Gerüche, Geschichten, Gegenstände

von Dirk Pilz

Januar 2014. Seit 450 Jahren auf der Welt, und noch immer ist des Erstaunens kein Ende. Shakespeare. Geboren am 26. April 1564 in Stratford-upon-Avon, gestorben 52 Jahre später an selbigem Ort. Schauspieler, Theaterbesitzer, Dichter. Verfasser von 38 Dramen, 154 Sonetten und einigen Versepen. Viel gelesen, sehr viel gespielt, noch sehr viel mehr beforscht. Wer sämtliche Shakespeare-Texte gelesen und wenigstens die wichtigste Forschungsliteratur studiert hat (was ist die wichtigste?), also meint, Bescheid zu wissen, kann jetzt gern wegklicken. Allen anderen sei dieses Buch auf den Tisch empfohlen.

neilmacgregorshakespeare 140 Ein schwerer Band. Edles Papier, viele Abbildungen. Er will staunen machen, will in zwanzig Kapiteln zu "Reisen in eine vergangene Welt" verführen. In die Welt Shakespeares, zu den Gerüchen, Geschichten, Gegenständen, die ihn umgaben. Das ist Beste an diesem Buch: Es führt in ferne, fremde Welten, es tut nicht so, als sei Shakespeare geradewegs unser Zeitgenosse. Erst über die Fremdheit kommt er uns nah, erst auf Umwegen wird er zum Nachbar.

Vom Charisma der Dinge

Neil MacGregor ist Kunsthistoriker, war Direktor der National Gallery in London. Seit zwölf Jahren leitet er das British Museum. Das spürt man seinem Buch ab. Hier schreibt kein Philologe, kein Fachmann, der sich mit anderen Fachmännern einen Wettlauf im Besserwissertum liefert, auch kein Regisseur oder Theaterprofessor. Sondern ein Liebhaber im schönsten Sinne. Ein Kenner gleichwohl, aber kein Auskenner. MacGregor schreibt: "Shakespeares innere Welt bleibt, so bitter das ist, im Dunkeln." Es fehlt an verlässlichen Quellen, jede psychologische Seelenstocherei kann nicht mehr sein als eben dies.

Also überlässt sich MacGregor dem "Charisma der Dinge", vertraut darauf, dass eine "merkwürdige Kraft" in ihnen liegt: "Sie können, einmal von uns hergestellt, unser Leben verändern." Das war bereits das Credo seiner "Geschichte der Welt in 100 Objekten" (2011). Jetzt betrachtet er die Dinge aus der Shakespeare-Welt, weil sie erlauben, "an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben". Und an Shakespeares eigenen Erfahrungen.

Eine Konfektgabel zum Beispiel

Positivistische Spiegelfechterei wird damit nicht betrieben, aber der "Grundbotschaft aller Werbung" gefolgt: "dass wir zu denen werden können, die wir sein wollen, wenn wir nur die richtigen Dinge besitzen". Man wisse etwa, sagt MacGregor, wie sehnsüchtig viele Elisabethaner vom zeitgenössischen Italien schwärmten, und wir könnten dieser Sehnsucht noch viel intensiver nachspüren, wenn man eine damals modische, teure Gabel betrachtet, stolz mit den Initialen A.N. versehen, die im Rose Theatre verloren ging und 300 Jahre später unter Schutt gefunden wurde.

Nichts ist über das Leben von A.N. bekannt, nur, wie dieser Mensch gesehen werden wollte. Modisch wünschte er zu wirken, elegant. Deshalb diese "sucket fork", Konfektgabel. Man nahm mit ihr Zuckerwerk, Marzipan, kandierte Früchte, Kekse, Lebkuchen aus einer Schachtel. Ein schönes Speisewerkzeug, schön auch die Abbildung im Buch. Man schaut sie an, und fragt sich, wann sie dem Besitzer aus der Hand geglitten sein mag. Vielleicht bei "Sein oder Nichtsein", dem heute berühmten Hamlet-Monolog.

Ärgerliches, zischendes Geräusch

Man aß gern im Theater seinerzeit, knackte Nüsse, naschte Früchte. Die "Groundlings", die Besucher auf den ebenerdigen Stehplätzen, müssen große Mengen an Austern verspeist haben, den vielen Schalen nach zu urteilen, die man im Boden fand. Getrunken wurde Bier und Ale, verbreitet war die Klage über das zischende Geräusch, wenn die Flaschen geöffnet wurden. Vermutlich klagten die Reichen in den Logen. Sie kamen über separate Eingänge ins Theater, brachten Gläser und Gabeln mit, aßen besser, saßen zudem.

A.N., spekuliert MacGregor, könnte ein Adliger gewesen sein, der vor der Vorstellung zu Tisch gesessen hat und das Dessert mit ins Theater nahm. Die Gabel war wichtig, um sich von den Groundlings abzusetzen, dennoch kamen im Theater, anders als zumeist in den höfischen Theatern außerhalb Englands, Höflinge und gemeines Volk zusammen. Shakespeares Stücke richteten sich an die ganze Gesellschaft, und sein Theater war dabei eine sehr kommerzielle Form der Unterhaltung. Es folgte der Mode und zog Modische an; lange, dünne Gabeln zum Beispiel waren damals in den 1590er Jahren, als die von A.N. verloren ging, der allerneuste Schrei.

Spuren einer ruhelosen Welt

Es sind solche Geschichten, die Neil MacGregor erzählt. Die Gabel wird dabei zum Symbol einer Zeit im Umbruch, einer ruhelosen Welt. Ihre Spuren entdeckt er überall, in dem Kelch, aus dem Hamlets Mutter Gertrud trinkt, etwa. Ein solcher Kelch auf der Bühne seinerzeit: ein Politikum. Shakespeare gehörte einer Generation an, die – anders als jene der Eltern – niemals eine lateinische Messe gehört hat. Sie las die Bibel in Englisch, trank den Abendmahlswein aus einem Gemeindekelch, in einer Kirche, aus der praktisch alle Bilder entfernt waren. Der Kelch als Zeichen einer Kultur im Wandel, mit allen Schmerzen des Übergangs, der Ruhelosigkeit.

Man kann solche Zeichen nicht in die Gegenwart zerren. Sie sagen auch nichts über die ästhetische Qualität eines Dramas. Neil MacGregor gibt ohnehin nicht vor, das literarische Geheimnis der Shakespeare-Texte zu lüften, falls es sich lüften lässt, falls es überhaupt sinnvoll sein sollte, von Geheimnis zu sprechen. Werturteile verbietet er sich, auch weil er weiß, dass sie abschließend nie zu fällen sind (Ist "Coriolanus" ein gutes Stück? Wirklich?). Er betrachtet Gegenstände und gesellschaftliche Umstände, er schaut auf Details, historische und soziologische Koordinaten. Und er staunt dabei, dass Shakespeares Texte "auf fast einzigartige Weise zu den unruhigen Verhältnissen der Moderne" sprechen: "Sie fangen für uns die Quintessenz dessen ein, was es heißt, ruhelos Mensch zu sein in einer unentwegt ruhelosen Welt". Dieses Buch macht es einen gern glauben.

 

Neil MacGregor:
Shakespeares ruhelose Welt.
Aus dem Englischen von Klaus Binder.
C.H. Beck Verlag, München 2013, 347 S., 29,95 Euro

 

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