Goethe statt Geschichtsbewusstsein

von Lukas Pohlmann

Dresden, 17. Januar 2014. Wie praktisch: Vergangenheit wird uns üblicherweise in Guido Knoppschen Schlagzeilenhäppchen und expertenflankierten Events serviert. Das bedeutet, dass wir uns der Geschichte entziehen können, wir müssen uns ihr nicht stellen, wenn sie Einfluss auf unser Jetzt zu nehmen droht. Wenn sie uns überfordert, unseren emotionalen Haushalt verändert oder uns unliebsame Fragen nach Schuld und Verantwortung stellt.

In seinem Stück "20.000 Seiten" stellt der Schweizer Autor Lukas Bärfuss einen Protagonisten vor, für den das auf einmal nicht mehr gilt. Der junge Allerweltsmensch Tony ist keine große Leuchte, hat aber ein gutes Herz und einen guten Umgang und lebt so vor sich hin. Den haut es nun im Beisein seiner netten Freundin Lisa buchstäblich derart um, dass er sich der Vergangenheit nicht mehr entziehen kann. Pech gehabt?

Entrückt ist normal
Was ihn umhaut, sind 20.000 Seiten Aufarbeitung des neutralen Schweizer Verhaltens, während rundherum der zweite Weltkrieg tobt und in KZs Millionen ermordet werden. Dieser kiloschweren Forschung entledigt sich vom dritten Stock aus ihr Herausgeber, indem er sie gesammelt durchs Fenster wirft, aus Versehen dem armen Tony auf den Kopf. Physisch ist ihm nichts passiert, doch landet er in der Psychiatrie, weil etwas nicht normal ist: Tony, dessen Überforderung André Kaczmarczyk in Burkhard C. Kosminskis Dresdner Deutschen Erstaufführung des Stoffs hinreißend spielt, hat plötzlich den Inhalt der Bücher im Kopf. Vollständig, genau, fehlerfrei. Und weil sich das keiner vorstellen kann, schon gar nicht die selbst der Normalität entrückte Psychiaterin Dr. Gosbor, soll er auf der Station bleiben. Wer weiß, wie lange.

20000Seiten2 560 MatthiasHorn uEine Menge Erinnerungsmasse: "20.000 Seiten" © Matthias Horn

Frau Dr. Gosbor, fulminant von Cathleen Baumann durch zig Persönlichkeitsstörungen gejagt, hat indes, angeregt durch ihren Patienten, den ersten großen Diskurs des Abends zu bewältigen: ihre Abhandlung über die Differenz von Sein und Wirken wird fünf Minuten nach Stückbeginn zur schauspielerischen Glanztat und damit zur Messlatte für den ganzen Abend. Was ihm nicht nur zum Guten gereicht.

Grotesker Höhepunkt
Für Tony beginnt eine Tour de Force. Zwischen meterhohen Jalousietoren, die nach Belieben neue Raumkonstellationen ergeben und ein Assoziationsgemenge von Patientenzimmer bis Viehstallung freilegen (Bühne: Florian Etti), muss er bewältigen, was ihn zunehmend überfordert. Die Untersuchungen, Ziffern und Geschichten bleiben nicht einfach Wissen, das er verarbeiten kann wie ein Computer. Die Fakten bekommen einen emotionalen Gegenpart. Tony wird bald fassungslos, bald traurig, bald wütend. Niemand hört ihm zu, niemand teilt seine Trauer. Nicht einmal, als er im Radio vom Schicksal abgewiesener jüdischer Flüchtlinge berichten will, findet er Zuhörer.

Das Groteske, das sich in allen Szenen und Begegnungen findet, hat seinen Höhepunkt, als ihn ein schmieriger Künstleragent (Torsten Ranft) als Gedächtnisgenie in einer Castingshow platziert. Die Regeln der Sendung brechend berichtet er vom Schicksal des schutzsuchenden Juden Oskar. Niemand weiß, ob er sein Martyrium überlebt hat. Als dieser Oskar nach der Sendung quietschfidel vor ihm steht, aber lieber schnell zur Aftershowparty will als sich zu erinnern, zerbricht Tony vollends.

Ein zehnjähriger Erinnerungswahrer
Bärfuss' Idee einer Figur, die sich in der Gegenwart den Abgründen der Vergangenheit nicht entziehen kann, ist großartig. Leider fehlt Burkhard C. Kosminskis Regie ein wenig die Tiefenschärfe. Trotz relativ kleinem Bühnenraum wirken die Szenen des Mittelteils, in denen Tonys Alleinstehen neben den Oberflächlichkeiten der Anderen gezeigt wird, wie wenig inspirierte Variationen des gleichen Themas. Womöglich hätten hier auch einige Kürzungen gutgetan und etwas weniger Klamauk. Wirkungsvoller wären dann die Auftritte des Ensembles gewesen (neben den Genannten: Laina Schwarz als Lisa und Sascha Göpel in diversen Rollen). Vor allem hätte der feine Einfall mehr Geltung erlangt, den lebensüberdrüssigen Erinnerungswahrer namens Wüthrich vom zehnjährigen Anton Petzold übernehmen zu lassen. Der Auftritt des Jungen bleibt so Füllmasse im Erfahrungsreigen der Hauptfigur.

Dieser Reigen endet im Einvernehmen zwischen der fortschrittsverpflichteten Dr. Gosbor und Tony mit der Wiederholung des Auslösers. Unter Laborbedingungen fällt eine Kiste mit 20.000 Buchseiten auf Tonys Kopf. Es geschieht, was er sich verspricht: Das Düster-Böse wird eingetauscht gegen Chinesisch, Betriebswirtschaft und Goethe. Dass dabei auch seine eigene Vergangenheit gelöscht wird, verschreibt den Abend noch einmal überdeutlich einer Moral, die ihn die ganze Zeit schon prägte.

20.000 Seiten (DEA)
von Lukas Bärfuss
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindberg, Musik: Hans Platzgumer, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Cathleen Baumann, Laina Schwarz, André Kaczmarczyk, Torsten Ranft, Sascha Göpel, Anton Petzold.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

Und hier ist die Nachtkritik zu Lars-Ole Walburgs Zürcher Uraufführungsinszenierung des Stücks im Februar 2012.

 

Kritikenrundschau

Bei Lukas Bärfuss überwiege "trotz einer Geschichte die philosophisch-theoretische Polemik, garniert durch Medienkritik", schreibt Bistra Klunker in den Dresdner Neuesten Nachrichten (20.1.2014). "Es ist eine Mischung also aus Sinnsuche, Betroffenheit, witzigen bis kruden Monologen und Klamauk". Die Figuren wirkten "größtenteils als Karikaturen. Sie markieren, postulieren oder konterkarieren Thesen zur Wahrnehmung und Reflexion." Kosminskis Inszenierung biete einige gute Einfälle. "Dem Klamauk mit Revoluzzer-Reden in der Manier der 70er oder Showbeilagen wie beim 'Supertalent'" fehle allerdings die Brechung, er bleibe "im Unterhaltungsmodus stecken."

Das Stück ziele auf einen "zwiespältigen Kontrast zwischen mahnender Erkenntnis und beißendem Spott", meint Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (20.1.2014). "Doch Elvis-Imitation und Plüschhasen-Gegröle als Entlarvung des Showgeschäfts ahmen nur plakativ nach." Generell fehle es "am ganzheitlichen Schliff und der Regie an Ideen, des Stückes Herr zu werden. Zwischen Bärfuss' Zeilen stehen Denkanstöße, aber man verhetzt sie auf dem Weg zum nächsten erheiternden Aufheller." Die 20.000 Seiten brennten sich so "nicht ins kulturelle Gedächtnis ein".

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