Wir Hubers. Aus 60 deutschen Jahren

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 18. Januar 2008. Schon im Foyer fällt das Stichwort: "Familienaufstellung“. Und tatsächlich, da hängt ein Gemälde in Lebensgröße, es zeigt fünf junge Menschen vor einem schwarzen Flügel. Sie schauen ernst und feierlich dem Betrachter entgegen. Wenig später bietet sich auf der Bühne das gleiche Bild, doch diesmal atmet es. Vor sich halten die fünf Nachkommen eine Schiefertafel, auf der steht HANS geschrieben. Hans ist der Ausgangspunkt der Geschichte, die Kinder gruppieren sich um den toten Vater und erinnern sich: Eine Familienaufstellung im Wortsinn, keine Psychospielchen.

Schreibauftrag
Von leichter Hand skizziert Autor und Regisseur Jan Neumann sein "Familienhistorienspiel“, wie es im Untertitel heißt, um die Familie Huber. Dabei schlüpfen alle Schauspieler einmal in die Rolle des allwissenden Erzählers, der detailreich und mit subtilem Witz die Familiensaga aufdröselt. Dazwischen wird in schnellen, teilweise improvisierten Szenen das Familienleben durch die Jahrzehnte gespielt.

Entstanden ist das nun uraufgeführte "Kredit" als Auftragsarbeit für das Schauspiel Frankfurt, wesentlich geprägt auch von den Schauspielern Nadja Dankers, Max Landgrebe, Anna Grisebach und Stefko Hanushevky im Probenprozess. Bereits zuvor hat der Autor und Regisseur seine zarten, komischen Geschichten zwischen Vorgeschriebenem und Improvisation gesponnen, etwa in "Liebesruh", ein Stück um alternde Liebe und Euthanasie.

Atheist wegen Gagarin
Im Zeitraffer geht es durch die Jahre,  1948, 1962, 1974, 1984, 2007, 2008. Zwecks Kontextualisierung wird Hans’ Geschichte mit historischen Daten versetzt – und dann spielt Jurij Gagarins Flug ins Himmelreich bei Hans’ adoleszentem Glaubensverfall plötzlich eine Rolle, die Bankenpleite von 1974 bei seiner Eheschließung und der Vertrag von Lissabon 2007 an seinem 58. Geburtstag.

Auf den obligatorischen Festen finden jene Begegnungen mit den fremd-vertrauten Verwandten statt: zwei Beerdingungen, eine Konfirmation, eine Hochzeit, eine Taufe, ein Geburtstag. Im Zyklus des Lebens biegt Neumann dabei die alte hoffnungsvolle Klammer, jeden Tod mit einem neuen Leben zu verbinden. Skurrile Geschichten vom elterlichen Bauernhof vereinigen sich mit der heterogenen Gemengelage der Nachkommenden, mit Pariser Bohemiens, Finanzgenies und rebellierenden Studenten. Der Clash der Generationen eskaliert regelmäßig in einem aufgeregten und lautstarken Durcheinandergeplapper, bei dem jeder irgendwie einen Brocken abbekommen möchte – sei es Recht, Aufmerksamkeit oder einfach nur das letzte Wort.

Verwandlungsmaschine mit Kreidetafel

Die Bühne wird zum Erinnerungsraum. Weil Erinnerung immer auch Arbeit ist, kommt sie etwas ungeschlacht daher: Mit hellem Stoff bezogene Lattengerüste bilden die Wände, einziges Möbelstück ist ein Flügel. Hinter ihm hängt ein Gestell voll Perücken, überall stehen schwarze Schiefertafeln herum. Auf ihnen zeichnen die Schauspieler mit Kreide alles, was sie an Requisiten brauchen: Blumen, Wolken, Fische, Bäume. Im Verlauf des Abends bilden die Tafeln eine Bildergalerie, der Bühnenraum ein Museum.

Denn Neumann nimmt das Theater als Verwandlungsmaschine, in der die Kunst des Erzählens fließend in die Kunst des Spiels überführt wird. So gibt etwa der hinreißende Stefko Hanushevsky den braun verfärbten Bruder Bruno, seine schüchterne Tochter Friedel und ihren behinderten Sohn Bruno junior. Damit packen der Regisseur und seine Schauspieler das Theater an der Wurzel, zur großen Freude des Publikums.

Komisches Erinnerungsfeuerwerk
Im strengen Schwarz-Weiß der Bühne wird so ein temperamentvolles, zuweilen etwas chaotisch überbordendes, durch und durch komisches und doch vom heiligen Ernst getragenes buntes Erinnerungsfeuerwerk abgebrannt. Allein der Titel bleibt verwirrend – Kredit ist vielleicht das gemeinsame Blut, die geteilte Erinnerung, aber es kommt auch noch im Gasthof vor, der "Zum goldenen Kalb" heißt, im "Erwachsenengeld", das Hans’ Tochter Nanni einmal zückt, in den Münzen, die am Ende aus einem Automaten klappern. Und da ist natürlich das Elternhaus, der zentrale Ort, der aber immer kleiner wird – immer mehr umliegende Felder werden verkauft, erst Reihenhäuser und schließlich eine Shoppingmall gebaut.

"Glaubt ihr eigentlich, Geld ist Kapital?", fragt Anna Griesebach einmal, und hebt dann an zu einem kurzen Vortrag über das Kapital Kreativität, der auf Beuys' furchtbar berühmten Aufruf zusteuert, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Dieses redliche Bemühen um einen kleinsten gemeinsamen Nenner von Kreation, Kreatur, Kapital und Konsumtion verleiht dem Historienspiel eine überflüssige Bedeutungsschwerfälligkeit, erzählt es doch genug, auch ohne dass sich die Kapitalaufstellung zur Familienaufstellung gesellen müsste.

 

Kredit, UA
Familienhistorienspiel von Jan Neumann
Regie: Jan Neumann, Bühne: Thomas Goerge, Kostüme: Nini von Selzam.
Mit: Max Landgrebe, Nadja Dankers, Daniel Stock, Anna Grisebach, Stefko Hanushevsky.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Rundschau (21.1.2008) schreibt Peter Michalzik, die Schauspieler seien "beseelt vom Geist des Stegreifs, aus dem heraus Neumann mit ihnen auch das Stück entwickelt hat". Die Dialoge seien erst auf den Proben entstanden, bloß die erzählenden Off-Texte habe Neumann vorgegeben. Es könne sein, dass sich aus der "offensichtlich überschäumenden Probenatmosphäre etwas viel Geschrei in der Aufführung" erhalten habe, doch verfolge Neumann sein Thema der Einsamkeit "höchst zielstrebig und stilsicher". Neumanns Pathos habe "keine Angst vor Kitsch, selten ist berührender erzählt worden." Jan Neumann sei als Dramatiker und Regisseur "ein Riesentalent", die Schauspieler seien "großartig", insbesondere Stefko Hanuschevsky habe "großes Format. Er spielt den Tod, indem er ihn nicht bemerkt, und gibt ihm dabei alle Facetten, die er zwischen todtraurig und vollkommen absurd hat."

Im Rhein-Main-Teil der FAZ (21.1.2008) schreibt zer.: "Es geht um die wesentlichen Dinge, um den Zusammenhalt, um das Gefühl, einander zu haben, aber auch um den Überdruss und die Langeweile bei Festen im Verwandtenkreis." Den Schauspielern gelängen "psychologisch genau beobachtete Momente". Neumann werfe "immer einen liebevollen Blick auf die Familienbande, und durch alle Brüche und Risse hindurch, hinter allen Lässigkeiten und dem unendlichen Gerede lässt er hervorscheinen, dass es das Verbindende ist, das die Individualität allererst entstehen lässt". Ein "äußerst kurzweiliger Abend".

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