Jeans mit viel Kreidestaub 

von Claude Bühler

Basel, 20. Dezember 2013. Der Roman "Entre les murs" lebt von einem Zusammenprall: Am Collège Mozart im 19. Arrondissement, einem der armen Pariser Viertel mit hohem Ausländeranteil aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika, sollen westeuropäische Bildungsstandards durchgesetzt werden. Der Autor und ehemalige Lehrer François Bégaudeau, der das Buch 2006 schrieb, reihte aufnotierte Spitzenmomente seines Schulalltags übergangslos aneinander, "ohne kommentierend abzufliegen, nur zeigen, was ist".

Seine Position vor der Klasse beschreibt er "mit dem Rücken zur Wand". Denn mehrere Schülerinnen und Schüler sind atemberaubend frech und bewusst undiszipliniert. Ihre soziale Behauptung besteht darin, die Lehrkräfte herauszufordern, sich nichts bieten zu lassen. Ihre Helden sind die Banlieue-Rapper und die Fussballer ihrer afrikanischen Heimatstaaten. In ihren Köpfen stecken Nationalismus, Antisemitismus und überkommene Ehrvorstellungen. Aufbegehrt wird schon, wenn Lehrer François bei Grammatikbeispielen amerikanische oder europäische Vornamen verwendet statt etwa Fatimah. Leicht vorstellbar, welche Sensibilitäten Bégaudeau ansprechen will, wenn er die Lektion zum "Dreieckshandel" extra erwähnt, wo Europa einst Sklaven aus Afrika gegen Waren tauschte.

Aufstand in der Mädchenklasse

Er sei gegen das Kopftuchverbot gewesen, sagt er seiner Klasse beschwichtigend. Das Handyverbot des Lehrerkollegiums unterläuft er, weil ihm die Handys nichts ausmachten, wie er in der in Cannes preisgekrönten Verfilmung von 2008 ausführt (Bégaudeau spielte den Lehrer François selber). Aber der einstige Punksänger und Ex-Kommunist kann sich dennoch nicht ganz sauber halten. Mit Sarkasmen verschafft er sich Oberwasser, was die Schüler mit dem Vorwurf quittieren, er "verarsche" sie. Einen Aufstand ruft er hervor, als er Schülerinnen vorwirft, sie hätten sich wie Schlampen verhalten.

Die Kraft des Romans oder auch des Films besteht darin, dass die Konflikte unbeschönigt dargestellt unerträglich erscheinen, und François aber weitermacht, so gut es halt geht, mit kleinen Erfolgen und größeren Misserfolgen. Soweit die Vorlagen, die an die Nieren gehen.

DieKlasse2 560 JudithSchlosser uViele Mädchen, wenig Testosteron: "Die Klasse" in Basel © Judith Schlosser

In Sebastian Nüblings Bühnenversion muss das Publikum auf so vieles davon verzichten, dass sie den Originaltitel nur noch halb verdient. Die Klasse besteht fast nur aus Mädchen, womit das Testosteron und der Fussball als soziale Heldengeschichte weg sind. Die bedrohlich wirkenden Macker, die ihre Gesichter unter Kapuzen oder Mützen verbergen, sind raus aus dem Spiel. Aus der tragischen Geschichte um Souleymane, der im Film von der Schule fliegt, weil er einer Schülerin versehentlich die Tasche ins Gesicht schlägt, wird der nicht klar dargestellte Rauswurf der Black-Metallerin Alex, deren Vergehen im wesentlichen darin besteht, die Lehrerin zu duzen.

Träume und Bedrohungen

Denn statt eines angespannten François führt hier eine durchsetzungsfähige Frau Thomas (Cathrin Störmer) die Schulstunden, die den Krach um das Wort "Schlampen" durchsteht, ohne sich dafür vor übergeordneten Stellen rechtfertigen zu müssen. Ihr Ausraster, wenn die Klasse sie verhört, ob sie lesbisch sei, kostet sie zwar eine (unnötige) Entschuldigung, die aber ihre Autorität nicht ankratzt. Mit einer Lehrerin fällt nicht nur die direkte sexuelle Spannung ab, sondern auch die indirekte der gesellschaftlichen Beobachtung, wie ein Mann sechzehnjährige Mädchen unterrichtet.

Die Schüler in der Vorlage sind von Arbeitslosigkeit und Rückkehr in die Heimatländer bedroht; die Schülerinnen auf der Bühne träumen von Spitzenjobs. Denn obgleich sie aus einer fakultativen Schulklasse stammen, in der sie ihre Chancen auf eine Lehrstelle verbessern wollen, hat sich keinerlei existentielle Bedrohung in die Aufführung übertragen.

Feelgood-Schulalltag

Was wir hier sehen, ist eine feelgood-Aufführung, in der sich Schweizer Schulalltagsnormalität von den Konfliktspitzen aus der Vorlage nicht aus der Ruhe bringen lässt, auch wenn mal Schwämme oder Schandwörter durch den Klassenraum fliegen. Weg sind auch die kulturell bedingten Reibungspunkte: Die Mädchen hier sind so sehr eingeschweizert, als wollte man mit der Aufführung einen Integrations-Preis gewinnen. Das Einzige, was hier an Dampf erinnert, ist der Kreidestaub, wenn sich die Girls ihre bemalten Jeans ausklopfen.

Sehenswert machen "Die Klasse" weniger die elegischen Gesangseinlagen der Lehrerin oder die dräuenden Düsterklänge am Computer, sondern der unverdorbene, gelegentlich ungestalte Charme der Schülerinnen, die hier mal frecher sein müssen, als – man merkt es – sie es sich sonst gestatten.

Die Klasse
nach dem Drehbuch "La Classe" und dem Roman "Entre les murs" von François Bégaudeau Deutsch von Katja Buchholz und Brigitte Grosse, Ins Schweizerdeutsche übertragen vom Ensemble der Spielerinnen und Spieler
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Ursula Leuenberger, Musik: Polly Lapkovskaja, Dramaturgie: Uwe Heinrich, Eva Böhmer.
Mit: Cathrin Störmer, Ariane Schweizer, Asia die Savino, Celine Gerber, Delal Kanas, Delia de los Santos Antonuzzo, Fabienne Götsch, Florentine Kaczmare, Marija Jeremic, Muriel Ziörjen, Nadege Chivor, Nadia Guerrero Ragaglia, Rona Riniker, Sabie Ismaili, Sascha Bitterli, Yaren Peker, Lorenz Mayer.
Dauer: 80 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Die Kreide stäubt, die Schwämme fliegen, zum 'Scheisse!'-Chor flattern die schleudernden Mähnen", beschreibt Alfred Schlienger merklich fasziniert den Abend in der Neuen Zürcher Zeitung (23.12.2013). Nübling choreografiere die Rituale der Revolte im Minutentakt. "Der Atemlosigkeit hätte man dabei gerne noch etwas mehr Luft gegönnt", dafür hebe Nübling das Dokumentarische der Vorlage "auf eine bildstarke Metaebene. Darüber, das heisst, was Schule soll, lässt sich so trefflich nachdenken."

"Regisseur Sebastian Nübling gelingt das Kunststück, den echten Schülerinnen und dem Schüler auf der Bühne auch über intime Momente ein Höchstmass an Authentizität zu entlocken, ohne sie als Personen wie im Menschenzoo auszustellen oder sie zu entblössen", schreibt Dominique Spirgi in der Tageswoche (22.12.2013). Das gelinge ihm, indem er den aufwühlenden Naturalismus, den die Szenerie durchaus habe, stetig breche und die Klasse in regelmässigen Abständen "zur grossen und mitreissend präzise und kraftvoll agierenden Bewegungs-, Sprechgesang-, Action-Painting- und Rhythmus-Truppe zusammenschweisst". Auch Cathrin Störmers Lehrerin wird gepriesen. Fazit: "Sollte man erlebt haben."

 

 

 

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