Das Ding - Sandra Schüddekopfs österreichische Erstaufführung von Philipp Löhles Globalisierungsparabel in der Wiener Drachengasse
Ich bin doch kein Auto
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 13. Januar 2014. Es zirkuliert. Und es ist nicht auszumachen, ob die Menschen durch die Dinge wirklich miteinander in Beziehung treten oder ob die Dinge mit Hilfe der Menschen einfach eine Bewegung vollführen. Die Welt ist ein Dorf. Alle mit allem, das hebt sich auf. Also nichts mit niemandem. Wir haben jetzt Globalisation.
Ausschnitte des Weltengefüges
Der Text von Philipp Löhle, 2011 bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt, setzt mit einem Vorspiel im Portugal des 16. Jahrhunderts ein. Magellan bittet Manuel I. um die Zusicherung seiner Unterstützung bei dem Vorhaben, einen neuen Seeweg zu den indonesischen Gewürzinseln zu finden. Der König winkt ab. Die Umsegelung Afrikas sei zwar riskant, aber immerhin funktionierend. Magellan wechselt zur spanischen Krone, ein neuer Weg von Europa westwärts nach Asien wird gefunden, und irgendwann viel später wird die Welt dann ein Dorf sein.
Weltumsegler Magelan und Portugals König Manuel I: Dirk Warme und Yodit Riemersma
© Andreas Friess
Die österreichische Erstaufführung von "Das Ding" verlegt wirklich alle Kontinente auf dem beengten Bühnenboden des Wiener Theaters Drachengasse. Große feste Plastiktaschen, in rot und blau kariert, markieren eine ganze Weltkarte, werden im Laufe des Abends zu Zeichen für Nomadentum und sind am Ende nur noch Müll. Weil aber ihre Endlagerung unmöglich ist, öffnet die Tochter eines asiatischen Unternehmers schließlich eine dieser Taschen und findet das mittlerweile etwas mitgenommene rote Fußballdress mit der Nummer Zehn.
Fabriken, Flugzeuge, Paargespräche
Die Geschichte dieses Fußballdresses verbindet Personen und Situationen des Stücks, setzt diese in einen großen Zusammenhang, der von den Einzelnen allein nicht überschaut werden kann, der ja immer nur einen Ausschnitt aus dem Weltengefüge erzählen kann. Ein Ehepaar irgendwo in Europa; sie sehnt sich nach den begehrlichen Blicken anderer und befriedigt sich fürs Internet, ein Unternehmer irgendwo in Asien meint, sich in diese "princess" zu verlieben.
Im Globalisierungsregal © Andreas FriessViel früher hat er einmal ein T-Shirt herstellen lassen, das der kleine Bruder der europäischen Frau mit seinem Traum vom Dasein als Fußballstar assoziiert. Viel später wird er eben diese Frau in eben diesem T-Shirt eher irrtümlich anschießen. Deren Mann kommt zu spät nach Hause, kann das Ganze nicht verhindern. Eigentlich wollte er rumänisches Schweinefleisch kaufen, weil aber besagter asiatischer Unternehmer nach Europa geflogen war, konnte kein Soja von Uruguay geliefert werden, und er muss somit Rindfleisch mit nach Hause nehmen. Und der Ex-Freund der Frau irgendwo in Afrika und ein dänischer Fernsehmoderator und Textilien, Soja und Hausmeister.
Dieser Querschnitt durch die globalisierte Welt setzt die Schauspielenden immer wieder an verschiedene Positionen. Durch simplen Kopfbedeckungstausch (Achtung: Klischees!) werden Rollenveränderungen deutlich gemacht. Die Bühne bietet mit einem raumhohen Kellerregal Platz für Fabriken, Büros, Flugzeuge, Paargespräche und ist nach hinten mittels Live-Projektionen erweitert. Dass alle mit allem und deshalb eigentlich nichts mit niemandem in Beziehung steht, hat sich die Inszenierung auf alle ihre Fahnen geschrieben.
Verlorener Ort Kindheit
An zwei, drei Stellen bricht eine Sehnsucht auf. "Ich bin doch kein Auto, oder Stuhl", sagt der europäische Ehemann und will seine Menschenwürde verteidigen. Und der Andere mit dem Traum vom Leben als Fußballstar wird wider Willen Künstler. Eine Photographie vom Kinderzimmer seiner Schwester lässt Menschen mehrerer Kontinente wehmütig an einen verlorenen Ort namens "The Childhood" denken.
Bei all diesen Zusammenhängen und Unterschieden gelingt es dem Ensemble über den Abend hinweg immer besser, nicht nur Gespräche auszustellen, sondern sich von Sätzen in Bewegung bringen zu lassen. Ja, es wird sich hier ins Wort gefallen. Und irgendwann wird eine große Geräusch-Wort-Maschine gegeben. Das Chorische als Bild eines Organismus. Es könnte ja auch sein, dass die Sprache sich anhand der Menschen in Systemen und Differenzen ausbreitet.
Wir haben jetzt Globalisation. Am Ende des Abends ist niemand gestorben, wurde niemand gerettet, es ist halt so.
Das Ding (Österreichische Erstaufführung)
von Philipp Löhle
Regie: Sandra Schüddekopf, Bühne/Kostüme: Andrea Fischer, Visuals: Christoph Graf.
Mit: Thomas Groß, Katrin Grumeth, Yodit Riemersma, Johannes Schüchner, Dirk Warme.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.drachengasse.at
Über eine „gelungene österreichische Erstaufführung" berichtet Sebastian Fleischer im "Kulturjournal" des österreichischen Rundfunks ORF (14.1.2014). Löhle lege auf "komödiantische Weise" die "Naivität frei, mit der Mitteleuropäer auf andere Kontinente blicken". Die Stückhandlung sei durchaus "verwirrend", doch "Regisseurin Sandra Schüddekopf und die fünf Schauspieler setzen die Dialoge pointiert um und lassen jeden ihrer Charaktere plastisch erscheinen." Die permanenten sichtbaren Rollenwechsel verliehen dem Abend "zusätzliche Dynamik".
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