Blog - Die SZ verfilmt die NSU-Prozessprotokolle
Der Rechtsraum ist schwarz-weiß
von Sophie Diesselhorst
8. Januar 2014. Der NSU-Prozess passt nicht in unsere kurzspannige Aufmerksamkeitsökonomie. Er ist einfach viel zu lang. Am 6. Mai 2013 hat er begonnen, und es sind, nach aktuellem Stand, weitere 118 Verhandlungstage bis zum 18. Dezember 2014 angesetzt. Wann ein Urteil fällt, ist bisher völlig unklar.
In den Zeitungen rutschen die Prozessberichte auf den Politikseiten immer wieder nach unten oder hinten; doch Die Süddeutsche hat jetzt gleich zwei Medien entdeckt, die sich super vor den NSU-Berichterstattungs-Karren spannen lassen: Theater und Netz!
In einem fast zweistündigen Video, das es auf sueddeutsche.de zu sehen gibt, lesen vier Schauspieler (zwei Frauen, zwei Männer) in kargem Studio-Set ausgewählte Szenen aus dem Prozessprotokoll (hier das Skript). Alle Zeichen stehen auf Kunst. Das Video ist in schwarz-weiß, die vier Leser sitzen wie ein Streichquartett im Kreis um vier Notenständer, die die dicken Textschwarten gerade so halten können.
Die Rollen wechseln. Nein, die mit der Brille ist nicht die ganze Zeit Beate Zschäpe! Sie schweigt zwar am meisten und verschränkt die Arme, als ihre Kollegin, die die "Regieanweisungen" ("Pause" – "S. beginnt zu weinen") einliest, sagt: "Beate Zschäpe verschränkt die Arme". Doch dann spricht sie auf einmal – als Zeugin oder als Opfer-Anwältin.
Bevor eine Zuschreibung sich allzu sehr einprägen kann, wird sie wieder aufgehoben: Wir sind schließlich im Gerichtssaal. Vor dem Recht sind alle gleich. Dieser Anspruch wird gleichsam in die Atmosphäre gehoben, indem die ganze Zeit leise Musik mitläuft, die sich anhört wie die im Tatort, wenn klar ist, dass demnächst noch eine Leiche gefunden werden wird. In einem kalten Fluss. Es dräut, egal, ob gerade ein Gutachter oder der Angehörige eines NSU-Opfers spricht.
Die Gesichter bleiben meistens Masken, Mimik und Gestik werden sehr sparsam eingesetzt. Die Spiel-Zurückhaltung scheint nochmals zu signalisieren: Die Darsteller müssen allzeit bereit bleiben für den Rollen-Tausch.
Das (immer wieder unfreiwillig komische) Pathos des Understatements suggeriert eine Angst davor, einen Schau-Prozess zu inszenieren – den Eindruck zu erwecken, dass man den Schrecken des Materials theatral ausbeuten will. Außerdem sind wir schließlich noch mittendrin, das Urteil ist, siehe oben, längst nicht gesprochen. "Schau-Prozess" ist natürlich ein übelst vorbelasteter Begriff, mit dem ein deutsches Leitmedium bestimmt nicht in Zusammenhang gebracht werden will. Auch wenn der Schweizer Theatermacher Milo Rau ihn in letzter Zeit produktiv erkundet hat. Bisher allerdings im wörtlichen Sinne im Theater, das heißt: Das Publikum saß mit im Gerichtssaal seiner "Moskauer", "Zürcher" Prozesse und wohnte der Verlesung von "Breiviks Erklärung" durch eine Schauspielerin mit "Migrationshintergrund" (auch eine deutliche Distanzmarkierung) live bei.
Vielleicht liegt es also ganz banal daran, dass die Unmittelbarkeit des Rezeptionsraums Theater fehlt, wenn die verfilmten "NSU-Protokolle" der SZ nicht so wirklich tief ins Bewusstsein schürfen, in dem Sinne, dass sie einem ein nachhaltiges Interesse am Prozessgeschehen einpflanzen würden.
Davon abgesehen, porträtieren sie aber, indem sie sich derart überbetont (ob freiwillig oder unfreiwillig) in die Tradition des epischen Theaters stellen, die Verunsicherung darüber, ob es den neutralen Rechts-Raum, in dem der Prozess angeblich stattfindet, überhaupt gibt. Eine Verunsicherung, die in diesem speziellen Prozess ja eine besonders große Rolle spielt. Da wird's dann doch interessant.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=49EpcfdZApU}
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Den NSU-Prozess zu ästhetisieren, ganz in der Tradition Peter Weiss', ist ein fraglicher Versuch der Aufklärung. Die Auschwitz-Prozesse gingen nicht vom Estaiblishment aus; Fritz Bauer hatte zu viel Widerstand, als dass er dazu gerechnet werden könnte.
Die NSU? Als Ostdeutscher habe ich an der Unschuld zu viel Zweifel. Aber wer ist unschuldig? Die Strukturen der rechtsextremistischen Szene hatten vor der Wende so nicht existiert. Aber wer brachte sie auf das Territorium der DDR? Auf telepolis.de wird über mögliche Antworten referiert, gladius taucht als Gegenstand der Untersuchung recht häufig auf. Der Anteil der staatlichen Geheimdienststrukturen an der möglichen Etablierung einer rechten Szene in der post-DDR werden in dem sueddeutsche-Video nicht weiter thematisiert. Statt dessen wird im Tatort-Ästhetizismus auf persönliche Motive abgehoben. Das ist fatal.
Und was ist mit dem global war on terror ab 2001? Warum sollte sich die BRD da raushalten? Am IRAK-Krieg waren ja die deutschen Geheimdienste beteiligt. Das kam erst hinterher raus.
Wasa wird?