Die Stacheln des Heimkaktus

von Falk Schreiber

Hamburg, 22. Februar 2014. "Nun." Clemens Sienknecht tritt an die Rampe, bebrillt, streng gescheitelt, Oberlippenbart – ein Klemmi. Sienknecht trägt vor: den "Haussegen für den Heimkaktus". Zumindest soweit man ihn verstehen kann, weil vieles untergeht im Gekicher, das das Hamburger Schauspielhaus erfüllt, angesichts des Ausmaßes an Skurrilität, das sich da an den Bühnenrand drängt. Was ein wenig ein Missverständnis ist: So besonders zum Kichern ist "Heimweh & Verbrechen" nicht, das Stück, mit dem Christoph Marthaler ans Hamburger Schauspielhaus zurückkehrt, 15 Jahre nach seiner letzten großen Hamburger Inszenierung "Die Spezialisten".

"Heimweh & Verbrechen" bezieht sich auf die Doktorarbeit von Karl Jaspers aus dem Jahr 1909. Jaspers glaubte damals, Morde von Schweizer Kindermädchen an den ihnen anvertrauten Kindern mit Heimweh erklären zu können. Die jungen Mädchen, so genannte "Verdingkinder", hätten sich in der Fremde so verloren gefühlt, dass sie verzweifelt versuchten, nach Hause zurückzukehren. Und zwar, indem sie den Grund ihres Auszugs auslöschten – die zu betreuenden Kinder.

Traute Muttersprache

Kindermorde, geboren aus Einsamkeit, Repression und Missbrauch – wahrlich kein Kichergrund, vor allem aber auch kein Grund, irgendwelche Skurrilität auszustellen. Konsequenterweise fährt die Inszenierung den performativen Aspekt im Folgenden massiv runter: Bis auf weiteres agiert niemand mehr mit dem Publikum, bis auf weiteres agieren die Darsteller aber auch kaum miteinander. Weitgehend monologisch werden Strukturen gezeichnet, eine enge Welt, aus der man nur mit einem Gewaltakt entkommen kann, einem Gewaltakt, der selbstzerstörerische Ausmaße annimmt, und der durch massive Idealisierung der Heimat noch brutaler wirkt.

heimweh10 560 waltermair hEnge Welt, vorne Rosemary Hardy: "Heimweh" am Deutschen Schauspielhaus © Walter Mair

Der Abend nimmt also die Form einer grausigen Nummernrevue an: Immer wieder werden Volkslieder gesungen, "Muttersprache, Mutterlaut/wie so wonnesam, so traut" und "So leb denn wohl, du stilles Haus/Ich zieh' betrübt von dir hinaus", dann zersägt Martin Schütz am Cello den Wohlklang oder der Eiserne Vorhang (ein Insidergag – der Eiserne Vorhang verursachte im Spätherbst den Unfall, der die Wiedereröffnung des Schauspielhauses um Monate verzögerte) fährt quietschend zu Boden, und dann erzählt ein Schauspieler eine düstere Geschichte, geprägt von Gewalt, Unterdrückung, verdrängter, dunkler Sexualität, zerrissen zwischen Heimweh und Sehnsucht.

Pathologisches Heimweh

Großartige Momente gibt es da, etwa wenn Irm Hermann ihre Figur leutselig als Vatermörderin outet oder wenn Bettina Stucky gnadenlos direkt sich der Erschöpfung hingibt. Großartige Momente, die aber nicht darüber hinwegtäuschen können, dass man so ähnliche Momente bei Marthaler schon häufiger gesehen hat, zumal "Heimweh & Verbrechen" optisch nahtlos an frühere Arbeiten anknüpft. Anna Viebrock hat wieder mal einen ihrer genial verlotterten Bühnenwarteräume gebaut, hier eine Art Sanatorium, was zur angenommenen Pathologisierung des Heimwehs passt, im Grunde aber ein typischer Viebrock-Raum bleibt.

Ein wenig scheint der Abend erstarrt zwischen performativer Installation, Musiktheater und fröhlichen Schrägheiten, und dieses Gefühl der Erstarrung sorgt dafür, dass einem die etwas mehr als zwei Stunden zwischendurch gehörig lang werden. Ja, "Heimweh & Verbrechen" ist ganz wunderbares Nicht-Theater, aber dieses Nicht-Theater ist mittlerweile auch sehr der eigenen Konvention verpflichtet.

Kraft des Zufalls

Wenn nicht Marthalers Heimatland Schweiz am 9. Februar einen aktuellen Beweis für genau das neurotische Verhältnis zur Heimat geliefert hätte, das die Inszenierung behauptet. Vor zwei Wochen fand in der Schweiz der Volksentscheid "gegen Masseneinwanderung" statt, der eine knappe Mehrheit für ein restriktives Einwanderungsgesetz ergab, gegen jede wirtschaftliche Vernunft. "Muttersprache, Mutterlaut/wie so wonnesam, so traut", wer in diesen repressiv-harmonischen Singsang Vielstimmigkeit einbringen möchte, womöglich sogar Misstöne, der wird des Landes verwiesen. Beziehungsweise: Er bekommt die Stacheln des Heimkaktusses zu spüren.

Natürlich konnte diesen Subtext niemand vorhersehen, als "Heimweh & Verbrechen" in den Schauspielhaus-Spielplan aufgenommen wurde. Aber dennoch, plötzlich passt das Stück in die klar politische Dramaturgie, die das Schauspielhaus seit Karin Beiers Intendanz pflegt. Denn, seien wir ehrlich: Ohne den historischen Zufall des eidgenössischen Volksentscheids wäre dieser Abend nicht mehr gewesen als ein handwerklich beeindruckendes, im Grunde aber ziemlich egales Wiedersehen mit einem Regisseur, der vor vielen Jahren an diesem Ort epochales Theater geschaffen hatte.

Heimweh & Verbrechen
von Christoph Marthaler, Anna Viebrock, Malte Ubenauf & Ensemble Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Anna Viebrock, Kostüme: Sarah Schittek, Musikalische Leitung: Rosemary Hardy, Clemens Sienknecht, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Olivia Grigolli, Rosemary Hardy, Irm Hermann, Ueli Jäggi, Josef Ostendorf, Martin Pawlowsky, Sasha Rau, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Ulrich Voß, Cello/Elektronik: Martin Schütz.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Marthalers Titelthema öffnet sich auf den Migrationshintergrund der Aktualität", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (24.2.2014): "Wann je gab es mehr Heimatlose als heute? Wie gross dürfte ergo das globale Heimweh sein? Und was ist gegenwärtig mit dem Zusammenhang von Verbrechen und Entheimatung?" Kausalitäten lege Marthaler keine nahe, vielmehr isoliere er seine Fälle. Doch trotz subtiler Anspielungen schließe "sich die Nummernfolge – so muss man sie leider nennen – nicht zu etwas Ganzem. Die Damen wechseln zwar häufig ihre Kleider, doch auch eine exquisite Vintage-Mode-Schau ist noch kein Theaterstück, sondern eher eine Verlegenheitslösung." Inhaltlich franse "der Abend ins Beliebige aus, dramaturgisch scheint er dem Zufall zu gehorchen."

"Die Volkslieder, die Christoph Marthalers Singschauspielerensemble zugleich schlicht und kunstvoll intoniert, klingen einfach zu schlicht und harmonisch, als dass sie nicht etwas Schreckliches zu verbergen hätten", bemerkt Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen (24.2.2014). Und tatsächlich erklängen dann auch "gerichtsprotokollartige Rezitationen über Schreckenstaten braver, aber entwurzelter Leute". Das Stück bestehe "aus unverzahnten Monologen, mit englischen, französischen, schwyzerdeutschen Zwischenspielen." Schamlos betrüge dabei der Regisseur "das Drama mit der Musik. Die textdeklamatorische Reise über Abgründe wird von Stücken überwölbt, die, als müssten sie immer mehr Leiderfahrung enthalten, an Kaliber zunehmen" – bis hin zum Eingangschor aus der "Matthäuspassion".

"Als Themenabend über eine 'weltweit unterschätzte Krankheit' wurden aus den misshandelten Kindern" in Marthalers neuer Arbeit "misshandelte Erinnerungen", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (24.2.2014). "Denn vom Bühnenbild bis zu einzelnen Szenenideen bot dieser Abend ein Potpourri der Déjà-vus an Marthalers Theatererfindungen der Neunziger." Es gebe zwar "grandiose Auftritte in diesem Sanatorium für Heimwehkranke", doch "im Wesentlichen bestehe 'Heimweh und Verbrechen' aus beliebig montierten Monologen (…), die nicht so recht mit der Thematik in Einklang zu bringen sind, sowie Heimatschnulzen, deren Vortrag sehr pflichtschuldig erledigt wird." Es wirke so, als seien die "Skurrilitäten und Liedformate aus Marthalers Repertoire" in die Jahre gekommen.

Marthaler gehe "es in seiner hoch artifiziellen Komposition nicht vorrangig um Heimweh als niederen Beweggrund, der im Unglücksfall in Mord und Totschlag mündet", meint Stefan Grund in der Welt (24.2.2014). Er gehe vielmehr "allgemeinen Fragestellungen nach: Was ist das Heimweh genau?" So spannend die angerissenen Fragen seien, "so schön der musikalische Anteil des Abends auch arrangiert ist, so öde bleibt er leider insgesamt, denn ein Drama ist bei der Beschäftigung mit dem Thema 'Heimweh & Verbrechen' nicht entstanden." Die kurzen Vortragstexte machten "die Figuren nicht lebendig. Die Schicksale berühren nicht, lassen die Zuschauer kalt, so wird der Theaterabend extrem langatmig."

"Heimweh und Verbrechen" dokumentiere "nichts und niemanden", sagt Michael Laages auf Deutschlandfunk (23.2.2014). Der Abend setze vielmehr "die Reihe der klassischen Marthalereien fort – und zwar erstaunlich nah an den Verstörungen früherer Jahre. Denn nur die verklärende Sicht von heute lässt ja die Entwicklung dieses Theatermachers als dauernde Erfolgsgeschichte erscheinen – Marthalers Fantasien irrlichterten das Hamburger Publikum auch damals schon ratlos und schwindlig". Laages zitiert das Foyer-Diktum "So ein Quark!" – das habe es "genau so vor 20 Jahren gegeben". "Heimweh und Verbrechen" sei "schwierig, schwer zugänglich, anstrengend und ermüdend". Es könne sein, dass Marthaler selber "auch ein wenig Heimweh verspürt haben mag nach dem Hamburg von damals – mit 'Heimweh und Verbrechen' findet er sich selber wieder. Aber die Geschichte wird nicht von vorn beginnen."

 

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