Rotkäppchen lebt hier nicht mehr

von Esther Slevogt 

Berlin, 28. März 2007. Es ist im Grunde die alte Geschichte: drei junge Leute suchen das Glück und finden es nicht. Stattdessen geraten sie auf die schiefe Bahn, in eine Gewaltspirale mit tödlichem Ausgang. Als es noch Märchen gab, hätte das Abkommen vom Weg vielleicht ein gutes Ende genommen.

Im Märchen von Rotkäppchen zum Beispiel. In der Geschichte, die uns die neunundzwanzigjährige rumänische Dramatikerin Gianina Carbunariu in ihrem Stück "Kebab" erzählt, dessen deutschsprachige Erstaufführung Enrico Stolzenburg jetzt in der Berliner Schaubühne inszenierte, ist Rettung nicht vorgesehen.

Der Traum vom besseren Leben zerplatzt Stakkato

Die Menschen fressen sich sozusagen selber. Das Rotkäppchen heisst jetzt Madalina, ist ungefähr siebzehn und trägt statt rotem Käppchen überm kurzen gelben Röckchen eine dicke rote Strickjacke. Und weil sie kein Rotkäppchen mehr sein will, sitzt sie nun im Flugzeug, dass sie aus Rumänien nach Westeuropa, genauer gesagt nach Irland bringt. Im Flugzeug trifft sie den Filmstudenten Bogdan, der in Dublin ein Stipendium hat. "Der Name wird kein großes Problem sein", sagt Madalina skeptisch. Sie selbst hat sich vorsichtshalber "Mady-Baby" genannt und "Mady-Baby.Edu" ist auch der Originaltitel des Stücks das Georghe Pascu in ein modisches Deutsch gebracht hat.

In einer stakkatohaften Szenenfolge lässt Carbunariu die Träume vom besseren Leben schnell zerplatzen. Denn als "Mady-Baby" wird Madalina bald von ihrem gewalttätigen Freund Voicu zur Prostitution gezwungen und avanciert kurz darauf zum Internetpornostar. Immer schneller dreht sich auch Spirale von Gewalt und Abhängigkeit. Jede Szene ein Quantensprung. Am Anfang schafft Madalina nur an, als billiger Toilettenfick. Dann wird sie im Internet angeboten, weil das mehr Geld bringt, schließlich vor der Webcam misshandelt, weil erst das richtig Kohle bringt. Nach anderthalb Stunden ist sie tot. Ermordet von Bogdan, der sie nicht nur im Internet in Szene setzt, sondern auch einen Dokumentarfilm über sie dreht, mit dem ihm der Durchbruch in die Etabliertheit gelingt. Da stört dann Madalina und das Kind, das sie von ihm erwartet.

Eine kleine, elende Geschichte, die beim Lesen manchmal rührt, weil es eigentlich noch Kinder sind, die hier am Missverständnis von Freiheit und Glück scheitern und Carbunariu sie zwischendurch immer wieder übermütig im Sumpf plantschen lässt, in dem sie am Ende untergehen werden.

Verschwimmen im Ungefähren

Auf der Studiobühne am Lehniner Platz lässt die Geschichte ziemlich kalt. Enrico Stolzenburg hat sie mit streberhaftem Avantgardismus in Szene gesetzt, der ihr das Leben gänzlich austreibt. Am Anfang sitzen Lea Draeger (Madalina) und Rafael Stachowiak (Bogdan) keuchend vor zwei Mikrofonen und spielen "Flugzeug". Das Mikrophon wird später beim "Blow-Job" wieder eine Rolle spielen, wenn sich Mady schmatzend daran zu schaffen macht. Am Ende wird es scharrend an ihrem schwangeren Bauch hochfahren, den Bogdan symbolisch damit aufschlitzt. Insgesamt bleibt die Geschichte, die vom immer klaustrophobischer werdenden Abhängigkeits- und Erpressungsverhältnis der drei lebt, ziemlich im Ungefähren.

Dabei wäre soviel szenische Enthaltsamkeit gar nicht nötig gewesen. Schon bei Carbunariu passieren die drastischen Dinge zwischen den Szenen. Auch als Zuschauer in der Schaubühne erlebt man nur im Reflex der Gespräche, wie Madalina immer brutaler den Aufstiegsplänen der beiden Männer geopfert wird, die sie bis zuletzt für ihre Freunde hält. Lea Draeger spielt Madalina als irrlichternde Naive, die am Irrtum stirbt, dass "Sexy-sein" ein Bestandteil der Freiheit ist. Rafael Stachowiak und David Ruland bleiben als Bogdan und Voicu viel zu brav, um der Sache die nötige Fallhöhe zu geben. Doch dazu hätten sie einen Regisseur gebraucht, der seine Figuren mitdenkt, statt sie bloß kalt zu drapieren.

 

Kebab (DSPEA)
von Gianina Carbunariu
Deutsch von Gheorghe Pascu
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne: Magda Willi, Kostüm: Almut Eppinger.
Mit: Lea Draeger, David Ruland, Rafael Stachowiak.

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Irene Bazinger bescheinigt in der FAZ (30. März 2007)  dem Drama selbst trotz "aller traurigen Klischees und modischen Beilagen" noch eine gewisse "sympathische Dringlichkeit". Doch die Inszenierung findet sie gänzlich uninspiriert. "Hier hat der Regisseur Enrico Stolzenburg zwar alles in der Hand, aber trotzdem nichts im Sinn. Das Drama der Heimatlosen, die weder vor noch zurück können, wird bei ihm zum heimatlosen Drama, das nicht weiß, woher es kommt, wohin es will - und warum," weshalb "Kebab" für sie "nur müdes Fleisch am Spieß" geblieben ist.

Auch Ulrich Seidler äußert sich in der Berliner Zeitung (30.3.2007) eher unzufrieden: "Nichts ist irgendwie traurig oder gefährlich oder gar tröstlich, sondern alles ist langweilig." Der Regisseur Enrico Stolzenburg habe das Thema Verblendung bearbeitet, "indem er eine anti-illusionistische Aufführung zusammengebastelt hat und dem gesellschaftskritischen Stück den wahrnehmungskritischen Todesstoß versetzte."

Im Tagesspiegel (30.3.2007) zeigt sich Christine Wahl etwas wohlgesonnener. Zwar falle die Dramatikerin nicht durch "Subtilität und Überkomplexität" auf, doch "Enrico Stolzenburg habe das Stück gut gestrafft. "Die Vorhersehbarkeitsmaschinerie schnurrt so forsch und unsentimental wie möglich ab; und dank dieser Maßnahmen bekommen die Klischees weniger Entfaltungsmöglichkeiten als in der Vorlage."

Und auch ein namenloser Kritiker in der Welt (30.3.2007) ist nicht unzufrieden: "Die Regie hat diese bittere Ernüchterungs- und Durchbeißgeschichte des Exilanten-Trios in ihrer schönen neuen Freiheit unprätentiös, geschickt unnaturalistisch und schnell ins genaue Spiel gebracht."

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