Der Tanz der Unheilskünderin

von Harald Raab

Kaiserslautern, 31. Januar 2014. Ein Mensch allein kann diese Last des Schicksals nicht tragen, dem Leiden nicht in allen Facetten Ausdruck verleihen. Kassandra hat im Pfalztheater Kaiserlautern ein Alter Ego. Sie selbst gibt dem gerade noch Sagbaren Stimme und Gestalt – die Stimme der gemarterten Kreatur. Ihre gesteigerte emotionale Dimension wird getanzt. Zwei Seiten einer hochkomplexen Existenz: Das Drama der Frau in der Männergesellschaft des Krieges. Archaischer Geschlechterkampf wie vor 2500 Jahren, so auch heute.

Als Auftakt eines ehrgeizigen dreiteiligen Antikenprojekt hatte "Kassandra" nach der Erzählung von Christa Wolf am Freitag in Kaiserslautern Premiere. Es war eine Zumutung für zwei Schauspielerinnen, einen Schauspieler, eine Tänzerin und einen Tänzer, aber auch für das Publikum. Die Zumutung nämlich, die Theater immer dann ist, wenn Grenzerfahrungen abverlangt werden, wenn es gelingen soll, einer Katharsis Bahn zu brechen. Da gelingt großes Theater auf einer kleinen Werkstattbühne, große Leistung einer kleinen Truppe – packend, anrührend, zutiefst menschlich, ein Blick in individuelle und kollektive Abgründe.

Umklammern, stoßen, rennen

Elif Esmen als Schauspielerin Kassandra, Katharina Maschenka Horn als Tänzerin Kassandra; beide in blutrotem Hängekleid, schwarzem Mantel, schwere GI-Kampfboots an den Füßen (eindrucksvolle Kostüme: Joanna Rybacka). Als männlicher Widerpart der Schauspieler Jan Henning Kraus und der Tänzer Benjamin Block in der Doppelfigur Aineias, Kassandras zum Scheitern verurteilte Liebe. Was zu befürchten war, passierte nicht: die einen sind zuständig für den Text, die anderen für die Aktion. Auch Elif Esmen und Jan Henning Kraus sind in diesem ganz speziellen Tanz-Theater gleichwertige Partner. Die vier Körper wirbeln zu den peitschenden Rhythmen der Musiken der Bands Tool Anima und Monkey durch den Raum, knallen auf den Boden, ringen miteinander, umklammern sich wie Ertrinkende, stoßen sich ab, rennen gegen die Wand: Freistil in großer, wilder Gestik, energiegeladene Akrobatik, Körperarbeit mit vollem Einsatz. Und dazwischen die kleinen Momente der Erschöpfung und der Hoffnung, dass es da doch noch so etwas wie Gemeinsamkeit in Zärtlichkeit geben könnte. Zwei Körper umschlingen sich, werden zu einem Leib.

Die Bühne von Manfred Schneider bietet in ihrem Purismus der anhaltenden Power-Dynamik reichlich Auslauf: Ein monströses, um seine Mittelachse drehbares Mauerteil, grau, betonfarben, auf der einen Seite von Einschusslöchern zernarbt. An einem Ende die Andeutung eines Pferdekopfes, gemahnend an die List der Griechen, versteckt in einem Holzpferd in die belagerte Stadt Troja gelangt zu sein. Zehn Metallstühle, die in den Verfolgungsjagden scheppernd umgeworfen werden, ergänzen das Bühnenmobiliar.

kassandra3 560 marco piecuch uZwischen Kampf und Zärtlichkeit: Elif Esmen (Kassandra), Benjamin Block (Aineias, Tänzer), Katharina Maschenka Horn (Kassandra, Tänzerin)  © Marco Piecuch

Zwischen Wahn und Klarheit

Kassandra, die Seherin mit dem ramponierten Ruf, welch eine Rolle für Elif Esmen. Sie ist die Frau, die als Königstochter in eine Männerwelt eindringt, von Apollon begehrt und verflucht, weil sie ihn abweist, von dessen Oberpriester Panthoos vergewaltigt, vom Sieger Agamemnon dito und als Beute heimgeführt. Sie ist aber nicht nur das Opfer männlicher Gewalt, viel mehr noch ihrer eigenen Gabe, Unheil vorhersagen zu können, den Untergang Trojas, Agamemnons Tod und den ihren durch die rächende Hand Klytaimnestras. Aber keiner schenkt ihr Glauben. Blind wütet das Schicksal. Christa Wolfs messerscharfen Texte, analytisch klar, klassisch im Satzbau, im Rhythmus des antiken Theaters, psychologisch dekuvrierend: Elif Esmen meistert diese Aufgabe kraftvoll bis zur Erschöpfung, sprachmächtig bis in feinste Nuancen, oszillierend zwischen Selbsthass und Zweifel, zwischen Wahn und unbarmherziger Klarheit.

Eine nicht minder anspruchsvolle Aufgabe löst Susanne Ruppik mit Bravour. Sie muss hauptsächlich mit dem Mittel der Sprache gleich mehreren Rollen gerecht werden. Sie ist Erzählerin, Kassandras Mutter Hekabe, die Amazonenführerin Penthesilea und Klytaimnestra – und das im fliegenden Wechsel. Souverän meistert sie diese Herausforderung. Sie beherrscht Bühnensprache und Bühnenpräsenz alter Schule.

Kreatürliche Sinnlichkeit

Jan Henning Kraus muss ebenfalls mehreren Charakteren gerecht werden: Sieht man einmal von der gebrochenen Figur des Aineias ab, als Apollon, Panthoos, Achill und Agamemnon ist die eindimensionale Weltsicht der Männer gefragt – mit Gewalt zu nehmen, was man begehrt und dann vom göttlichen Walten zu faseln, dem man zu folgen habe.

Das Faszinosum dieser Produktion wäre aber ohne die Regie- und Choreographie-Leistung Nada Kokotovic' vom Kölner Theater TKO nicht zu denken. Bei ihr verbinden sich Schauspiel und Tanz zu einer Einheit in höherer Potenz, zu einem Grad von kreatürlicher Sinnlichkeit, wie er nur selten zu erleben ist. Kokotovic' stringentes Konzept macht überzeugend deutlich, wie aktuell der mythische Stoff auf dem Theater immer noch sein kann. Ihre Bilderfindungen prägen sich ein. Sie widerlegen Kassandras rabenschwarze Prophetie: "Vor den Bildern sterben die Wörter." Beide Elemente feiern in dieser Inszenierung ein hoch dramatisches Fest des Lebens, eines freilich, das nur schwer zu ertragen ist.

 

Kassandra
nach der Erzählung von Christa Wolf
Regie und Choreographie: Nada Kokotovic, Bühne: Manfred Schneider, Kostüme: Joanna Rybacka, Dramaturgie: Viktoria Klawitter.
Mit: Elif Esmen, Susanne Ruppik, Jan Henning Kraus.
Tanz: Katharina Maschenka Horn, Benjamin Block.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.pfalztheater.de

 

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