Das groß geschriebene WIR

von Andreas Klaeui

8. Februar 2014. An diesem Sonntag, den 9. Februar, stimmt die Schweiz über die so genannte "Masseneinwanderungsinitiative" ab, einmal mehr eine Abschottungs-Initiative der rechtsaußen politisierenden Schweizerischen Volkspartei SVP. Einwanderer-Kontingente sollen die "Überfremdung" des Landes verhindern. Zum Zeitpunkt, da diese Zeilen entstehen, ist der Ausgang ungewiss, die letzten Hochrechnungen ließen auf ein knappes Resultat schließen. Es gärt was in der Schweiz.

Als Hausautor am Theater Bern (im Rahmen des Förderprogramms "Stücklabor – neue Schweizer Dramatik") hat Philipp Löhle, der auch einen Schweizer Pass hat, so was wie das Stück zur Stunde geschrieben. Es trägt den Titel "Wir sind keine Barbaren!" – weil "wir", die weißen christlichen Mitteleuropäer, die Zivilisation wenn nicht erfunden, so doch gepachtet haben. Im antiken Griechenland galt allerdings als Barbar, wer das Gastrecht nicht achtete und heiligte.

Kleinbürgeridyll

Zwei Paare, zwei agglomerationstypische* Gartensitzplätze, Buchsbaumkübelchen markieren penibel die Grenze. Elisa Alessi hat ein wenig Vorstadtleben eingezäunt in den Vidmarhallen: etwas modern, etwas minimalistisch, alles nicht zu sehr. Hier wohnen Barbara und Mario (Rahel Hubacher, Jürg Wisbach), er entwickelt künstlichen Sound für Elektroautos, damit sie im Straßenverkehr auch ernst genommen werden, sie ist Köchin, neuerdings vegan.

Nebenan sind Paul und Linda frisch eingezogen (Jonathan Loosli, Mona Kloos), ein jovialer Proll und eine superenergetische Fitnesstrainerin, sie weihen gerade unüberhörbar das Ehebett ein. Es weckt nostalgische Gefühle bei Barbara und Mario. – Man plaudert ein wenig, man hasst sich ein wenig, wie's halt so geht unter Nachbarn, schon die Getränkewahl ist komplex, Rosé oder doch lieber Prosecco und auch das Wasser aus der Kalkröhre ist halt nicht sanft atmend steingefiltert. Löhle skizziert es mit knappen, prägnanten Linien, ein Kleinbürgeridyll – bis das Fremde an der Tür klopft.

Ein Mensch sucht Asyl. Er heißt vielleicht Klint oder Bobo, man weiß es nicht genau. Man sieht ihn nicht, die Figuren können sich nicht einigen, ob er nun schwarz ist oder braun oder schlitzäugig. Geschickt vermeidet Löhle nach dem alltagsgesättigten Auftakt hier jede Konkretion. Nun geht es ums Allgemeine, um das Versuchsspiel.

Der Barbar in uns selbst

Linda und Paul weisen Klint-Bobo ab, Barbara nimmt ihn auf, die hungrige Köchin mit dem zivilisationskritischen Namen, gierig nach Leben und Liebe. Er wird ihr zum Sinnbild und zur Metapher für alle Unterdrückten dieser Erde – und unerbittlich spielt Löhle nun die Etappen durch, Abwehr, Schuldgefühle, Erotik, ein Gletscherspaltenfeld zwischen Selbstbezichtigungslust und Katastrophenlüsternheit. Es ist von abgrundtiefer Schwärze, und weil Löhle Dialoge schreiben kann, ist es auch ungemein witzig und spannend, ein Plot wie von Yasmina Reza, geschmeidig und illusionslos. Löhle ist wohl der nüchternste Beobachter unter den Gegenwartsautoren.

Das inszeniert Volker Hesse nun mit dem boshaftesten Vergnügen. Er spitzt es zu, er bringt die Dinge auf den Punkt, er entfesselt in den Figuren ihre latente Hysterie. Die Berner Schauspieler folgen ihm mit unterschiedlichem Farbspektrum, aber gemeinsamer Verve, immer hart an der Charge. Es ist schlau, es ist schnell, es ist komisch und schmerzlich zugleich, weil man ja widerwillig immer auch über den Barbaren in sich selber lacht, den man nun nicht so sehr mag.Barbaren3 560 AnnetteBoutellier uWir sind Berner, keine Barbaren! Der "Heimatchor" der Laien in den Berner Vidmarhallen  © Annette Boutellier

Die Kraft des Unheimlichen

Dem zieht Löhle als zweite Abstraktionsebene neben der Figur des Fremden einen "Heimatchor" ein, der immerzu "wir" sagt – "Da sind WIR / Und da sind die anderen" – "WIR" groß geschrieben. Eine Gruppenallegorie der Wohlanständigkeit, einerseits, nicht der direkte Handlungskommentar, aber eine periodisch sich meldende öffentliche Meinung. Andererseits bilden die Chorpassagen auch sprachlich einen Kontrast zum Konversationsstück, es ist geformte Rede, Kunstrede, in der die Wortbedeutungen sich infizieren und ins Flirren geraten oder ins Kalauern: "Die Abgründe in unserm Innern sind tief / Unheimlich tief / Unheimlich / Konservativ".

Volker Hesse zeigt das Aggressive an der Gruppe, ihre Wucht, in immer neuen auch sprachlichen Choreographien, mal in der Phalanx, mal als zitterndes, fauchendes Rudel. Es entwickelt viel Intensität, eine Kraft des Unheimlichen; man merkt: Volker Hesse kennt sich aus mit Laien-Chören; er hat ja unter anderem schon Altdorfer "Tellspiele" und ein grandioses Einsiedler "Welttheater" inszeniert. Hier besteht der Chor aus 26 Statisten, drei, vier Jugendliche sind darunter, die Mehrzahl Rentner: ganz wie beim Publikum der SVP. Und es ist schon beeindruckend, wie die Laiensprecher Löhles artifizielle Textfelder bewältigen. Sie tun's in Berndeutsch, aus dem "WIR" wird also ein "MIER", es verleiht ihren Auftritten eine Spur zusätzliche Bodenhaftung und liegt ihnen natürlich näher.

Im Original spricht der "Heimatchor" hochdeutsch – es könnte genauso gut Französisch, Englisch oder Tagalog sein. Löhle gibt dem Chor denn auch die schöne Regieanweisung: "Die Nationalhymne ist der jeweiligen Nation anzupassen, in der das Stück aufgeführt wird."

 

* Die Agglomeration bedeutet in der Schweiz so etwas wie den Speckgürtel der Vorstädte um die eigentliche Stadt, den Ballungsraum.

 

Wir sind keine Barbaren! (UA)
von Philipp Löhle
Regie: Volker Hesse, Bühne und Kostüme: Elisa Alessi, Choreografie: Graham Smith, Musik, musikalische Einstudierung des Chores: Michael Frei, Licht: Rolf Lehmann, Dramaturgie: Karla Mäder.
Mit: Rahel Hubacher, Jürg Wisbach, Mona Kloos, Jonathan Loosli und Chor.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Der pointensichere Philipp Löhle gebe alle seine Figuren der Lächerlichkeit preis, schreibt Michael Feller in den Zeitungen der AZ Medien (Aargauer Zeitung, Solothurner Zeitung, Basellandschaftliche Zeitung) (10.2.2014). Und ist noch mehr als davon beeindruckt von der Chorarbeit: "Als im Verlauf des Stücks aus der Beschaulichkeit predigenden Gruppe ein Monster wird, wird er richtig klasse." Die Volksmasse zeige nun ihre hässliche Fratze. "Aus der Komödie ist ein beklemmendes Wutbürgerspiel geworden." Das Stück halle nach, weil Löhne ein brennendes Thema "ohne Zeigefinger" behandle und dabei die Lächerlichkeit der Diskussion "Pro und kontra Ausländer" entlarve, "an die wir uns längst gewöhnt haben".

Daniel Di Falco wäre froh gewesen um mehr "dunklen Grund" unter dieser "gar flotten Farce", die er in Der Bund (10.2.2014) so beschreibt: "Löhne installiert hier ein Loch, und darum herum lässt er das ganze Karussell aus Gerede und Gerüchten über das 'Fremde' kreisen, die er dem realen Alltag 'abgeschrieben' hat, wie er erklärt." Hesse halte das Karussell wacker in Schwung, aber den "überraschenden Blick auf jene Dinge, die in den öffentlichen Debatten nach eingefahrenen Mustern ablaufen", den zu offenbaren der Regisseur sich vorgenommen habe, gebe das alles nicht her. Für die Abstimmung könne dieser Abend zwar nichts. "Aber schon wenige Stunden nach der Premiere hat sich gezeigt, wie eine machtvolle, eine erschreckende, eine echt dramatische Demonstration dieses Denkens wirklich aussieht."

Philipp Löhle "schafft es, gesellschaftspolitische Konfliktsituationen in süffigen Geschichten zu erzählen", berichtet Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (14.2.2014). "Bislang hat er das mit lakonisch-hintergründigen Dialogen getan. In seinem neuen Stück bedient er sich aber so entschieden eines Boulevardtons, dass man meinen könnte, Yasmina Reza schicke zwei Ehepaare ins Rennen." Der Heimatchor gilt dem Kritiker in diesem "Boulevardgeplätscher" zunächst nur als "Geschmackverstärker"; mit Eintreffen des Fremden aber füge er sich zunehmend überzeugend in die nun einsetzende "dramatische Elegie". Volker Hesse habe dem Stück eine "betont zurückhaltende Uraufführung" geschaffen.

Kommentare  
Wir sind keine Barbaren, Bern: Zorngründe
Das Barbarische oder als Metapher(!) "das Barbarische in uns" hat aber doch nicht immer gleich etwas mit dem sogenannten "Fremden" oder der sogenannten "Überfremdungsangst" zu tun, oder? Wut und Zorn können doch noch viel mehr Gründe haben als nur diesen einen. Warum z.B. wird Meret Becker zornig, wenn sie auf ihr Handy schaut? Auflösung hier:
http://www.amnesty.de/2013/10/31/bitte-recht-zornig
Wir sind keine Barbaren, Bern: Kritik-Link
In DER BUND (Bern) ist heute eine Kritik erschienen: http://www.derbund.ch/kultur/theater/Wir-wissen-wo-wir-aufhoeren/26339909/print.html
Keine Barbaren, Bern: zum Vergessen geschaffen
Hier mein subjektiver Eindruck dieser Inszenierung:
Ein müder Klamauk. Die Schauspieler taten mir fast ein wenig Leid, bei all den schlechten Pointen, die da absolviert werden mussten. Und wenn ich mich so umgesehen habe, war ich bei weitem nicht die einzige, der sich quälend gelangweilt hat. Und was an dem Abend dramatisch oder politisch hätte sein sollen,
ist mir total schleierhaft. Da find ich Zeitunglesen inspirierender und Olympia schauen bzw nicht schauen politischer.
Sorry.
Viele moderne Stück finde ich recht schwer zu verstehen, aber regen dann meist doch irgendetwas an.
Phantasien, Selbstreflektionen, Assosiationen etc. Hier hatte ich schlicht das Gefühl für dumm gehalten zu werden.
Ein Abend geschaffen um vergessen zu werden.
Da können Inszenierung und Schauspieler noch so virtuos sein. Der Chor noch so anrührend. Das Stück gehört zum schlechtesten, was ich je auf einer Berner Bühne gesehen habe. Und das will was heissen.
Keine Barbaren, Bern: Boulevard der Witzigkeit
Ich war auch verärgert über den Abend, halte aber nicht das Stück, sonder die Regie und die Schauspieler für die Schwachstellen. Mit dem Gagstreuer verhindert Hesse jede mögliche Schärfe und die Akteure folgen im bereitwillig auf den Boulvard der Witzigkeit . Und zum Chor muss gesagt werden; wer sich den Pollesch Chor im Schiffbau angesehen hat,( auch Laien), kann über diese banale, technisch wirklich schwache Umsetzung in Bern nur den Kopf schütteln. Hier von einer starken Wirkung zu sprechen kann nur von Unkenntnis zeugen. Alles sehr ärgerlich.
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