Entblößte Herzen

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 22. Februar 2014. Da wäre zunächst die Frage nach Gott. Ist er? Ist er nicht? Kann man ihn flüstern hören im eigenen Herzen? Und da wäre die Frage nach der Liebe. Was ist sie? "Sex und Geschwätz"? Ist es Liebe, wenn plötzlich auf dem Heimweg jemand auftaucht in der Nacht wie eine Epiphanie, und die eigene Frau nach dem Notarzt telefonieren muss? Es gibt Fragen, und es sind gerade die wesentlichen, deren Dringlichkeit in keinem anderen Zustand unabweisbarer erscheint als in dem maßloser, vollständiger Betrunkenheit. Und dann fängt man eben an zu predigen. Und da die anderen Anwesenden nichts anderes zu tun haben und zu nichts anderem imstande sind infolge ihrer Volltrunkenheit, als zuzuhören, hören sie eben zu. Wann wäre je auf einer Bühne so hemmungslos und so bestürzend gepredigt worden, im Sitzen, im Liegen, im Torkeln und im Fallen?

Im Grunde ist es erstaunlich, dass vor Iwan Wyrypajew kaum ein Theaterautor auf die Idee gekommen zu sein scheint, den Rauschzustand zur Basis eines ganzen Stücks zu machen. Denn im Rausch tut man Dinge, die man sonst nicht täte – zum Beispiel am Tag vor der eigenen Hochzeit jemanden heiraten –, und genau das ist der dramatische Akt schlechthin.  Das Überschreiten einer Barriere, das für den Zuschauer folgenlos bleibt, abgesehen von seinem auf eine andere Betriebstemperatur gebrachten Bewusstsein.

Klar reden, schräg liegen

Iwan Wyrypajew, Jahrgang 1974, stammt wie sein Regisseur Viktor Ryschakow aus Sibirien. Die beiden bilden ein Team, haben schon viele Stücke zusammen realisiert. Wyrypajew ist selbst auch Schauspieler und leitet in Moskau ein kleines Theater. "Betrunkene" ist eine Auftragsarbeit fürs Düsseldorfer Schauspielhaus.

Und so geht es los: Die Bühne (Maria Tregubova, Alexej Tregubov) zeigt eine gemusterte Extrem-Schräge. Eine schöne junge Frau tritt auf, fällt hin, bleibt liegen. Ein mittelalter Mann, Direktor eines Filmfestivals, legt sich dazu. Er hat eben einen iranischen Film gesehen und zitiert einzelne Sätze daraus. Die beiden verlieben sich – nicht. Sie können nicht mehr geradeaus sprechen. Aber sie nehmen einander deutlich wahr. Vielleicht als eine Art Verheißung. Den Rauschzustand verdeutlicht Ryschakow mit Hilfe der Schräge: Die Körper finden keine Balance.

betrunkene1 560 sebastianhoppe uMan meets woman im bewusstseinserweiterten Zustand: Patrizia Wapinska und Dirk Ossig
© Sebastian Hoppe

Später aber, nach drei oder vier Szenen und nachdem alle 14 Figuren aufgetreten sind, wird die inzwischen mit weißen Möbeln bestückte Schräge abgesenkt und wieder leergeräumt. Am Rauschzustand aller hat sich nichts geändert, aber man redet nun klar – abgesehen von der exzessiv betriebenen Tendenz zur Wiederholung einzelner Sätze oder Satzfragmente. Denn Wyrypajews zentrales Stilmittel ist die Redundanz. Redefiguren Betrunkener bestehen aus seriellen Modulen: Sie wiederholen stets ein und dasselbe, das aber mit Nachdruck. Wir erfahren also nicht nur einmal, dass die Welt "eine Perle in einem Haufen Scheiße" ist. Diesen Satz spricht der eingangs erwähnte, von Rainer Galke gespielte Banker, der auf dem Heimweg von einer privaten Einladung eine Frau trifft, die ihm sagt (von der er glaubt, dass sie ihm sagt, und der er glaubt), dass sie ihn liebt. Der Banker erklärt seiner Frau auch, dass er nie wieder nüchtern sein, sich aber auch nie wieder betrinken will.

Ensemble mit Furor

Die Figuren im Stück sind fast durchweg (bis auf eine junge Prostituierte) gutgestellte Berufstätige, Models, Banker, Manager usw. Und damit muss von den Schauspielern dieses Abends die Rede sein. Sie sind wunderbar, viele hat man selten so brillant erlebt – wie auch immer Ryschakow das bewerkstelligt hat. Nicht, dass dies erstaunlich wäre, Düsseldorf verfügt über ein ausgezeichnetes Ensemble.

betrunkene2 280 sebastianhoppe uGabriel von Berlepsch und Verena Reichhardt
© Sebastian Hoppe

Michael Abendroth als Banker Karl, der einen Abend unter Freunden damit bestreitet, zu behaupten, seine Mutter sei doch am Leben – zum Niederknien. Dirk Ossig, der womöglich sterbenskranke Filmfestivaldirektor, der die gesellschaftskritische Schlusspredigt in diesem Hochamt hält – formidabel. Das Quartett junger Männer, das im vegetarischen Restaurant nach Fleisch sucht; die die Gnade der Großzügigkeit praktizierenden Frauen Patrizia Wapinska und Sarah Hostettler – alle sind sie eine Wucht. Im Publikum, das ja vielleicht extra ein Theater und keine Kirche aufsucht und das mit derart massiven spirituellen Elementen in Theaterstücken wenig Umgang hat, lösen all diese entblößten Herzen und Gottesflüstereien zum Teil Heiterkeit, zum Teil wohl auch einiges Befremden aus. Wohl denn. Was für ein toller Abend! Er wird Furore machen.

 

Betrunkene (UA)
Komödie in zwei Akten von Iwan Wyrypajew, aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
Regie: Viktor Ryschakow, Ausstattung: Maria Tregubova, Alexej Tregubov, Musik: Alexander Monotskov, Choreografie: Oleg Gluschkow, Video: Wladimir Gusjew, Dramaturgie: Stefan Schmidtke.
Mit: Patrizia Wapinska, Dirk Ossig, Sarah Hostettler, Stefanie Rösner, Daniel Fries, Rainer Galke, Claudia Hübbecker, Michael Abendroth, Verena Reichhardt, Jonas Anders, Gabriel von Berlepsch, Christian Ehrich, Wojo van Brouwer, Jennifer Frank.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Mehr zu Iwan Wyrypajew: Wie besprachen von Wespen stechen auch im November, im Februar 2013 von Dieter Boyer in Chemnitz uraufgeführt und Illusionen, ebenfalls von Boyer im September 2011 in Chemnitz inszeniert. 2009 wurde Wyrypajew mit dem Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatiker Preis ausgezeichnet.

 

 
Kritikenrundschau

"Betrunkene" ist eine "Komödie am Rande des Abgrunds, ein faszinierender Theaterabend. Und ein starkes künstlerisches Lebenszeichen des Düsseldorfer Schauspiels." So berichtet Stefan Keim in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (22.2.2014). Wyrapajew lasse "Sätze wiederholen wie ein Mantra" und kreiere so "eine ganz eigene musikalische Poesie". Regisseur Ryschakow treffe "diesen Ton mit dem großartigen Düsseldorfer Ensemble genau. Bei allen trunkenen Höhenflügen, behalten die Schauspieler Bodenhaftung und Glaubwürdigkeit."

Einen "packenden Abend" in einem "gigantischen Bühnenraum" sah Annette Bosetti von der Rheinischen Post (24.2.2014). "Es werden Sketche gespielt, in denen es um existenzielle Fragen geht, um Liebe, Freiheit, Wahrheit und Lüge, Göttlichkeit und Angst. Man liebt und berührt und küsst einander, völlig unverbindlich, skurril, nur selten glaubhaft." Wyrypajews Dialoge folgten einer Art "Satzergänzungsmaschinerie" und würden dabei "geradezu absurd, existenzialistisch, dadaistisch" klingen. "Mehr als zwei Stunden spielen die 14 Menschen dieses fanatische Suchspiel, diese obsessiven Fragerunden, diese redundanten Podiumsdiskussionen."

Marion Troja von der Westdeutschen Zeitung (online 23.2.2014) befällt an diesem Abend das "Gefühl, dass hinter der großen Geste auf der Bühne nicht viel Tiefsinniges steckt." Der Abend zeige sich seinem Sujet angemessen, denn wie im Leben so sei es auch hier mit den Betrunkenen: "Viele fühlen sich wahnsinnig witzig, sind es aber nicht, und die meisten nerven mit den immer gleichen Phrasen. Irgendwann geht es wenig erhellend ums existenzielle Ganze, um Leben, Liebe und Gott."

Trotz Alkohol landen die Protagonisten in "Betrunkene" bei den "ganz großen Themen: Liebe! Lüge! Freiheit!", so Vasco Boehnisch in der Süddeutschen Zeitung (12.3.2014). "Sie werden zu promillestarken Philosophen und pathosgetränkten Propheten". Die Vehemenz, mit der Wyrypajews Charaktere von Gott reden, meinen sie durchaus ernst. Wie Regisseur Ryschakow diese Selbstfindungs-'Seánce' mit Geräuschcollagen, schwebenden Möbeln und Gothic-Chic als düster-entrücktes Gesellschaftsspiel dirigiere, "das sollte aber auch jene beeindrucken, die sich nicht von feurigen Weltverbesserern entflammen lassen."

 

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