Der Selbstmörder - Im sächsischen Freiberg setzt Annett Wöhlert Nikolai Erdmans Figuren Clownsnasen auf
Du dümmliche Dekadenzgesellschaft!
von Wolfgang Behrens
Freiberg, 15. Februar 2014. Von den sogenannten zu Unrecht vergessenen Stücken ist es wohl eines der berühmtesten. In Vergessenheit geriet Nikolai Erdmans Satirische Komödie "Der Selbstmörder" mit Ansage (was wiederum einen Teil ihres Nachruhms begründet): In der noch jungen stalinistischen Sowjetunion wurde sie 1930, am Tag ihrer Generalprobe, verboten – kein Geringerer als der Biomechaniker Wsewolod Meyerhold hatte Regie geführt. Fast 40 Jahre verharrte das Stück im Dornröschen-Schlaf, ehe es 1969 im schwedischen Göteborg endlich zur Uraufführung kam.
Auch auf deutschsprachigen Bühnen reüssierte der "Selbstmörder" vorübergehend, Manfred Wekwerth etwa inszenierte es 1989 am Berliner Ensemble. Den jüngsten Wiederbelebungsversuch startete vor sieben Jahren Dimiter Gotscheff an der Volksbühne, natürlich mit Samuel Finzi in der Titelrolle. Eine Renaissance hat das allerdings nicht ausgelöst, einige fragten sich damals vielmehr, was die Farce um den arbeitslosen Kleinbürger Semjon Podsekalnikow, dessen versehentlich und fälschlich angekündigten Selbstmord eine bunte Typenparade konterrevolutionärer Kräfte jeweils für sich zu nutzen versucht, mit dem Hier und Heute zu tun habe (im Übrigen eine Frage, die bei – sagen wir: "Minna von Barnhelm" – selten gestellt wird; unbekannte Stücke, auch wenn sie so brillant sind wie der "Selbstmörder", stehen offenbar unter einem anderen Rechtfertigungsdruck).
"Wo leben Sie denn? Im 21. Jahrhundert!"
Am Mittelsächsischen Theater ist Schauspieldirektorin Annett Wöhlert dieser Frage offensiv begegnet. Wenn es bei Erdman heißt: "Wo leben Sie denn? Im 20. Jahrhundert! (…) Im Zeitalter der Elektrizität!", dann heißt es bei ihr: "Im 21. Jahrhundert! Im Zeitalter der Digitalisierung! (…) Im Zeitalter der erneuerbaren Energien!" Für "Marxismus" setzt sie "Nachhaltigkeit", das Wort vom Kapitalismus fällt – und peng!, schon sind wir im Hier und Heute. Die Robustheit von Erdmans Komödie zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die das locker aushält: Aufgeblähte Charaktere, die zynisch Ereignisse wie den angekündigten Tod eines Menschen für ihre Zwecke instrumentalisieren, gibt es immer.
Das 21. Jahrhundert schiebt sich in der Freiberger Produktion jedoch nicht allzu sehr in den Vordergrund: Annett Wöhlert und ihr Ausstatter Hans Ellerfeld haben vielmehr ein anderes Merkmal der Erdman'schen Komödienkunst fruchtbar zu machen gesucht – ihre Verwurzelung in einem Schaubuden- und Jahrmarkttheater, das auch den grellen szenischen Effekt nicht scheut. Zwei große rotsamtene Stoffbahnen überwölben nun dekorativ eine von abbröckelnden Logen begrenzte runde Spielfläche, in deren Mitte ein Trampolin – schöne Grüße an Herbert Fritsch! – zu großen Sprüngen und schaukeligem Schlaf einlädt: Der arbeitslose kleine Mann ist zum Clown einer abgehalfterten Zirkustruppe mutiert.
Der kleine Mann als Existenzclown
Und das Clowneske findet sich auch zum Spielprinzip erhoben – bis zum Exzess. Als gelte es, mit den Mitteln einer holterdipolternden Commedia dell'arte ein fernes Echo der Meyerhold'schen Biomechanik zu erzeugen, sind die Figuren in ständiger hysterischer Bewegung, gestikulieren groß und eindeutig und treiben den Text in die schrillste Parodie. Das Typenarsenal, das bei Erdman eigentlich mit ähnlich bösartiger Präzision umrissen ist wie in Gogols "Revisor", wird ins Monströse gespreizt: Vom Volksmusik-Dirndl bis zum Glamourkleid chargiert das Ensemble eine an Abziehbilder glaubende Dekadenzgesellschaft herbei, an der sich in ihrer Dümmlichkeit alles und nichts ablesen lässt. Spätestens wenn den Figuren ausgiebig (mitunter sehr mäßig beherrschte) Dialekte übergestülpt werden, ist man in einer Art Riesenschmiere angelangt. Zugeschmiert wird dabei vieles, was die Qualitäten von Erdmans Satire ausmacht: trockener Wortwitz vor allem, der in der ostentativen und lauten Klamotte ebenso ersäuft wie jede beiläufige Komik.
Im Reigen dieser grob kapitalismus- und wohl auch medienkritischen Popanze nimmt sich der Semjon in der Darstellung Ralph Sählbrandts nachgerade leise aus. Wenn er sich seine rote Knollennase aufsetzt, über den Tod und was danach kommt sinniert und mit leicht pädagogisierendem Singsang direkt ins Publikum spricht, dann erlebt die Aufführung ihre wenigen intimen und dringlichen Momente: der kleine Mann als Existenzclown. Sein Drama aber – so scheint es uns die Regisseurin sagen zu wollen – wird längst von der dreckigen Lache der "Aasgeier des Kapitalismus" (Annett Wöhlert im Programmheft) erstickt, wie sie stellvertretend Conny Grotsch in der Rolle der männergeilen Raissa Filippowna vorführt, als ebenjene Aasgeier vollendet desinteressiert dem für Punkt zwölf Uhr angesetzten Selbstmord ihres Opfers entgegensehen.
Wem das als Pointe zu schmal ist, auf den wartet im Juni eine neue Chance. Dann wird sich – nicht einmal 40 km von Freiberg entfernt – auch das Staatsschauspiel Dresden an Erdmans "Selbstmörder" wagen. Hals- und Beinbruch!
Der Selbstmörder
von Nikolai Erdman
Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Regie: Annett Wöhlert, Bühne und Kostüme: Hans Ellerfeld, Dramaturgie: Roland Dreßler/Matthias Wolf.
Mit: Ralph Sählbrandt, Franka Anne Kahl, Andreas Kuznick, Oliver Niemeier, Farina-Liza Tollewski, Martin Ennulat, Nancy Spiller, Michael Berger, Andreas Pannach, Susanna Voß, Benjamin Hirt.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.mittelsaechsisches-theater.de
Wenn das "Zurücklassen des Publikums in schweren philosophischen Gedanken zum einen und in Freude an abstrakter Kunst auf der Theaterbühne zum anderen die Intention von Regisseurin Annett Wöhlert war, hat sie alles richtig gemacht", spekuliert Thomas Reibetanz in der Freien Presse (17.2.2014) mit sarkastischem Unterton. Nicht zu übersehende Lücken im Zuschauerraum hätten schon nach der Pause stumm gesagt, "was viele Premierengäste auf dem Heimweg laut formulierten: Das war zu viel Theater." Das Publikum habe sich "handgezählte sieben Schmunzler" entlocken lassen, das Stück habe "die Nerven der Zuschauer" strapaziert. "Das halbe Ensemble stand nach der Pause auf der Bühne, um das Bild vom ausgebeuteten Mann in Zeiten des politischen Wandels (oder wann auch immer) weiter zu überzeichnen." Einen Lichtblick habe es aber doch gegeben: Ralph Sählbrandt. "Der Hauptdarsteller glänzte in der Rolle des Semjon Podsekalnikow mit einem herrlichen Mimenspiel und zwei Monologen, die zu Herzen gingen."
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