Wald aus Füßen

von Isabel Winklbauer

München, 17. Januar 2014. Einerseits eine schizophrene Frau, die mit fünf animalischen Menschenwesen auf einer Müllkippe lebt, andererseits ein Chor von Gehörlosen, der Werke von Bach singt. Die Zutaten, aus denen der belgische Regisseur und Choreograf Alain Platel sein neues Werk "Tauberbach" konstruiert, vereinen wild die unterschiedlichsten Motive. Das Werk birst vor fantasievollen Einfällen, schlägt dabei auch über die Stränge. Zum Glück kriegt der Erfinder gerade noch die Kurve und eine Botschaft kristallisiert sich heraus: Zurechtkommen mit dem, was man hat, ist eine Kunst. Und Genügsamkeit ist cool.

Zittern, stöhnen, plappern

Elsie de Brauw spielt die Müllfrau (inspiriert von der Dokumentation "Estamira" über die verrückte Bewohnerin einer brasilianischen Müllhalde) als raue, wütende, aber kluge Chefin ihrer Welt. "Hunger? Hier nicht", sagt sie, "man kann hier perfekt Spaghetti kochen. Wenn man weiß, wie." Dann wieder jault sie "Fuck off!" und "Get lost!", wenn die Computerstimme aus dem Off zu kritische Fragen stellt. Sie ist umringt von Tänzern, die so weltfremd sind, dass der Verdacht nahe liegt, es könnte sich um abgespaltene Persönlichkeiten der Hauptfigur handeln.

Tauberbach3 560 JulianRoeder xDie Müllbewohner in "Tauberbach" © Julian Röder

Der erste Auftritt dieser Müllkinder ist spektakulär: Sie erheben sich überraschend als ein Wald aus Füßen aus dem Kleidergebirge, das die Bühne überflutet. Mit Armen und Beinen gleichzeitig ranken sie den über ihnen hängenden Scheinwerferbalken und schwingenden Mikrofonen entgegen. Platels Stärke ist die Körpersprache: Die Müllbewohner schwingen umher wie Primaten, zittern, stöhnen, plappern oder vereinigen sich mit riesengroßen Cambrés im Liebesspiel, völlig unzivilisiert.

Könige der Improvisation

Und sie tanzen zu Bach-Werken, die der polnische Künstler Artur Zmijewski einst in der Leipziger Thomaskirche einen Chor aus Gehörlosen singen ließ (hier ein akustischer Eindruck). Kein schönes Werk im klassischen Sinne. Und was so eine Aufnahme mit den Gehörlosen und der Musik veranstaltet, darf diskutiert werden. Platel sieht jedenfalls "Schönheit" in der Kakophonie, verrät das Programmheft. Schon lange wollte er den "Tauben Bach" in ein Stück einbauen. Nun haben die Zuschauer endlich die Chance, den großen Komponisten auf reine Emotion und Energie reduziert zu hören. In Bewegung lässt sich das Ganze allerdings meist schlecht umsetzen; die sonst ungehemmte Truppe wird zag und steif. Offenbar traute man sich nicht, diesem besonderen Gesang etwas entgegenzusetzen.

Sowohl die Müllsammlerin als auch die Gehörlosen sind Könige der Improvisation. So entsteht im Laufe des Abends häppchenweise eine gemeinsame Linie. Seine Glanzpunkte hat "Tauberbach" dementsprechend in kleinen, überraschenden Szenen. Wie etwa in der, in der Ross McCormack mit irrem Blick das Summen der Müllmücken nachahmt und dabei immer langsamer wird, bis der Ton sich als menschliches Geplapper entpuppt, als Handelsansagen eines Börsenschreiers. Die erstaunliche Szene wird durch Vor- und Zurückspulen allerdings unnötig in die Länge gezogen.

Knackwettbewerb

Ein anderes Mal treten Elsie de Brauw und Berengère Bodin zu einem Knackwettbewerb an: die eine mit den Druckknöpfen ihres Mantels, die andere mit ihren Handgelenken. Oder McCormack, der Geräuschkünstler, lässt de Brauw austropfen, als wäre sie aus Lehm und Wasser.

"Die Menschen sollten achtgeben auf das, was sie benutzen", sagt die Müllsammlerin, "Dinge bewahren heißt, sie zu schützen, zu waschen, zu reinigen und so viel wie möglich zu nutzen. Denn ohne sie zu sein ist schrecklich." Ihre Botschaft, aus der stinkenden, toten Materie heraus gesprochen, wirkt rein und klar.

 

Tauberbach
Konzept, Regie, Bühne: Alain Platel, Dramaturgie: Hildegard De Vuyst, Koen Tachelet, Musikalische Dramaturgie: Steven Prengels, Licht: Carlo Bourguignon, Kostüme: Teresa Vergho.
Mit: Elsie de Brauw, Bérengère Bodin, Lisi Estaras, Romeu Runa, Elie Tass, Ross McCormack.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

 

Kritikenrundschau

"Alain Platel zeigt, wie man sogar auf einer apokalyptischen Müllkippe mit Anstand leben und überleben kann. Frenetischer Beifall für eine außergewöhnliche Aufführung", schreibt Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (20.1.2014). "Zu Beginn recken sich aus dem Kleiderhaufen Arme und Beine, langsam krabbeln die Ausgestoßenen der Gesellschaft aus dem Müll hoch. Alle sind deformiert, verrückt, beschädigt." Leben, Tod und Sex, mit allen Ängsten - das verdichte Alain Platel zwischen Sprache, Tanz und Bachs Musik mit seinen exzellenten Darstellern. "Ergreifend und berührend. Ein großer Abend."

"Tauberbach" ist Platels allertraurigstes all seiner traurigen Stücke, so Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (20.1.2014). "Elsie de Brauw verkörpert – nicht nur, weil sie Text spricht, sondern auch in ihren wenigen roh-kantigen Tänzen – das Gegenprinzip zur expressiven Emphase der Tänzer und Tänzerinnen von Platels Ballets C de la B." Von zentraler Bedeutung sei die Einspielung von Bach-Kantaten, gesungen von Gehörlosen. Der unbeholfen-kakofone Chor, ein Falschgesang von Bach–Kantaten, greife mit rührend religiöser Inbrunst jener, die sich selbst nicht hören können, dem Hörenden direkt ans Herz. 

 

Kommentare  
Tauberbach, München/Berlin: Feier des Lebens
Bühne, Tanz, Gesang, Lauterkundung kommen Stück für Stück zusammen und bilden ein Ganzes, das unserer Welterfahrung in Stücke reißt und neu zusammensetzt. Das ist unsere Welt, das sind wir und es ist doch anders. Tauberbach feiert das Menschsein, feiert das Leben, ist apokalyptische Vision und Utopie, pessimistische Weltsicht und naives Vertrauen in den Menschen. Der Abend beschreibt die Welt als Ende und Anfang, er schafft alternative Seins-, Ausdrucks-, Verständnisräume, er behauptet eine Offenheit der Möglichkeiten, die wir gelernt haben, nicht mehr zu sehen. Er ist Sinnzerstückelung und Sinnangebot zugleich, Fragmentierung und Neuentstehung, poetischer Imaginationsraum und Denkangebot, Fragestellung und Aufforderung. Zuletzt gar eine ganz konkrete: So ist der Zuschauer aufgerufen, selbst zu entscheiden, wann dieser Abend zu Ende ist. Und kann dem, der das Ende bestimmt, nicht auch ein neuer Anfang gelingen?

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/03/07/das-summen-der-utopie/
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