Der erste Mann im Leben eines Mädchens

von Friederike Felbeck

Bochum, 15. Februar 2014. Die Vorhänge vor den Fenstern sind alle verschlossen. Etwas Schreckliches ist geschehen. Aber auf der Leine hängt wie zum Trotz strahlend weiß gewaschene Wäsche. Ein Familienvater kehrt an einem Freitag nach jahrelanger Haft zurück nach Hause. Sein Anzug schlabbert um den schmal gewordenen Körper. Seine Frau hat inzwischen ein Kind mit dem jüngeren Nachbarn. Die gemeinsame Tochter, die ihn des Inzests beschuldigt hat, ist fortgezogen. Schon in der ersten Stunde des Wiedersehens mit Jeanne, seiner Frau, brechen die üblichen Streitereien los, der trübe Alltag aus Gewalttätigkeiten und Erregung wird nach Jahren der Trennung sofort wieder nach oben gespült. Dabei schwebt über allem die Frage, was tatsächlich zwischen Vater und Tochter geschehen ist.

Das Schauspielhaus Bochum zeigt das bekannteste Stück des 2008 verstorbenen belgischen Schriftstellers (und mehrfachen Anwärters auf den Literaturnobelpreis) Hugo Claus in einer Inszenierung des niederländischen Regisseurs Eric de Vroedt. Der zehnteilige Zyklus "MightySociety" hat de Vroedt bekannt gemacht: Darin setzt er sich damit auseinander, wie die niederländische Gesellschaft nach den Morden an dem Politiker Pim Fortuyn und dem Filmemacher Theo van Gogh nicht mehr dieselbe ist.

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Klug siedelt de Vroedt nun seine Sicht auf Hugo Claus in einem Milieu an, das nach oben und unten offen ist. Dieses Zuhause kann überall sein. Seine hyperrealistische Inszenierung lebt von einem ausgezeichnet agierenden Ensemble. Jürgen Hartmann ist Heimkehrer Georges, der hochschnellt, wenn von der alten Geschichte die Rede ist, der versucht, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen und doch hin und her taumelt zwischen Ohnmacht, Zukunftsangst und rasender Eifersucht auf das neue Glück seiner Frau. "Wenn nur ein Erdbeben kommen würde", ruft er und gießt doch sorgsam die Blumen auf dem Balkon.

Der Schrecken über das eigene Begehren
In einer schnellen, hart aufeinandertreffenden Szenenfolge offenbart Claus die unglaubliche Wahrheit. Es ist Georges' Albtraum und zugleich die vielschichtige Rekonstruktion dessen, was an jenem Abend zwischen Vater und Tochter geschehen ist. De Vroedt entscheidet sich für eine Videocollage, die auf die geschlossenen Fenster der Hauswand projiziert wird, hinter der die Wohnung von Jeanne und Georges liegt, eine Parallelbühne von mehreren Zimmern. Die aufreizend in kurzen weißen Shorts und Kuschelsweatshirt gekleidete Christiane, weise und fordernd gespielt von Kristina Peters, ist eine kesse Lolita, sehr blond und mit rot geschminkten Lippen, eine Freitag-Geborene. Vater und Tochter philosophieren, sie albern und tanzen. Und beiden Gesichtern ist – dank eines sehr gut fotografierten und geschnittenen Films – immer wieder der Schrecken über das eigene Begehren abzulesen. Das Unaussprechliche geschieht als logische Konsequenz, beiläufig und hastig, aber einvernehmlich.

Georges gesteht seiner Frau und ihrem Geliebten, was tatsächlich geschah. Die drei sitzen, ein Glas Rotwein in der Hand, vor dem Foto der jungen Konfirmandin Christiane wie vor einem Altar. "Es ist, als hätten sie ein Seil an unsere Eingeweide geknüpft und würden daran ziehen, von einer Seite an die andere." Jeanne (Bettina Engelhardt) ist eine Frau zwischen zwei Männern und eine Mutter, deren eigene Tochter zur jüngeren Nebenbuhlerin geworden ist – mal schlampig, mal schmerzvoll und unendlich ratlos. "Was machen wir denn jetzt damit?" fragt sie immer wieder, denn keiner von ihnen hat das Zeug, mit der Situation umzugehen. Woher denn auch?

Zum Schluss ein Familiengemälde
Erik (Raiko Küster), der Liebhaber und junge Vater, macht sich aus dem Staub. Da hat Georges einen letzten Wunsch: Die beiden sollen noch einmal miteinander schlafen. Er sitzt auf dem Sofa, hält ihr kleines Kind in den Armen und weint bitterlich. Doch die beiden hüpfen nebenan nur auf der Matratze herum und stöhnen dazu. Am Ende liegen Georges und Jeanne und das Kind eng aneinander geschmiegt im Ehebett. Die gemeinsame Tochter Christiane tritt auf und nimmt auf dem Sofa Platz. Ein Familiengemälde.

Vor diesem Stück darf man Angst haben. Es setzt die eigenen mühsam erlernten Erklärungsmuster außer Kraft. Alles an dieser Geschichte und seinen Handelnden ist anders, als wir es kennen, erwarten oder gerne hätten. Die Kategorien von Opfer und Täter funktionieren nicht mehr. "Freitag" von Hugo Claus ist ein unerlässlicher Beitrag zur Diskussion über Inzest, Kinderpornografie und Sicherheitsverwahrung. Die Inszenierung von Eric de Vroedt zeigt auf eindrucksvolle Weise, was Theater kann, wenn es zupackend, eindringlich und spannungsvoll erzählt. Und spricht von etwas, was offenbar gefährlich nahe liegt: dem unerhörten Begehren zwischen Vater und Tochter.

Freitag
von Hugo Claus
Regie: Eric de Vroedt, Bühne: Maze de Boer, Kostüme: Lotte Goos, Musik: Florentijn Boddendijk, Remco de Jong, Lichtdesign: Bernie van Velzen, Licht: Wolfgang Macher, Dramaturgie: Olaf Kröck.
Mit: Jürgen Hartmann, Bettina Engelhardt, Kristina Peters, Raiko Küster.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus-bochum.de

 

Kritikenrundschau

Claus blicke in "Freitag" etwas tief in den eucharistischen Kelch, schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.2.2014). Eric de Vroedt schenke "perlenden Schaumwein ein, der dem Drama die Schwere nimmt". Die Inszenierung biete kein Thesentheater, sondern versuche, Menschen in ihren Verstrickungen zu verstehen. "So könnte das Stück, das 1969 in Amsterdam uraufgeführt, in den Niederlanden und Belgien viel und auch in London gespielt wurde, doch noch den Weg ins hiesige Repertoire finden".

Jürgen Hartmann als "Schorsch" sei ein "Biberkopf, ein Leidender", so Tom Thelen auf derwesten.de (17.2.2014). "Doch einer, der kämpft. Sein Kampf um Erlösung, oder im stets mitschwingenden katholischen Subtext: um Exorzismus." De Vroedts Inszenierung sei manchmal "zu breitwandig ausgewalzt, manchmal stereotyp. Dennoch frappierend genau inszeniert, mit einem tollen Ensemble."

"Großes Schauspieler-Theater" hat Max-Florian Kühlem gesehen, wie er in den Ruhr-Nachrichten (17.2.2014) schreibt. "Das Thema Inzest liegt schwer auf den Figuren, die trotzdem wieder zu einer Normalität finden wollen und dabei ganz anders handeln, als man es erwarten würde." Neben dem Schauspieler-Team lobt er auch das "super-realistische Setting".

"Das Ensemble spielt brillant", konstatiert auch Martin Burkert auf WDR5 (17.2.2014). Eric de Vroedt hole das Stück ins heutige Ruhrgebiet. Allerdings: "Je länger das Stück dauert, desto konstruierter und unglaubwürdiger wirkt es."

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