Im Moment etwas träge

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, den 20. Februar 2014. Am liebsten liegt er flach, dieser Oblomow. Schläft und dämmert in den Tag hinein. Seine Stadtwohnung versifft, sein ererbter Landbesitz in der Pampa verfällt, das Getreide vergammelt, die Bauern spuren nicht mehr wie früher. Er weiß das alles, doch es überfordert ihn. Lieber träumt und pooft er sich weiter durchs Leben. "Oblomowerei", lästern seine Zeitgenossen. Volles 19. Jahrhundert eben. Warum soll dieser wohl berühmteste Faulpelz der russischen Literatur heute noch interessieren?

Das Landestheater Tübingen (LTT), das unter Simone Sterr stets einen beachtlichen Akzent auf russische Texte gelegt hat, gibt darauf eine Antwort, die sich fast 200 Minuten hinzieht und in Kurzfassung etwa so lautet: weil wir alle ein bisschen Oblomow sind. Nicht nur im Sinne von plemplem. Nein, weil wir alle zuweilen gegen dieses Wesen in uns kämpfen müssen, das lieber aussitzt als tatkräftige Entscheidungen trifft (ein Merkel-Phänomen) oder das lieber ruht als im Hamsterrad hechelt (was eher in Richtung Kapitalismuskritik light weist).

oblomow5 sinn eschenbach 560 patrick pfeiffer uIch poof dann mal weg! Martin Maria Eschenbach als Oblomow. © Patrick Pfeiffer

Die Tübinger Inszenierung spielt eher mit der letzteren Variante – und das in einer eigenwilligen, angenehm zeitlosen Art und Weise. Sergej Pronin führt Regie, und der frühere Chef des Karelischen Nationaltheaters in Tübingens Partnerstadt Petrosawodsk, der auch am deutsch-russischen LTT-Austauschprojekt "Druschba" mitwirkte, inszeniert ziemlich weit weg von deutschen Regietheater-Usancen. Pronins Handschrift mag zunächst brav und buchstabengetreu und boulevardesk anmuten, ist es aber dann meistens doch nicht.

Widersprüchliche Persönlichkeit

Dazu ist Seppo Kanterwos Theaterfassung des 1859 erschienenen Romans von Iwan Gontscharow auch zu vieldeutig angelegt. Hier geht es nicht nur um extrahierte Dialoge, sondern auch um Stimmungen, Gefühlslagen, Befindlichkeiten. Das alles übersetzt von Vera Bischitzky, die 2012 eine ironisch feindurchwirkte "Oblomow"-Neuübertragung im 200. Geburtsjahr Gontscharows vorgelegt hat. Martin Maria Eschenbachs Tübinger Oblomow ist zunächst klischeefern angelegt: kein "aufgedunsener Faulpelz" (wie ihn Tschechow verächtlich nannte) und kein vorgeführtes Auslaufmodell einer aussterbenden Besitzerklasse (im Sinne des Worts oblomok = Trümmer, Überrest). Nein, Eschenbachs Oblomow ist eine widersprüchliche Persönlichkeit. Sicher, er streift auch Stereotypen: ein Langschläfer mit wirrem Haar und verblichenem Morgenmantel, ein voll verpenntes "Ausweichei" und ein schüchterner Poet. Aber dieser Tübinger Oblomow ist auch von der Realität hoffnungslos überfordert ("im Moment etwas träge", sagt er), handlungsunfähig, wehleidig, ein Gescheiterter – und schließlich sogar ein Idealist, ein Genießer, ein Anarchist, ja, ein Verweigerer.

Mangelnde Weltmitarbeit

Daraus gewinnt Pronins Inszenierung ihr subversives Flair: Sie erzählt im Grunde eine weitere Variante all jener Verweigerer, die von Diogenes in der Tonne bis hin zu den Typen eines Christoph Marthaler oder Philipp Löhle reichen. Wenn also Eschenbachs Oblomow sich auf seinem Diwan, einem Riesenmöbel ottomanischen Zuschnitts, in den Tag hinein träumt, dann hat er – auch vor der Folie turbokapitalistischer Geldgierhektik – als passiver Widerständler unsere volle Sympathie – gerade wegen seiner "mangelnden Weltmitarbeit", wie es mal ein Beobachter nannte.

Zumal sein Freund und Antipode Stolz bei Patrick Seletzky wie ein tatkräftiger, erfolgreicher, aber auch gähnlangweiliger Wunsch-Schwiegersohn mit deutschem Migrationshintergrund daherkommt, was Pronin mit fideler Marschmusik ironisiert. Stolz schafft es aber, dass sich Oblomow zeitweilig ändert und sich sogar in die lebenslustige, aber anstrengend romantische Olga verknallt (Alrun Herbing). Doch in dieser Lebensphase wirkt Eschenbachs Oblomow – Ausgehanzug, schnieke Frisur – nur noch wie eine Karikatur seiner selbst. Kein Wunder, dass er sich wieder zurückentwickelt und lieber Agafja ehelicht, die ihm die löchrigen Socken stopft. Eine Agafja freilich, die bei Ina Fritsche viel lieblicher und intelligenter ausfällt als im Roman-Original.

oblomow3 martin maria eschenbach 560 patrick pfeiffer uMein Bett! Mein Bett! Oblomow alias Martin Maria Eschenbach © Patrick Pfeiffer

Paradox, das alles: Der erste, gedehnte Teil der Inszenierung, der nur einen einzigen Oblomow-Tag erzählt, hat Spannung, lässt die Zeit vergessen, während der zweite Teil, in dem zehn Jahre vorbeijagen, etwas langatmig beginnt. Das mag auch Pronin gespürt haben, weshalb er immer häufiger die Story mit russisch eingefärbtem Kasperltheater kommentierend unterbricht – oft mit eher überschaubarem Humor. Doch eine Qualität dieser Inszenierung ist es, versöhnliche Anwandlungen immer wieder zu kappen. Die Tübinger Theaterfassung lässt das Romanende weg und bricht vorher ab. Eschenbachs Oblomow findet sich zwar wieder auf seinem Diwan, in Lieblingsstellung, liegend – das aber als Schlaganfall-Opfer, als sprachunfähig stöhnender Palliativ-Patient: das bittere Ende in einer bis dahin eher heiteren, melancholisch-boulevardesk erzählten Geschichte des Scheiterns. Vielleicht auch eine skeptische Chiffre mit Blick aufs heutige Russland. Irgendwann fällt das Wort Sotschi. Aber nur ein einziges Mal. Im Kasperltheater.

 

Oblomow (Jetzt oder nie!)
nach dem Roman von Iwan Gontscharow in einer Theaterfassung von Seppo Kanterwo, übersetzt von Vera Bischitzky
Inszenierung: Sergej Pronin, Ausstattung: Irina Pronina, Dramaturgie: Armin Breidenbach.
Mit: Martin Maria Eschenbach, Gotthard Sinn, Hildegard Maier, Patrick Seletzky, Alrun Herbing, Ina Fritsche, Karlheinz Schmitt, Christian Beppo Peters, Udo Rau.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Ausstatterin Irina Pronina sorgt mit ihren multifunktional durch die Lüfte wehenden Vorhängen und historischen Kostümen für eine locker-luftige Landhaus-Atmosphäre, schreibt Kathrin Kipp in den Reutlinger Nachrichten (22.2.2014). Während im ersten Teil Oblomows zeitloser Charakter recht wertfrei, aber auch bravhumorig auf die Spitze getrieben werde, "zerstört Regisseur Pronin die angestaubte Idylle immer wieder durch einen seltsamen Werbeblock in Form von Kasperletheater auf Karnevalswitzniveau." Bis zum Schluss erschließe sich der tiefere Sinn dieser albernen Einsprengsel nicht. Erst im zweiten Teil des Stücks entwickele sich dann eine gewisse tragische Tiefe. Fazit: Insgesamt solide, vom Ensemble gut gespielte Unterhaltung, "und wer ein bisschen Zeit mitbringt, kann sich diesen Wettstreit unterschiedlicher Lebensstile durchaus anschauen. Von einem gut gepolsterten Sofa aus wäre die Sache selbstverständlich noch gemütlicher."

 

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