Paul war irgendwie auch dabei

von Wolfgang Behrens 

Potsdam, 17. Januar 2008. Wer – wie ich – Anfang der 90er Jahre aus Westdeutschland nach Berlin kam, der wurde spätestens nach zwei Monaten von irgendjemandem in das kleine Kino Börse am Hackeschen Markt geschleppt, in dem jeden Abend nur ein einziger Film lief: "Die Legende von Paul und Paula". Indem der Westler den 70er Jahre-DEFA-Kultfilm der Ostler kennenlernte, brachte man damals die Wiedervereinigung ein kleines Stück voran.

Gestern nun, fast zwei Jahrzehnte später, wurde in Potsdam der Wiedervereinigungsprozess ein für allemal abgeschlossen. Im Publikum des Hans Otto Theaters, das – noch – von dem Kölner Uwe Eric Laufenberg geleitet wird, tummelt sich das Bürgertum des alten Westberlin und mischt sich mit der Ostberliner Intelligenzija (ein paar Potsdamer werden auch dagewesen sein), und wie im Rausch – im Wiedervereinigungsrausch – bejubeln sie alle am Ende der Vorstellung jene ganz andere Wiedervereinigung, die da gerade stattgefunden hat: Paul und Paula, Angelica Domröse und Winfried Glatzeder, haben wieder gemeinsam gespielt: und wieder ein fast verhindertes Liebespaar.

Hier zählt die Rampensau!
Der Text aber ist diesmal nicht von Ulrich Plenzdorf, er entstammt der Feder des 1984 verstorbenen Neapolitaners Eduardo De Filippo: die Komödie "Filumena Marturano". Und Komödie, das spielen sie in Potsdam, dass es nur so spritzt und kracht. Keine noch so blöde Albernheit wird ausgelassen, kein noch so vorhersehbarer Gag bleibt einem erspart. Es ist mal zum Totlachen, mal ist es zum Erbarmen. Das Ensemble um Domröse und Glatzeder wirft sich mit einer Lust in die Klamotte, die jede schauspielerische Filigranarbeit im Handstreich von der Bühne wischt – hier zählt die Rampensau!

Doch eines muss man der Regisseurin Petra Luisa Meyer lassen: Inmitten aller noch so dämlichen, nach den Gesetzen des Boulevards abklappernden Brachialkomik findet sie gar nicht so selten überdrehte Bilder von seltsamer Prägnanz. Wenn sich etwa das Hausmädchen Lucia (Ulla Schlegelberger) zu einer von Pavarotti geschmetterten Puccini-Arie selbst den Hintern versohlt und auf diese Art zum Orgasmus prügelt, so ist da auf verquere Art durchaus etwas Spezifisches vom Eros der italienischen Oper eingefangen.

Und wenn in einer herrlich choreographierten Zeitlupenprügelei dreier Brüder (jeder ein wandelndes Klischee: Helge Sauer, Ulrich Rechenbach und Michael Scherff), die nicht wissen, dass sie Brüder sind, auch die Madonna vom Hausaltar als willkommenes Schlaginstrument zum Einsatz kommt, so sagt das auch etwas über das hemdsärmelig pragmatische Verhältnis mancher Süditaliener zur Religion.

Erhobenen Hauptes von Fettnapf zu Fettnapf
Und Glatzeder? Der fügt sich in den laut scheppernden Klamauk bestens ein. Er spielt den reichen Neapolitaner Domenico, das Opfer der Intrige. Seine einst aus dem Bordell geholte Geliebte Filumena, die immer nur die Geliebte geblieben ist, mimt ihm die Sterbenskranke vor, damit er sie aus Mitleid noch schnell mal eben heiratet. Nach vollzogener Zeremonie aber verlässt sie sogleich munter das Totenbett, schließlich war doch die Heirat das Ziel der Maskerade, auf dass ihre drei von verschiedenen Männern stammenden Söhne im Hause Domenicos endlich legitimiert würden. Glatzeder spielt den Genasführten als eitlen Gockel, sich in lächerlicher Wut aufblähend, selbstgefällig posierend und erhobenen Hauptes von Fettnapf zu Fettnapf schreitend: Komödienroutine.

Und die Domröse? Die ist Filumena Marturano. Und das ist dann immerhin doch so etwas wie eine italienische Mutter Courage. Eine Mamma Coraggio. Eine Frau, die sich und ihren Kindern zwar mit praktischer Lebensklugheit das Überleben gesichert hat, die darüber aber auch hart und bitter geworden ist. Sie hat, um ihren Begriff von Gerechtigkeit durchzusetzen – keiner der Söhne sollte als Kind Domenicos bevorzugt aufwachsen – ihre Mutterliebe unterdrückt und die Kinder bei Fremden aufwachsen lassen. Und sie hat in ihrem Leben nie geweint. (Am Ende des Stücks wird sie weinen, denn anders als Brecht ist es De Filippo auch um Rührung zu tun.)

Erinnerungsbild mit Dame
Angelica Domröse ist mit jeder Faser Filumena, die Mutter und Hure, und mit ihr kehrt in das manchmal so rohe Treiben dieses Abends die Schauspielkunst ein. Allein ihrer Stimme stehen hundertfältige Facetten zu Gebote: Sie raut sie an und ist das keifende Marktweib (und noch im größten Geschrei versteht man bei ihr jedes einzelne Wort), sie schattet sie ab und ist eine Dame, sie nimmt ihr die Stütze und ist noch einmal das junge Mädchen. Und immer wieder schwingen in dieser im Grundcharakter so trockenen und geraden Stimme Nuancen unterdrückter Sentimentalität.

Auch nach den schrillsten Albernheitsexzessen genügen der Domröse ein Blick und ein leiser Ton, um das Publikum aus seiner Lachlaune heraus- und ins Melodramatische hineinzureißen. Und das folgt ihr willig. Und kehrt danach nach Berlin-Ost oder Berlin-West zurück (oder auch nach Potsdam) und kann erzählen, es habe noch einmal die Paula gesehen. Und Paul war irgendwie auch dabei.

 

Filumena (Filumena Marturano)
von Eduardo De Filippo, aus dem Italienischen von Richard Hey
Regie: Petra Luisa Meyer, Bühne: Matthias Schaller, Kostüme: Jessica Karge.
Mit: Angelica Domröse, Winfried Glatzeder, Günter Rüger, Monika Lennartz, Friederike Walke, Ulla Schlegelberger, Helge Sauer, Ulrich Rechenbach, Michael Scherff, Helmut G. Fritzsch.

www.hansottotheater.de



Kritikenrundschau

Irene Bazinger äußert sich über die Premiere von "Filumena" in Potsdam in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.1.) nachgerade begeistert. Petra Luisa Meyers "hinreißende Inszenierung" gebe "de Filippos ohnedies kräftig klamaukender Posse haufenweise Zucker, ohne dabei den Zuschauern den Geschmack an Spaß und Humbug zu verderben". "Die großartige Angelica Domröse zeigt ihre Mutter Filumena als Dauerkämpferin mit Herzblut und preußisch grundierter Italianità, zugleich indes als ausgebeutetes Weibsstück, das sich mit trockenem Humor nichts vormacht." Der einstige Paul zur bezaubernden Paula kommt nicht so gut weg: "Im Clinch mit dieser Königin der Gegen-, Seiten- und Sausewinde kann Winfried Glatzeder als Domenico, Prototyp des verbraucht-schleimigen Lebemannes, nur die Hände in den Hosentaschen ballen und die Zähne wie seine geliebten Rennpferde blecken." Die Änderung des Schlusses, dass Filumena hier sterbe, findet Irene Bazinger abträglich. Dennoch: eine Hymne.

Auch Reinhard Wengierek von der Welt (19.1.) ist euphorisiert. Nachdem er nicht ohne Rührung die Erfolgsgeschichte des Film-Paares Domröse und Glatzeder referiert hat, vermeldet er froh: "Um es gleich zu sagen: Natürlich sind beide topfit. Natürlich lodert noch immer in den Augen der Domröse dieses verführerische Feuer. Sie ist das zarte, zerbrechliche Weiblein, das unversehens durchtrieben aasig oder schrill aggressiv sein kann oder todunglücklich. Ganz diesseitig prall, ganz fragil, melancholisch weltentrückt. Ganz die alte, wundersame Zauberin. Die ganz große Schauspielerin. Und Glatzeder ist noch immer der knochige lange Schlaks, das verführerisch maskuline Miststück mit dem gebrochenen, doch stolz versteckten Herzen. Ein wunderschöner Abend der Schauspieler, einfach tolles Theater, auch in den vielen köstlichen Nebenrollen (...)."

Im Berliner Tagesspiegel (19.1.) lobt Christoph Funke, dass Filumena in Potsdam, wie weiland Paula im Film, am Ende sterbe. Das gebe der Inszenierung, die sich weniger um soziale Bezüge als um den Daseins- und Überlebenskampf kümmere, "Würze". Domröse und Glatzeder gefallen ihm ausgezeichnet in diesen Rollen: "Hingabe an das große Gefühl, mit opernhaftem Auftreten, wechseln mit mühsam niedergehaltener Trauer" (Domröse) und: "Bestechend die Ironie, mit der Glatzeder den Lebemann auszeichnet – er baut das Großspurige eines eitel Rücksichtslosen lustvoll auf." Monica Lennartz als Rosalia, Günter Rüger als Alfredo, Ulla Schlegelberger als Lucia würden "die boshaften Kommentare zur großen Geschichte um ihre Herrin Filumena mit hintergründiger Heiterkeit" dosieren. Wobei diese große Geschichte "im ersten Teil durch überflüssige Gefühlspusselei" allerdings "an Fahrt" verliere und die Inszenierung auch recht lang sei. "Aber bei Domröse und Glatzeder, bei Filumena und Domenico, bei Paul und Paula fällt das nicht ins Gewicht."

Lena Schneider in der Berliner Zeitung (19.1.) hingegen sattelt nicht gleich auf den Legenden-Glamour der Protagonisten auf und ist auch eher unzufrieden: "Petra Luisa Meyers 'Filumena' bleibt ein Bilder-Buch der pseudo-italienischen Folklore, das vorgibt, eine Liebesgeschichte zu sein." Dennoch sei die Besetzung natürlich ein "Trumpf". Wobei Glatzeder nur in den gröberen Auftritten mit Angelica Domröse mithalten könne. "Wenn es leise wird, spielt sie ihn (...) nonchalant an die Wand. Dann gefriert er im Vergleich zum leblosen Stein." Natürlich sei "Filumena" auch ein Stück über "das Altern und die hämische Freude des Alternden über den noch Älteren". "Weil diese Botschaft aber einem ziemlich öden Regie-Gemansche mit Torten, Wasserschlachten und Operngedudel folgt, dringt davon wenig durch. Ein Trumpf allein reicht nicht. Blumensträuße gab es am Ende trotzdem."

In der Märkischen Allgemeinen Zeitung aus Potsdam (19.1.) verweist Karim Saab auf die Gemeinsamkeiten von "Filumena" und der "Legende von Paul und Paula". Bedauert aber, dass Meyers Theateraufführung von "Filumena" weder auf die Filmbilder Heiner Carows noch auf die "gefühlvollen Balladen" der Puhdys zurückgreife, stattdessen nur "sehr austauschbare Bilder und beliebige Standards" wie Badewanne und Sahnetorte einsetze. Die Aufführung verfolge die "Konzeption", mit "lautem Klamauk" von der "sozialen Tragik, mit der die Figuren dieser Komödie auch ausgestattet" seien, abzulenken. Die Anlage der Rolle des Domenico von Glatzeder nivelliere die sozialen Unterschiede zusätzlich, während Domröse erst im zweiten Teil, wenn "sie ruhig, gefasst und lebensklug die neue Frau des Hauses markiert" die formelhaften Gesten des Anfangs hinter sich lasse.


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