Landgut, alles gut

von Simone Kaempf

Potsdam, 7. Februar 2014. Die Fortschreibung klassischer Dramen ist schon eine Kunst für sich. Die Figuren in neue Zeiten und andere Verhältnisse versetzen, ihre alten Konflikte unter zeitlichem Abstand neu betrachten, ein Echo auf das alte Stück mitliefern – und das, ohne sich allein bei der Prominenz des Ursprungsstoffs unterzuhaken? John von Düffel, als Dramaturg der emsigste Bearbeiter großer Stoffe, hat vor Jahren, als er seine dramatische Bearbeitung der "Buddenbrooks" vorlegte, den Ton von Thomas Mann so gut getroffen, dass man glauben konnte, der Schriftsteller habe sie selbst geschrieben.

Nun hat von Düffel für Tschechow die Uhren um Jahrzehnte nach vorne gedreht: Es sind die Enkel, die zurückkehren in "Kirschgarten – Die Rückkehr", zurück auf jenes Kirschbaum-bewachsene Landgut, das die bankrotte Großmutter samt Entourage einst verließ. Für ihre Erben ein Sehnsuchtsort eigener Klasse, ein imaginäres Moskau, in ihren Träumen einem Paradies gleich.

Komödiantisches in melancholischem Raum
Erst einmal überrascht, wie weit weg vom hohen Tschechow-Ton John von Düffels Dialoge entfernt liegen, viel läppischer wirken, nüchterner und straighter in ihren Wünschen. Die Vergangenheit rekonstruieren will die Rückkehrerin Ranjewskaja junior samt Bruder Gajew, das Landgut so herrichten, wie die Großmutter es kannte. Wohl auch deshalb weht in der Potsdamer Inszenierung von Tobias Wellemeyer bald eine sanfte Tschechow-Atmosphäre. Der vertäfelte Salon, in dem gespielt wird, trägt mit seiner gepflegten Patina deutlich dazu bei. Ein hoher Raum, angeschabte Flügeltüren, Sonnenlicht fällt durch Fenster schräg herein, in den Strahlen wirbelt der Staub. Ein melancholischer Raum, in dem sich alte und neue Welt begegnen. Hier der abgebrühte Provinzgeschäftsmann Lopachin samt wodka-festem Kompagnon und der staksigen Kirschblütenfest-Königin Dunjascha. In der Tür plötzlich die amerikanische "Mrs. Ranewski", gestylt bis in die Haarspitzen und voller Illusionen, den Kirschgarten so zurückzubauen, wie er einst war.

Kirschgarten1 560 HLBoehme uWo war nochmal die Vergangenheit? © H.L. Böhme

Ein Zusammentreffen, bei dem es komisch wird, sprechen hier doch auch die kulturellen Klischees aus der Zeit, als die Westler in den postkommunistischen Osten drangen. Vor allem den Nebenfiguren gelingen kabarettistische Kabinettstückchen wie dem halbblinden, handwerkernden Hausangestellten Oleg (Christoph Hohmann), der den Transport eines Möbelstücks zur Nummer macht und pragmatischen Überlebenswitz an den Tag legt. Elzemarieke de Vos als Dunjascha fordert die russischen Männer mit ungebrochenem Eifer heraus.

Die komödiantische funktioniert besser als die ernste Seite der Inszenierung, zumal Wellemeyer hypernaturalistisch auf diese Zusammenkunft schaut: Es flackert die Elektrik, wenn vom herumspukenden Firs die Rede ist. Vögel zwitschern, geht es um die Schönheit des Kirschgartens. Wollen die russischen Männer so richtig feiern, landet die Wodkaflasche an der Wand. Dazwischen Diskussionen ums Geld und ums Gut, das längst von heruntergekommenen Datschen umzingelt ist. 

Keine Sehnsuchtslitanei
Wie bei Tschechow sind die vier Akte in klarer Symmetrie angelegt: ankommen, bleiben, wieder abreisen. Wenn die Ranjewskaja junior im dritten Akt ihr Kleid im Stil russischen Landadels des 19. Jahrhunderts zurück gegen ihr IT-Girl-Outfit tauscht, dann ist sie mit einem Schlag aus ihren Kirschgarten-Träumen erwacht. Ihr Vermögen geht ihr im Laufe des Abends verloren, nicht durch lebenspralle Verschwendungssucht, sondern durch ein Scheidungsurteil. Weswegen sie ihre Pläne auch gleich gegenwarts-pragmatisch herunterschraubt. Melanie Straub spielt sie, wichtige Protagonistin des Potsdamer Ensembles, aber die tieferen Beweggründe ihrer Figur kann auch sie nur auf schmalem Grat herausarbeiten.

Zuwenig gibt John von Düffels Text vor, der hier auch seine logische Schwäche offenbart: Zwar betritt die dritte Generation den Kirschgarten, als sei sie erst gestern vertrieben worden, aber zu den offenen Tschechow-Sinnfragen fehlt der Anschluss. Dass es Enkel mit aller Kraft an die Orte zurückdrängt, von denen ihre Vorfahren einst vertrieben wurden, wirkt eher konstruiert als aus dem (Potsdamer) Leben gegriffen. Fazit: keine Sehnsuchtslitanei an diesem Abend, kein wirkliches Streiten alter gegen neuer Ordnung, aber zumindest eine Inszenierung, die daraus noch das beste zu machen schafft.

     

Kirschgarten – Die Rückkehr (UA)
von John von Düffel
Regie: Tobias Wellemeyer, Bühne: Alexander Wolf, Kostüme: Ines Burisch, Musik: Marc Eisenschink.
Mit: Raphael Rubino, Melanie Straub, Bernd Geiling, Jon-Kaare Koppe, Alexander Finkenwirth, Elzemarieke de Vos, Christoph Hohmann.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.hansottotheater.de

 

Kritikenrundschau

John von Düffels Stück wirkt auf Peter Hans Göpfert beim rbb-Kulturradio (8.2.2014) "wie mit der linken Hand in den Computer geschrieben", und zwar so "als wollte der Autor auch zeigen, dass alle Heiterkeit, alle Schwermut, alle Atmosphäre des Originals mit dem Ende der Sowjetunion endgültig weggewischt sind". Zu Lachen gebe es trotzdem nichts, es sei denn, man finde die "aufgedrehten, aber blutleeren Figuren" komisch. Zum Nachdenken tauge die Vorlage ebenfalls nicht. Schüchternheit im Umgang mit Werken der Weltliteratur kann man von Düffel zum offensichtlichen Bedauern des Kritikers auch nicht nachsagen. Regisseur Tobias Wellemeyer halte in seiner Inszenierung "die oberflächliche Spielhandlung lebendig und auch holterdiepolter in Schwung".

Für den Geschmack von Stefan Kirschner von der Berliner Morgenpost (9.2.2014) hat die Komik in Tobias Wellemeyers Inszenierung, "einen Hang zur Übersymbolisierung" und wird ein bisschen zu breit ausgespielt wird. "Knapp drei Stunden dauert die Aufführung, der nach der Pause leider die Luft ausgeht."

Zwar nutzt Düffel die Personennamen Tschechows, doch sind seine eigenen Figuren psy- chologisch flach und von existenziellen Fragen weit entfernt", meint Hartmut Krug in der Märkischen Oderzeitung (10.2.2014). Obwohl Tobias Wellemeyer mit seinem Bühnenbildner Alexander Wolf versuche, ein wenig Tschechow'sche Melancholie-Atmosphäre zu schaffen. "Wobei er die Hauptqualität des Stückes, dessen Witz und Munterkeit, durch ein behäbiges Tempo leider weitgehend verschenkt." Zwar überzeuge die Aufführung immer mal wieder mit kabarettistischen Szenen. Doch das Stück sei mehr ein Konstrukt als eine nach sinnlichen Figuren schürfende Gesellschaftsanalyse. "So fühlt sich das Publikum zwar gelegentlich unterhalten, mehr aber auch nicht."

"Dass sich von Düffel als neuer Tschechow entpuppen würde, hätte niemand erwartet, bloß dass er sich derart drastisch auf das Niveau einer plumpen, dürftigen, billigen Schmuddelfernsehserien-Produktion begeben würde, auch nicht", schreibt Irene Batzinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.2.2014). John von Düffels "Hitparade der Russenklischees", die "mühsam" um Themenkreise wie Globalisierung, Umweltschutz, Altersarmut und "Blühende Landschaften'" angereichert sei, inszeniere Tobias Wellemeyer "so andächtig wie einfallslos, so unscharf wie abgeschmackt".

Der Konflikt Gemeinwohl gegen Eigeninteresse, neue gegen alte Heimat könnte in Potsdam an sich "interessant" sein, denn die "frühere Hauptstadt der DDR-Funktionäre und heutige Hauptstadt des Westberliner Kulturbürgertums hat ganz eigene Geschichten von Verdrängung zu erzählen", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (13.2.2014). "Für die interessiert sich aber weder der Text noch die Inszenierung von Tobias Wellemeyer." Stattdessen lerne man "in schmucken Bonmots, dass man in den USA immer lächeln muss", während Russland als "Land der unbegrenzten Traurigkeiten" ausgegeben werde.

 

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