utopie, und wenn man so will, ist ihre Dramatisierung von Iwanows Roman eine Fortführung des damaligen Konzepts: Auch die Lagerinsassen in Farsetrup bilden ein (Zwangs-)Kollektiv, auch sie sehnen sich, naja: nicht unbedingt nach einer besseren Welt, aber irgendeine Welt hätten sie schon gerne. Farsetrup ist aber nicht die Welt, sondern nur noch eine in Auflösung begriffene Chiffre – wenn Lolland und Amerika als Sehnsuchtsorte austauschbar sind, dann ist ohnehin alles egal, und an diesem "alles egal" zerbrechen Hanuman und Sid letztendlich.

Satter Naturalismus

Ojasoo und Semper zeigen dieses Zerbrechen in aller Deutlichkeit, die Videokamera ist gleichberechtigter Mitspieler und sorgt dafür, dass einem jedes Detail in Überlebensgröße präsentiert wird: die Tränen Hanumans, die blutigen Füße Sids. "Was erregt größeren Ekel als eine satte Portion ausgeleierter Naturalismus?", ruft Hanuman an einer Stelle, und eben dieser ausgeleierte Naturalismus ekelt einen direkt im Anschluss aufs Schönste, als Birte Schnöink mit einem Brathähnchen virtuos rumsaut. Eine Virtuosität, die einerseits die Qualität des Abends beweist, andererseits aber auch sein Problem auf den Punkt bringt: Was hier zu sehen ist, ist eben nur ausgeleierter Naturalismus, der kaum weiß, wo er eigentlich hin möchte.

Migration ist gerade ein Thema für die Hamburger Theater: Das Thalia schlug sich im September mit Die Schutzbefohlenen auf die Seite der Lampedusa-Flüchtlinge, die seit einiger Zeit das hanseatische gute Gewissen in Frage stellen. Und das Schauspielhaus zeigte im November mit "Nach Europa" eine extrem stilisierte Migrations-Moritat, die "Hanumans Reise nach Lolland" einmal unbewusst zitiert, als Stachowiak und Rudolph an der Rampe eine Fluchtszene referieren.

Ziellosigkeit

Die politische Schärfe der Vorgänger geht Ojasoo und Semper allerdings völlig ab. Ja, sie spielen radikal mit ihren Formen, wenn sie Videoclips und Puppentheater integrieren, indem sie eine ultrafiese Version des Popsongs "Gangnam Style" illustrieren als hätten die britischen Schockkünstler Jake und Dinos Chapman sich entschieden, Musikvideos zu drehen, oder wenn sie jenseits aller Bedenken Blackfacing einsetzen – am Ende bleibt dennoch der Eindruck einer großen Ziellosigkeit. Am Ende bleibt das Gefühl, dass alles gleich ist, und angesichts ganz wirklich blutender Körper nur ein paar Straßen weiter, die auch am Thalia durchaus schon thematisiert wurden, ist dieses Gefühl fatal.

Hanumans Reise nach Lolland
nach dem Roman von Andrej Iwanow, Deutsch von Friederike Meltendorf
Regie und Ausstattung: Tiit Ojasoo, Ene-Liis Semper, Musik: Lars Wittershagen, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Achim Buch, Sebastian Rudolph, Sven Schelker, Birte Schnöink, Rafael Stachowiak.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Asylbewerber sind spaßsüchtig, notgeil und nie um einen Trick verlegen - "das ist möglicherweise kein besonders korrekter, aber ein streckenweise durchaus interessanter, amüsanter und anrührender", findet Anke Dürr auf spiegel online (15.12.2013). Wahrscheinlich wäre die ein oder andere Szene ziemlich trist, "wenn die Regisseure nicht so ein engagiertes Ensemble hätten". Sebastian Rudolphs Hanuman habe ein extrem hohes Energielevel. "Mal marschiert er in dem viel zu kleinen Zimmer auf und ab wie aufgezogen, mal geht er aggressiv auf die anderen los, aber es ist meist die Kraft der Verzweiflung, die ihn treibt." Rafael Stachowiak als Sid ist sein grüblerischer und ruhigerer Gegenpart, "seine Spezialität ist das bekümmert-erstaunte Schauen", das hier groß und wirkungsvoll von einer Kamera auf die Rückwand geworfen werde."

"Einige Szenen spiegeln gelungen die Verzweiflung und Leere im Lager wider, in anderen wird ausführlich mit Lego- und Playmobilfiguren das Leben nachgespielt, es wird ein Huhn gebraten oder man lässt die Hose runter. Was soll das?", fragt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (16.12.2013). Was der Aufführung fehle, sei Fantasie, denn das Spielen mit Lego-Steinen ist geistlos, wirkt kindisch. "Was der Aufführung ebenfalls fehlt, ist Wahrheit. Man sieht Chaos, Gedankensplitter, Anarchie, keine Haltung, keine große Idee. Das Thema des Ausgeschlossenseins wurde weitestgehend verschenkt, banalisiert." An den Schauspielern habe das nicht gelegen.

 

 

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