Irre ins Unbekannte starren

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 22. Januar 2014. Woher kommt die Musik? Die Musik kommt aus dem Schrei. Ob es ein Schreckens-, ein Schmerzens- oder ein Lustschrei ist, jedem Singen geht in Herbert Fritschs erster eigener Oper "Ohne Titel Nr. 1" eine emotionale Äußerung voran. Auf die Spitze getrieben wird das Prinzip in einer Szene, in der alle zwölf Akteure sich nebeneinander aufstellen und immer wieder der Reihe nach, jedes Mal schneller, orgasmisch stöhnen. Menschenskinder!

Wobei, sind das überhaupt Menschen, die da auf kunsthölzernem Boden um ein überdimensionales kunsthölzernes Sofa herum Kunststücke vorführen? Dagegen spricht, dass sie, immer wenn die kollektive Energie erlahmt, neu aufgezogen werden. Das geht so: Co-Komponist und musikalischer Leiter des Ganzen Ingo Günther erzeugt auf einem seiner Instrumente (Vibraphon, Harmonium, Synthesizer) ein knarrendes Geräusch, und alle stellen sich schräg und rücken langsam wieder in die Gerade. Dann schreit einer, und es wird Musik.

ohne titel nr1 3 560 thomas aurin hSpieluhr-Menschen auf Sofakoloss: das Herbert-Fritsch-Opernensemble © Thomas Aurin

Sie sind einfach da. In ihren glänzenden Kostümen und unter ihren Perückenschöpfen sehen sie alle irgendwie gleich aus, auch wenn jeder andersfarbig glitzert. Sie wohnen da, deshalb steht da auch ein Sofa. Logisch. Zum Draufsitzen ist es eigentlich zu groß, also wird es meistens zweckentfremdet. An der Lehne eines solchen Riesen-Holzsofas lässt es sich zum Beispiel wunderbar einarmig schwingen, zum eigenen Vergnügen und dem des schon bald gewohnt hysterisierten Publikums. Was kann man noch so machen? Man muss ja irgendetwas machen, wenn man noch nicht einmal "Murmel" sagen darf.

Man kann eine Menge machen. Wolfram Koch fällt in den Orchestergraben, von dem aus Ingo Günther zusammen mit dem Pianisten Fabrizio Tentoni und dem Schlagzeuger Michael Rowalska eine offene musikalische Grundstimmung erzeugt, hievt sich auf die Randwand und spielt, darauf hängend, Motorrad-Fahren. Später lässt er Papiertücher in seinem Mund "verschwinden", was sein beseeltes Varieté-Grinsen noch breiter macht.

Man kann sich außerdem auf dem Sofakoloss zu schönen Gruppenbildern arrangieren, man kann in kunstvollem Kauderwelsch Konversation machen, und man kann irre ins Unbekannte starren. Niemand starrt so schön irre ins Unbekannte wie die Sopranistin Ruth Rosenfeld (Fritschs Frau Luna), die dabei auch noch unwahrscheinliche Kunststücke mit ihrer Zunge vollführen kann.

Zu Infantilst-Humor befreit

Fritschs Theater läuft, nun auch noch um Textrest und Titel gebracht, zu Hochform auf. Erzeugte die Ouvertüre, für die sich das gesamte Ensemble mit Instrumenten (Balken, Pappkisten, Papierblättern, Blockflöten) im Orchestergraben arrangiert hatte, ein Anfangsmisstrauen, dass sich das Theater hier allzu überschwänglich im Spiegel anschauen würde, so hebt es spätestens die Pups-Szene auf. Da furzt der Schauspieler Jonas Hien pantomimisch und erzieht Ingo Günther dazu, im passenden Moment das passende Geräusch dazu zu erzeugen. Großes Gepupse, große Freude, doch dann schwingt der Begleiter sich auf zum Herr der Lage und pupst immer weiter, und der Schauspieler muss mitmachen. Wie es so gehen kann, wenn man miteinander spielt. Je lustiger es wird, desto brutaler wird es werden. Das Publikum seinerseits wird von der Pups-Szene und ihren Schwestern unnachahmlich fritschesk zu Infantilst-Humor und damit kindlicher Offenheit befreit.

Also: Auch wenn sie am Ende zu Holz werden wollen, sich in holzfarbenen Kostümen auf den Holzboden legen, um so weit wie möglich zu verschwinden – ein bisschen wie ein Kind, das sich die Augen zuhält und sagt: "Ich bin gar nicht da!" – natürlich sind sie Menschen, und was für welche. Böse, eitle, mutige Menschen. Der Winter kommt einem gleich noch kälter vor, wenn man nicht mehr bei ihnen ist.


Ohne Titel Nr. 1
Eine Oper von Herbert Fritsch
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Viktoria Behr, Licht: Torsten König, Musik: Ingo Günther, Herbert Fritsch, Ton: Klaus Dobbrick, Video: Konstantin Hapke, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Florian Anderer, Matthias Buss, Nora Buzalka, Werner Eng, Patrick Güldenberg, Jonas Hien, Wolfram Koch, Inka Löwendorf, Annika Meier, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke, Hubert Wild und als Herbert-Fritsch-Opernorchester: Ingo Günther, Fabrizio Tentoni, Michael Rowalska.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

Kritikenrundschau

"Oper, Operette, Musical und Show werden mit Szenen präsentiert, die nicht nur urkomisch sind, sondern die vor allem die dargestellten Genres auf ihren Ausdruckskern konzentrieren", findet Hartmut Krug im Deutschlandradio Fazit (22.1.2014). Das sei nie sinnloser oder unordentlicher Klamauk, sondern stets, selbst im darstellerischen Trubel, ein analytisches Spiel von hoher Sinnlichkeit und ungeheurer mimisch-gestischer Präzision. Fritsch zeige nicht nur die hohe, sondern auch die niedere Unterhaltungskunst. "Alles aber immer höchst kunstvoll." "Wer Angst hatte, Herbert Fritsch würde sich in seinen bisher genutzten Ausdrucksformen nur austoben und absichern, der kann sich von dieser hochintelligenten und wahnsinnig unterhaltsamen Aufführung eines Besseren belehren lassen."

"Es ist eine Messe. Eine Messe für ein Sofa", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (24.1.2014). "Bitte nicht falsch verstehen. Das Sofa steht nicht für eine Idee oder gar für Gott!" Es gelte, allein der bedeutungslosen Dinghaftigkeit von diesem Etwas zu huldigen. Ja, gut, nach dem ersten großen Staunen über die "wunderwohlgemuten Winzlinge", das das Sofa bevölkern, rutsche die Dramaturgie etwas Richtung Nummernprogramm ab. Aber wie jede Nummer aufgebaut sei und mit welcher Genauigkeitslust sie abgespult werde, sei absolut beglückend − wegen der immer wieder überraschenden und befriedigenden Passgenauigkeit der Choreografien und wegen der Mühe, die sich die Spieler gemacht haben müssten, um diese Abläufe zu trainieren ohne die Laune zu verlieren. "Für uns! Für sich! Für Fritsch! Oder für das Sofa. Egal! Danke!"

"Das Stück ist abstrakt im Sinne des Verzichts auf Geschichte, Handlung, Rollen, Dialog", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (24.1.2014). Und zugleich wimmele es von Reminiszenzen an die Effekte, die Theater und mehr noch seine schmuddligen Brüder Zirkus, Revue und Film auslösen. Ein großer Teil der Komik entstehe aus einem vorgetäuschten Dilettantismus, der auch viel lustiger sei als die perfekte Nummer. "Wohltuend albern ist 'Ohne Titel Nr.1' auf jeden Fall", schließt Müller, aber es biete nicht mehr die Überraschung wie "Murmel Murmel", sei auch nicht mehr von gleicher Dichte in der Komposition und der Arbeit mit Zeit und Raum. "Es ist doch eher eine Vorführung des Handwerkszeugs der Dekonstruktion von Ritualen der Kunst, ohne zugleich von der Notwendigkeit dieser Zerlegungsarbeit erzählen zu können."

"Auch wenn Fritsch sein Publikum gern und ausführlich unterhält – der Gute-Laune-Onkel ist er nicht", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (24.1.2014). In seinen Inszenierungen gehe immer etwas kaputt, werde nackte Verzweiflung überspielt mit Zungenakrobatik, Urlauten, Gebrabbel und Getuschel. "Gute alte Dada-Technik im Grunde." "Ohne Titel Nr. 1" nun habe "eine derart fragile Natur, dass sie unterwegs zum Schlussapplaus das eine oder andere Mal abzuschmieren droht. Wenn das Elegische ins Längliche umschlägt, das Tempo versiegt." Vielleicht, mutmaßt Schaper, fehle der neuen Kreation eine Aufgabe, "zum Beispiel: Wie oft lässt sich das Wörtchen Murmel variieren?" Und dennoch tue es wieder verdammt gut, von Fritsch und seiner Panik-Truppe schief angemacht zu werden. "Moral und Bedeutung gibt’s an jeder Ecke."

"Zuletzt konnte man den Eindruck gewinnen, Fritsch stülpe jedem beliebigen Stoff seine energiesatte Spass-Regie über", schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (25.1.2014). "Und gerade bei 'Frau Luna' war es, als ersticke der Abend in aggressiver Heiterkeit, die dem Zuschauer mit jedem Ton und jeder Geste einen Lachbefehl ausstellt." Jetzt aber fänden die Fritsch-Mittel des übersteuerten Gestenspiels und verzerrten Gesangs, der maschinenhaften Gänge und verdrehten Blicke zu sich selbst, sie blieben nicht nur äusserlich. "Lustig ist das zweistündige Szenen-Arrangement auch diesmal, eine Anbetung der Sinnlosigkeit, ein Lobgesang auf die herrliche Nutzlosigkeit der Kunst und damit zugleich der schönste Ausweis ihrer Existenzberechtigung", so Pilz, doch der Abend sei mehr. "Der Mensch flüchtet vor sich selbst – und wird von sich selbst hinterrücks immer wieder eingeholt." Darauf laufe diese Schauspiel-Oper "Ohne Titel" hinaus.

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