Wer sich dauernd rechtfertigt, wird infrage gestellt

von Marion Tiedtke

21. Januar 2014. Die Theater waren in den letzten Jahren ungeheuer kreativ: kreativ darin, mit immer weniger Mitteln immer vielfältigeres Theater zu machen und sich in der Diskussion um seine Legitimität mit immer wieder neuen Argumenten zu behaupten. Es wird alles dafür getan, damit das Theater nach außen funktioniert wie eh und je, dabei tut es dies nach innen längst nicht mehr: Die Gagen sind eingefroren oder sogar zurückgefahren, die Ensembles verkleinert und verjüngt, Theaterberufe weggespart, Probenzeiten verkürzt, Angebotsformate vervielfältigt, das Zuschauerklientel geschrumpft, die Spieltage erhöht, die Probenprozesse ineinander verschachtelt, die Kooperationen stetig gewachsen und die Suche nach Drittmitteln selbstverständlich geworden. Fördergelder wandern oft nicht mehr in die Freie Szene, die ohnehin in Deutschland schlecht aufgestellt ist, sondern vermehrt in schon etablierte Häuser, die durch Mischkalkulationen einen Teil ihrer vielen Produktionen finanzieren.

Auslastung und Erschöpfung

Im Theater gewinnt mehr und mehr das Prinzip des Unternehmens die Oberhand: Es geht um Einnahmen, Auslastungszahlen, effiziente, kostengünstige Mitarbeiter, um eine stetig wachsende Produktpalette, die mit dem Theaterlogo gelabelt wird. Der Probenprozess selber ist ein Herstellungsprozess geworden, rein ergebnisorientiert im Zeitbeschleuniger. Erfolgsprogramme und Erfolgsregisseure werden weitergereicht, die Angebote der Theater tragen häufig einen sehr ähnlichen Zuschnitt. Die 15 großen Theaterkünstler bestimmen das Ranking, das heißt, an ihnen entscheidet sich, ob ein Haus ganz oben mitspielt. So wird oftmals nicht gesucht, sondern gefunden; nicht entwickelt, sondern eingekauft. Wer suchen muss, gehört nicht in die erste Liga: Er kann nicht einkaufen, weil er kein Geld hat. Er wird von der Theaterkritik kaum noch wahrgenommen, die ebenfalls über kein Geld für Reisen in die Provinz verfügt und höchstens noch über Ur- oder Erstaufführungen berichten kann.

In einem solchen Theaterbetrieb trifft man auf Schauspieler, die oftmals sechs Produktionen in einer Spielzeit erarbeiten, die immer kürzere Probenzeiten erleben, die unter Fantasiestress und Ergebnisdruck arbeiten, teilweise die Leseprobe einer neuen Produktion schon vor der Premiere der neuen Aufführung bestreiten, die sich in vielfältigen Formaten neben den Aufführungen präsentieren, die mit wenig Geld ihren Lebensunterhalt bestreiten und die schon in der Mitte der Spielzeit völlig ausgelaugt sind oder vom Sabbatjahr träumen. Und man trifft auf Assistenzen, die für mehrere Produktionen gleichzeitig zur Verfügung stehen müssen und keinen Einblick mehr in die künstlerischen Prozesse haben; auf Dramaturgen, die Spielplan, neue Formate, Beiprogramm, Jugendarbeit, Öffentlichkeitsarbeit bedienen müssen, neben ihren mindestens fünf Produktion; freie Regisseure, die bei niedrigen Gagen viele Produktionen verabreden, um sich ihren Lebensunterhalt verdienen zu können; Bühnenbildner, die wieder für die Kostüme verantwortlich sind, weil ihre Fachkollegen eingespart werden müssen; Intendanten, die sorgenvoll schon in den Endproben auf Auslastungsquoten und Einnahmen schauen, auf Kritiken und Zielpublikum.

Sich selbst wegsparen, um nicht weggespart zu werden

In all diesen ökonomisch gesteuerten Prozessen wird das Theater nicht müde, sich obendrein noch selber zu rechtfertigen: als Bildungsanstalt, in der wir bewährtes Repertoire präsentieren und damit am Bildungsgut arbeiten oder aber als sozialpädagogisches Institut, das in der Diversität der städtischen Öffentlichkeit nach neuen Themen, Formaten und Zuschauern sucht und mit einem sozialpolitischen Engagement um sein Existenzrecht kämpft. Beides, unsere Legitimationsversuche in der öffentlichen Debatte und unsere Effizienzbemühungen in den eigenen Betrieben, sind an ein Limit gekommen. Die Theater sparen, um nicht weggespart zu werden, und sparen sich dadurch selber weg. Wer sich andauernd rechtfertigt, der wird erst recht infrage gestellt. Wer sich dem System der Ökonomie unterwirft, wird am Ende mit dem Maßstäben dieses Systems gemessen. Kunst aber unterwirft sich keinem System. Kunst hat nichts mit Ökonomie und Effizienz zu tun. Kunst ist zwecklos, wie Kant es so eindrücklich in seiner Ästhetik definiert hat. Deshalb sollten wir uns diesen Strategien, die uns die letzten fünf bis zehn Jahre bestimmt haben, endlich verweigern. Unsere Sorge sollte dem Wesentlichen gelten: Wie schaffen wir es, als Theater eine Institution zu sein, die Kunst ermöglicht?

Dieser Frage nachzugehen fordert, sie in folgenden unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten:

1. Auf der Ebene der Außendarstellung: Wie müssen die Theater in der Öffentlichkeit auftreten, um diese Position einer Kunst stiftenden Institution wahrzunehmen?

2. Auf der Ebene der innerbetrieblichen Zusammenhänge: Unter welchen Bedingungen kann unsere Theaterarbeit Kunst ermöglichen?

3. Auf der Ebene der jeweiligen künstlerischen Produktionen: Was wollen die Theater als Künstler oder Kunstschaffende wie in dieser Gesellschaft präsentieren?

4. Auf der Ebene der Ausbildung: Welche Konsequenzen hat dies schließlich für die Ausbildung?

Zu 1.: Wie müssen die Theater in der Öffentlichkeit auftreten, um diese Position einer Kunst stiftenden Institution wahrzunehmen?

Meine Ausführungen betreffen die Handlungsspielräume Öffentlichkeitsarbeit, Außendarstellung, Preispolitik und politische Vereinbarungen.

Zu 2.: Welche Konsequenz hat die These, dass Theater Kunst ermöglichen sollte, für die innerbetrieblichen Abläufe? Wie können wir uns aus den Zwängen des ökonomischen Denkens befreien, das sich schon in unseren Produktionsformen eingeschlichen hat?

Im Hinblick auf diese Frage eröffnen sich uns folgende Handlungsspielräume, die wir verändern können: Spielplan, Programmformate und Disposition.

Zu 3.: Was wollen wir als Künstler am Theater präsentieren?

Hier lassen sich folgende Handlungsspielräume benennen: Ensemble und externe Künstler, Programmplanung.

Zu 4.: Welche Konsequenzen haben diese Forderungen für die Ausbildung?

Den subventionierten Ausbildungsinstitutionen geht es ähnlich wie den Theatern: Sie sind von Kürzungen bedroht, handeln in erster Linie zielorientiert, effizient, werben Drittmittel ein, füllen ihre Studiengänge mit immer mehr Lerninhalten für den kompetenten Allrounder, der sich vielfältig auf dem Arbeitsplatz anzubieten weiß. Früher war ein Examen das Ergebnis eines Lernprozesses (künstlerische Reife), heute ist es die Summe der gesammelten Credits und bestandenen Module.

Ganz schnell ist man in der Aufnahmeprüfung dabei, sich zu fragen, wen man ausbilden will. Welchen Mensch wählt man als künstlerisch talentiert aus: den, der sich in den bestehenden Arbeitsmarkt behaupten kann; den, der vielfältige Rollenbilder und Aufgaben erfüllt, also den Durchsetzungsfähigen und Belastbaren? Schon bei der Aufnahmeprüfung beginnt die Auswahl womöglich unter dem Diktat der Ökonomie. Wenn wir uns ihm verweigern, fürchten wir, Arbeitslose auszubilden. Wenn wir uns davon nicht beeinflussen lassen, werden uns womöglich öffentliche Gelder gestrichen, weil wir einer Evaluierung nicht standhalten, die sich nur an Vermittlungszahlen orientiert.

Auf diesen Druck reagieren wir, indem wir den Studierenden die Kompetenzen an die Hand geben wollen, mit denen sie ihr zukünftiges Berufsfeld gegebenenfalls selber kreieren können. Wir konfrontieren sie mit der Realität, dass nicht jedes Studium in einem Anfängervertrag münden muss und fördern Eigenarbeiten und selbständige Projekte. Was wir noch bräuchten, ist Zeit: Die Studierenden haben keinen Spielraum, das Gelernte wirklich zu begreifen, umzusetzen und sich anzuverwandeln.

Mit "künstlerischer Forschung" wieder Vorreiter werden?

Ein mögliches Feld der Hoffnung tut sich für die Hochschulen seit kurzem auf. Es trägt den Namen künstlerische Forschung. Seit Jahrzehnten erhalten die wissenschaftlichen Hochschulen Forschungsgelder aus den jeweiligen Länderbudgets. Wir als Hochschulen der Künste sollen jetzt nachweisen, inwiefern auch wir forschen. Das führt zu einer großen hochschulinternen Debatte, an die sich jedoch die Möglichkeit knüpft, mit zusätzlichen Geldern jenen Experimentierraum zu schaffen, den wir mehr und mehr um uns herum vermissen. Gelänge es uns, diesen Freiraum des Forschens tatsächlich zu gewinnen, könnten die Hochschulen vielleicht sogar Vorreiter ästhetischer Prozesse sein und auf die Theater zurückwirken.

Eines ist klar: Wir werden selbst zur Ware, wenn wir uns dem Diktat der Ökonomie beugen. Die Kategorien, nach denen wir bewertet werden und uns selber zu bewerten drohen, schaffen unsere Autonomie ab. Das Beispiel unserer niederländischen Nachbarn zeigt, dass eine radikale Kürzung des Kulturhaushaltes nur eine Sterbehilfe ist. Sobald die Kunst nur noch als Hochkultur gefördert, sobald die Nachwuchsförderung oder die sogenannte Provinz als Spielwiese und freies Feld einer zukünftigen Generation abgeschafft wird, ist es eine Frage der Zeit, bis gar nichts mehr bleibt als Repräsentationskultur im Hochglanzformat. Die Kollegen von DasArts, der Amsterdamer Theaterschule für einen Master der Darstellenden Kunst, erläutern ihre Situation anhand des Deutschen Fußballs: Es sei in Holland so, als ob es nur noch die erste Bundesliga gäbe, aber keine erste oder zweite Liga, geschweige denn eine Jugendförderung. Solche Entscheidungen haben nichts mehr mit Ökonomie zu tun. Sie sind Ausdruck einer Politik, die unter dem Vorwand der Ökonomie daran interessiert ist, die Autonomie ihrer Bürger sukzessive aufzuheben zugunsten eines systemimmanenten Funktionierens.

 

marion tiedtkeMarion Tiedtke hielt diesen Vortrag leicht geändert bei der Klausurtagung des Deutschen Bühnenvereins 2013. Sie ist Professorin und Ausbildungsdirektorin für Schauspiel, Dekanin für den Fachbereich Darstellende Kunst in Frankfurt am Main und freischaffende Dramaturgin.

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