Urbane Schlachten auf der Bitze-Butze-Bühne

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 29. März 2007. Paranoia ist ein Gewächs, das am besten im Sumpf des Halbwissens gedeiht. Im Morast von Botenberichten, Verdächtigungen und Hörensagen, dem richtigen Maß an Information und Desinformation. Heinrich von Kleists "Die Familie Schroffenstein" lässt sich so lesen: als Groteske auf fehlgeleitete Kommunikation, die Misstrauen sät, Panik schürt und manches Opfer mit sich bringt.

So deutet das Drama auch der junge Regisseur Simon Solberg: Es ist der nächstliegende Griff, die Botenberichte in Form von Fernsehnachrichten einzuspielen, und wohl der einfachste des Abends. Sonst verlegt Solberg den Kleist in eine nicht allzu ferne Zukunft, einen suburbanen Raum zwischen Frankfurt am Main, Jerusalem und Sao Paulo.

Ein im Grunde wohlmeinender Erbvertrag entzweit die Familie Schroffenstein, deren einer Zweig in Rossitz, der andere in Warwand beheimatet ist. Wenn eine der Familien ohne Erben bleibt, besagt der Vertrag, fällt ihr Hab und Gut der anderen zu. Doch was Gemeinsamkeit schaffen sollte, schürt Zwist, die Familien belauern einander, und als ein Sohn aus Rossitz tot aufgefunden wird, sehen die Seinen rot.

in die Kleistsche Waagschale geworfenes Expertentum
In der Schmidtstraße 12 kämpfen die verfeindeten Clans unter vollem körperlichem Einsatz ums Überleben. Und um Momente der Leichtigkeit. Schwarzgekleidete Schattengestalten, Wächter, vielleicht Ninjas, federn lautlos aus der Dunkelheit, lauern einander auf, nur die Sturmmasken verraten ihre Herkunft: rot für Rossitz, blau für Warwand. Sie ersteigen Balustraden, stellen mutmaßliche Verräter, entschwinden danach wieder aus dem Blickfeld. Und liefern auch den Sound: Am linken Bühnenrand eine Armada aus Fässern, Dosen, Kanistern und Trommeln, martialische Rhythmen begleiten die Kampfszenen, ein Xylophon erklingt zart, wenn es ernst wird oder romantisch.

Die urbane Verortung des Dramas beglaubigen fünf Frankfurter Künstler, zwei Perkussionisten und Parkour-Künstler, ein Crumper, ein Akrobat und ein Capoerista. Mit blauen Sturmmasken bewehrt, jagen sie Aldöbern, den Boten aus Rossitz über die Bühne. Kesseln ihn ein, verwickeln ihn in Stricke, bringen ihn zu Fall. Auch Jeronimus (Bert Tischendorf) wird so gestellt, er darf sich länger wehren, um dann doch hinterrücks erschossen zu werden. Für diese Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern wird das Projekt vom "Heimspielfonds" der Kulturstiftung des Bundes unterstützt. Anders als die "Ready-Made-Darsteller" von Rimini Protokoll werfen sie nicht ihre Biografien in die Waagschale, sondern ihre forcierte Körperlichkeit, ihr Expertentum in Sachen Stadtraumbegehung.

Liebende Erzfeinde im Einheitsbühnenbild
Im Zentrum des Geschehens steht das geteilte Holzhaus aus Joep van Lieshouts Einheitsbühnenbild für diese Spielzeit, an der rechten Tür steht "Warwand", an der linken "Rossitz", am Ende werden beide mit Gittern und Brettern verrammelt sein. Auf dem Dach aber liegt das Gebirge, der Himmel für Ottokar (Stefko Hanushevsky) und Agnes (Ruth Marie Kröger), die beiden Liebenden aus den verfeindeten Familienstämmen. Vor aufgespannter Plastikfolie und einem Kräutergarten treffen sie sich, ahnen zunächst nur die Identität des anderen, werben maunzend, scherzend, bangend um gegenseitiges Vertrauen. Die Liebe dieser beiden allein verheißt eine Lösung des Konflikts, des Teufelskreises aus aufeinander beruhenden Trugschlüssen und Missverständnissen, denn sie lassen nicht voneinander, bis sie die Wahrheit herausgefunden haben. Als Ottokar für Agnes Wasser von der Quelle schöpft, sie um seine Herkunft weiß und doch trinkt, im blinden Vertrauen auf ihn und zugleich in Furcht, ob es doch Gift sei, was er ihr einflösst – da flirrt Hoffnung auf. Die liebenden Erzfeinde werden zu Kindern, die spielen wollen und sich dabei selbst aufs Spiel setzen.

Schlüssig auch, dass beide Hausherren gleich besetzt sind, Roland Bayer spielt den rachesüchtigen, hartherzigen Rupert ebenso wie den versöhnlichen Sylvester, den einen in Lederjacke, den anderem im Morgenmantel und mit Lesebrille. Etwas von der überbordenden Güte des Sylvesters wurde gestrichen, etwas Jähzorn des Rupert auch, so kommen weniger scharfkantig gezeichnete Figuren heraus. Die Frauen an ihrer Seite spielt Sascha Icks, sorgende Mutter Eustache in Rossitz, hysterische Schreckschraube Gertrude in Warwand.

Nimmt die Material- und Körperschlacht zwischendurch auch überhand, Solberg und seinen Darstellern gelingt es immer, wieder leisere Töne anzuschlagen, Leichtigkeit in eine wunderbare Albernheit kippen zu lassen, Scherz in bitteren Ernst und Verzweiflung. Die Maskerade, der Verkleidungszauber, Hexen und Träume werden ausgelassen, dabei geht zwar manche Information verloren, aber dieser Spuk fehlt letzten Endes keinem.

 

Die Familie Schroffenstein
von Heinrich von Kleist
Regie: Simon Solberg, Bühne: Joep van Lieshout.
Mit: Sascha Icks, Stefko Hanushevsky, Bert Tischendorf, Ruth Marie Kröger.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Judith von Sternburg schreibt in der Frankfurter Rundschau ( 31.3.2007) amüsiert aber nicht überschwänglich über die Aufführung, die für ihren Geschmack nicht abgründig genug ausgefallen ist. Auch fördert das "insgesamt Verspielte" von Solbergs Inszenierung aus ihrer Sicht "nichts Wesentliches zutage,  macht aber Spaß.... Keinen Spaß macht, dass die Textverständlichkeit bei circa 70 Prozent liegt. Obwohl das eine eigene Ironie hat in diesem Drama der Missverständnisse."

Erst ist ihr die Inszenierung zu laut, zu bunt und zu ambitioniert. Doch nach einer kleinen Ohnmacht zeigt sich Claudia Schülke in der FAZ (1.4.2007) dann doch noch ganz gewogen, denn "wer sich nach ersten Frusthürden ... auf das kommunikationsgestörte Körper-Konzept eingelassen hatte, musste dessen Schlüssigkeit bewundern."

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